KAPITEL 70
Im winzigen Gästezimmer in Michelles kleinem Häuschen räkelte King sich im Bett. Während der Himmel aufhellte, hörte er Michelle in der Küche mit Geschirr klappern. Bei der Vorstellung, welchen Mischmasch sie jetzt wieder für ihn fabrizierte, schauderte es ihn. Ständig wollte sie ihn überreden, ihre Sportlerdrinks zu schlucken und Energieriegel mit wenig Kohlehydraten, keinen Kohlehydraten oder den richtigen Kohlehydraten zu futtern, wobei sie ihm verhieß, über Nacht eine wundersame Veränderung zu spüren.
Während in der Küche Töpfe schepperten, Wasser gluckerte und ein Mixer heulte, dachte King über die Mordfälle nach.
Sieben Tote, angefangen mit Rhonda Tyler bis hin zu Kyle Montgomery als letztem Opfer. Vorerst. King vermutete, dass in fünf Fällen derselbe Täter zugeschlagen hatte. Die Ermordung Bobby Battles und Kyle Montgomerys schrieb er jemand anderem zu. Ob beide wiederum von ein und derselben Person umgebracht worden waren, wusste er vorerst nicht.
Und jetzt wäre er beinahe selbst getötet worden – ebenso Michelle. Allem Anschein nach gab es eine Überfülle möglicher Verdächtiger, aber einen ausgesprochenen Mangel an Spuren. Im Zuge der Ermittlungen blieb der Täter ihnen offenbar stets um einen Schritt voraus: Sie hatten mit Junior reden wollen, doch der Mörder war ihnen zuvorgekommen. Sylvia hatte King über Montgomerys Tablettendiebstähle und die geheimnisvolle Frau im Aphrodisia informiert; als sie in dieser Sache Ermittlungen aufnahmen, war auch Montgomery getötet worden. Sally hatte King ein sexuelles Abenteuer mit Junior gestanden – kurz darauf hatte ein Anschlag auf sein Leben stattgefunden.
Mit einem Mal saß King kerzengerade im Bett.
Sally!
»Michelle«, rief er, doch das Geklapper übertönte seine Stimme. Er stand auf und wankte in die Küche. Sein Gleichgewichtssinn war noch gestört. Michelle stand am Spülbecken, zerschnitt eine Zwiebel und füllte sie in den Mixer, in dem sich eine gelblich grüne Brühe befand.
Sie drehte sich um und sah King. »Was treibst du da?«, fragte sie erschrocken.
»Wir müssen uns mit Sally befassen.«
»Sally? Warum?«
»Sie war gestern Abend bei mir und hat mir etwas gebeichtet. Nachdem sie fort war, habe ich mich gleich ins Bett gelegt. Danach muss jemand sich an meiner Heizung zu schaffen gemacht haben.« King klärte Michelle darüber auf, dass Sally sich in der Nacht des Einbruchs mit Junior vergnügt hatte.
»Das ist wahrhaftig eine bemerkenswerte Enthüllung. Und du sorgst dich, dass die Person, die uns abmurksen wollte, Sally bei dir gesehen haben könnte?«
»Bei diesem Mistkerl kann mich nichts mehr überraschen. Er scheint immer vorher über alles Bescheid zu wissen.«
Michelle rief Todd Williams übers Handy an. »Er fährt sofort mit ein paar Leuten zu Sally, um nach dem Rechten zu sehen«, ließ sie King wissen.
»Vielleicht sollten wir auch hin.«
»Du gehörst ins Bett. Außerdem ist bei Sally bestimmt alles in Ordnung. Todd wird sich schon darum kümmern.«
Widerwillig befolgte King Michelles Rat.
Savannah hämmerte die Fäuste mit solcher Wucht gegen die Tür des Hauses, dass sie sich blaue Flecken holte. Schließlich öffnete Dorothea im Morgenmantel. Savannah fiel beinahe ins Haus.
Dorothea packte grelles Entsetzen, als sie Savannahs Gesichtsausdruck sah. »Mein Gott«, rief sie, »was ist denn los?«
Savannah deutete in Richtung der nahen Stallung. »Ich habe… habe Sally gefunden. Im Stall. Sie ist tot. Jemand hat ihr… das Gesicht zertrümmert.« Sie brach in hysterisches Geschrei aus.
Entsetzt blickte Dorothea umher, als könnte der Täter sich im Hausflur verstecken. Dann stürmte sie die Treppe zum Schlafzimmer hinauf, wo Eddie noch im Schlummer lag.
»Eddie! Savannah hat Sally tot im Stall aufgefunden. Eddie!«
Er lag reglos im Bett. Dorothea trat näher. »Eddie!« Sie fasste ihn an den Schultern und schüttelte ihn kräftig. »Eddie, wach auf!«
Er reagierte lediglich mit leisem Stöhnen. Dorothea prüfte seinen Puls. Er ging nur schwach. Als ähnlich schwach erwies sich zu Dorotheas Erschrecken seine Atmung. Sie nahm ein Glas Wasser vom Nachttisch und goss es ihm ins Gesicht. Es bewirkte nichts. Sie hob sein rechtes Lid an. Die Pupille war klein wie ein Stecknadelkopf. Die drogenerfahrene Dorothea wusste, was das bedeutete. Sie eilte ans Telefon und wählte 911; dann lief sie die Treppe hinunter und zur Tür, wo Savannah kauerte und schluchzte. Sie trug ihre Reitkleidung, und ihre Stiefel hatten den ganzen Flur mit Lehm verdreckt.
Todd Williams, der neben Sallys Leiche gekauert hatte, erhob sich und nickte. Sylvia machte sich daran, Sally zu untersuchen. Auch die Spurensicherung nahm ihre Arbeit auf. Am Tor der Stallung stand Chip Bailey und beobachtete