KAPITEL 75
Gleich nach der Ankunft hatte King beide Flaschen Wein entkorkt, sodass sie hinlänglich hatten chambrieren können. Bei Tisch schenkte er aus der ersten Flasche ein. »Das ist ein La Croix de Peyrolie vom Weingut Lussac Saint Emilion.«
»Und bestimmt verbirgt sich dahinter eine nette Geschichte«, meinte Michelle, während sie an dem Tropfen schnupperte.
»Der Wein wird von einer Dame mit dem passenden Namen Carole Bouquet hergestellt, die früher ein bekanntes Model war und einmal das Bond-Girl spielen durfte, in In tödlicher Mission, glaube ich. In der anderen Flasche ist ein Ma Vérité de Gérard Depardieu, Haut Médoc.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Harry. »Ein Produkt des gleichnamigen Schauspielers.«
»Ja. Diese Weine sind hoch bewertet, und ich hole sie nur zu besonderen Anlässen herauf.«
»Harry und ich fühlen uns sehr geehrt«, bemerkte Michelle und schmunzelte.
Sie stießen an und begannen mit der Mahlzeit, die Calpurnia servierte. Die Frau war ungefähr sechzig Jahre, gut eins neunzig groß, von grobknochiger Statur und hatte dichtes graues Haar, das sie zu einem struppigen Knoten gebunden trug. Sie sah aus wie der ärgste Albtraum einer Schulkantinen-Mitarbeiterin, den ein Kind erleben konnte. Aber das Essen war köstlich.
»So«, sagte Harry, nachdem Calpurnia gegangen war, »Michelle hatte die Frage aufgeworfen, wohin Ihre Spekulationen über Steve Canneys Herkunft und Rhonda Tylers mögliche Affäre mit Bobby Battle uns führen könnten.«
»Nicht zu vergessen, dass möglicherweise auch zwischen zwei Mordopfern und Bobby Battle eine Verbindung bestand. Ist es denkbar, dass das auch für weitere Opfer zutrifft?«
»Janice Pembroke?«, warf Michelle ein.
»Nein«, widersprach King. »Meines Erachtens war sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«
»Diane Hinson?«, fragte Michelle. »Sie war Anwältin. Vielleicht hat sie mit Bobby irgendeine geschäftliche Angelegenheit bearbeitet.«
King schüttelte den Kopf. »Das ist zu bezweifeln. Sie war bei Gericht tätig, überwiegend in Kriminalprozessen. Ich habe zahlreiche Nachforschungen angestellt und niemanden gefunden, der Berührungspunkte zwischen ihr und Bobby gesehen hätte. Lassen wir Hinson also vorerst beiseite. Als Nächster käme Junior Deaver an die Reihe. Er hatte eine eindeutige Verbindung zu den Battles.«
»Na klar«, sagte Michelle. »Er hat für sie gearbeitet und wurde beschuldigt, sie bestohlen zu haben.«
»Allerdings wurde der Einbruch verübt«, merkte Harry an, »nachdem Bobby den Schlaganfall erlitten hatte.«
»Ich bin nie davon ausgegangen, dass Bobby jemanden ermordet hat«, erklärte King. »Außer vielleicht Mrs Canney. Auf alle Fälle haben wir drei Personen, die in möglicher Beziehung zu Bobby Battle standen. Jede von ihnen wurde nach dem Muster eines berüchtigten Serienmörders umgebracht, jede hatte eine Uhr am Handgelenk, und jedes Mal ging anschließend ein Schreiben ein.«
Michelle wirkte nicht überzeugt. »Sicher, Janice Pembroke mag ermordet worden sein, nur weil sie gerade mit Steve Canney zusammen war, Diane Hinson dagegen wurde nach dem Vorbild des Night Stalker umgebracht. Und doch sagst du selbst, in ihrem Fall gibt es keine Verbindung zu Battle.«
»Bei ihr war die Uhr auf eine Minute nach vier gestellt worden«, sagte King. »Und man beachte – bei Janice Pembroke stand die Uhr auf eine Minute nach zwei. Die anderen Uhren waren genau auf die volle Stunde gestellt.«
»Also befanden sich Diane Hinson und Janice Pembroke jeweils einen Tick daneben«, fasste Michelle zusammen.
»Richtig.« King stutzte und schaute sie an. »Einen Tick daneben? Irgendwie sagt dieser Ausdruck mir etwas, aber momentan fällt mir nichts dazu ein.«
»Also weist der Mörder uns mit den Armbanduhren bewusst darauf hin, dass mit einigen der Opfer… ja, was? Dass mit ihnen etwas nicht stimmt?«
»Ich glaube, er will uns sagen, dass Tyler, Canney und Junior absichtlich aufgrund ihrer Verbindung zu Bobby ermordet wurden. Pembroke und Hinson hatten keine solche Verbindung und waren deshalb keine eigens ausgesuchten Zielpersonen.«
»Gut«, sagte Michelle, »nehmen wir einmal an, er hat Janice Pembroke nur ermordet, weil sie gerade mit Steve Canney zusammen war. Aber warum hat er Diane Hinson umgebracht?«
»Damit wir nach verschiedenen Seiten ermitteln und hinter allem einen Sinn zu entdecken versuchen, den es gar nicht gibt. Janice Pembroke zugleich mit Steve Canney zu töten diente lediglich dem Zweck, die Hintergründe zu verschleiern. Dadurch sollte uns der Blick getrübt werden. Wäre Steve Canney allein gewesen, wäre ein zweiter Mord wie der an Diane Hinson geschehen, um die Verbindung zu Bobby zu vernebeln. So erklärt sich auch, dass der Mörder in dem Brief, den er nach Ermordung der Teenager geschrieben hat, den Begriff ›Junge‹ statt ›Jugendliche‹ benutzt. Er hatte es nämlich nur auf einen abgesehen: Steve Canney.«
»Aber wenn der Mörder uns tatsächlich auf diese Weise von den richtigen Spuren ablenken will, warum hat er dann einige der Armbanduhren um eine Minute später gestellt?«, sagte Michelle. »Hätten alle auf der vollen Stunde gestanden, wärst du wahrscheinlich nie auf diese Gedanken gekommen.«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, der Bursche möchte fair sein und uns wenigstens einen kleinen Hinweis geben.«
»Oder er veräppelt uns«, sagte Michelle.
»Kann sein, aber das bezweifle ich.«
Nach wie vor wirkte Michelle skeptisch. »Na schön, gehen wir mal davon aus, das alles stimmt so. Dann haben wir Bobby als möglichen gemeinsamen Nenner. Du nimmst jedoch an, dass er nicht von demselben Mörder getötet wurde. Wäre es nicht ein zu großer Zufall, wenn wir es mit einem weiteren Täter zu tun hätten? Außerdem bleiben Kyle Montgomery und Sally. Wie passen diese Todesfälle ins Bild?«
»Kyle könnte Selbstmord begangen haben, auch wenn Sylvias Feststellungen dagegen sprechen. Und Sally könnte ermordet worden sein, weil sie mit Juniors Alibi hinterm Berg gehalten hat.«
»Diese Überlegung kann ich nicht nachvollziehen, Sean«, gestand Harry.
»Falls Junior umgebracht wurde, weil er die Battles bestohlen hat, musste der Täter erkennen, dass er Junior grundlos ermordet hat, als er von dessen Unschuld erfuhr. Der Mörder rächte sich, indem er Sally tötete, und in seiner krankhaften Vorstellung übte er damit gleichzeitig Rache für Junior. Vielleicht hat er auf seine Erkennungszeichen – die Armbanduhr und die Nachahmung berüchtigter Serienmörder – verzichtet, weil er zu wütend war, oder weil er Sally für zu unwichtig hielt, und weil ihm für die Planung nur wenig Zeit geblieben ist. Sally hatte mir die Wahrheit kaum sieben Stunden vor ihrer Ermordung gebeichtet.«
»Tja, dass er ihr das Gesicht zerschmettert hat«, folgerte Michelle, »passt durchaus zur Rache-Theorie. So handelt jemand, der sich in rasende Wut steigert.«
»Genau. Ein Mann, der zu roher Gewalt fähig ist und…« King verstummte. »Sieben Stunden…«
»Was denn, Sean?«, fragte Harry.
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte King nach kurzem Nachdenken. »Die Erwähnung dieser sieben Stunden hat bei mir irgendetwas ausgelöst…« Er überlegte noch einen Augenblick angestrengt; dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir Leid, ist wahrscheinlich bloß ein vorzeitiges Symptom der Verkalkung.«
»Und wie stehen wir zu Chip Baileys Theorie«, fragte Michelle, »dass Sally hinsichtlich ihres Zusammenseins mit Junior gelogen und in Wahrheit den Einbruch selbst begangen oder dabei geholfen hat?«
Harry runzelte die Stirn. »Eine bemerkenswerte Vorstellung.«
»Sicher«, bestätigte King. »Und wir können sie bis auf weiteres nicht verwerfen. Aber er irrt sich, ich hab’s im Urin.«
Sie setzten die Mahlzeit fort und leerten auch die zweite Flasche Wein. Danach tranken sie in der Bibliothek Kaffee, den Harry selbst einschenkte. Er bot Kognak dazu an, doch King und Michelle lehnten ab.
»Ich muss noch nach Hause fahren«, sagte King. »Der Wein hat mir gereicht.«
»Und ich muss auf ihn aufpassen, während er fährt«, fügte Michelle mit einem Lächeln hinzu.
In der Bibliothek war es kühl geworden, und Michelle stellte sich an den Kamin, um ihre langen Beine zu wärmen. »In einem Kleid kann einem ziemlich kalt werden«, sagte sie verlegen.
Harry wandte sich an King. »Was halten Sie von Dorothea?«
»Die Droge, die Eddie außer Gefecht gesetzt hat, war weder im Wein, noch sind im Haus irgendwelche von den Pillen gefunden worden, die Dorothea von Kyle Montgomery bekommen hat«, erklärte King. »Aber ich habe mit Sylvia Rücksprache genommen. Das Eddie verabreichte Morphinsulfat ist in ihrer Apotheke auf Lager, daher lässt sich nicht ausschließen, dass Montgomery auch dieses Zeug im Aphrodisia an Dorothea verscherbelt hat. Und Dorothea fehlt für Montgomerys Todeszeitpunkt ein Alibi. Sie behauptet, daheim gewesen zu sein, aber Eddie hat sie nicht gesehen.«
»Er war die ganze Nacht im Atelier«, sagte Michelle in einem Tonfall, der erkennen ließ, wie peinlich ihr die Einlassung war, »und hat ein Porträt von mir gemalt.«
Aufmerksam betrachtete King sie, wahrte aber Schweigen.
Auch Harry musterte sie flüchtig mit einem verwunderten Blick. »Sie hat also illegal Drogen gekauft, und sie ist Tatverdächtige sowohl bei Bobby Battle wie auch bei Kyle Montgomery. Außerdem hatte niemand sonst eine so günstige Gelegenheit, Eddie zu betäuben, und sie wohnt nicht weit von dem Ort, wo der Mord an Sally geschah. Alles viel zu offensichtlich und trotzdem unmöglich zu ignorieren.«
»Und aufgrund der finanziellen Rückschläge und der familiären Situation, von denen sie uns erzählt hat, ist sie tief deprimiert«, rief Michelle in Erinnerung. »Eine arg gebeutelte Frau.«
»Allerdings«, sagte King. »Aber es fällt mir schwer, bei ihr ein Motiv zu entdecken. Sie hat ausgesagt, Bobby habe ihr versprochen, sein Testament zu ihren Gunsten zu ändern, es dann aber unterlassen…«
»Das ist doch ein Motiv«, hielt Michelle ihm entgegen. »Vielleicht war sie über seinen Wortbruch so wütend, dass sie ihn ermordet hat.«
Harry erhob sich und stellte sich zu Michelle ans Kaminfeuer. »Wenn man mehr als siebzig Jahre auf dem Buckel hat, kühlt der Körper ab«, sagte er, »egal, wie viel Kleidung man anzieht oder wie hoch die Zimmertemperatur ist.« Dann wandte er sich wieder der Diskussion zu. »Es könnte eine dritte Möglichkeit geben. Wir haben uns darüber unterhalten, was aus Remmys Geheimfach entwendet wurde. Aber was hat man aus Bobbys Geheimfach gestohlen?« King und Michelle musterten ihn schweigend. »Das Testament, das Bobbys gesamtes Erbe an Remmy übergehen lässt«, fügte Harry hinzu, »stammt aus der Anwaltskanzlei. Es wurde schon vor vielen Jahren aufgesetzt.«
»Woher wissen Sie darüber Bescheid?«, fragte Michelle.
»Der Anwalt, der den Entwurf aufgesetzt hat, war früher mein Angestellter, heute ist er Mitinhaber einer Firma in Charlottesville. Die Anwälte hatten von Anfang an das Original, und dieses Testament wird als gültig vollstreckt.«
»Hat jemand nach einem anderen, neueren Testament gesucht?«, erkundigte sich King.
»Das ist es ja eben – ich glaube nicht. Und wenn es nun ein neueres Testament war, das bei dem Einbruch aus Bobbys Geheimfach gestohlen wurde?«
»Aber wenn es in Bobbys Geheimfach lag, von dem Remmy ihrer Aussage zufolge nichts wusste«, gab King zu bedenken, »hatte sie keine Gelegenheit, es zu vernichten.«
»Ich habe nicht behauptet, dass Remmy dahinter steckt«, stellte Harry klar. »Bobby hatte einen Schlaganfall und faselte in der Klinik wirres Zeug…«
»Und dabei könnte er ein neues Testament erwähnt haben«, sagte King und schnippte mit den Fingern.
»Folglich kann praktisch jeder, der es gehört hat«, zog Harry den nächsten Schluss, »den Einbruch verübt haben.«
»Aber wäre Dorothea im Besitz des zweiten Testaments, würde sie es doch vorlegen, oder?«
»Dann müsste sie aber erklären, wie sie in den Besitz gelangt ist«, sagte Harry. »Und ich glaube, sie würde sich ungern zu einem Einbruchdiebstahl bekennen.«
King blickte ratlos drein. »Aber eines übersehen wir, Harry. Bobbys Tod ist in den Medien breitgetreten worden. Egal, wer ein etwaiges neues Testament beurkundet hat – er hätte sich inzwischen gemeldet.«
»Vielleicht hat Bobby keine notariellen Dienste in Anspruch genommen.«
»Hätte er das Testament selbst aufgesetzt, müsste er Zeugen gehabt haben.«
»Nicht, wenn er es von vorn bis hinten handschriftlich verfasst hat.«
»Also, wer hat ein solches Testament, falls es existiert, und warum rückt er nicht damit heraus?«
»Auf diese Frage wüsste ich liebend gern eine Antwort«, sagte Harry und trank seinen Kognak aus.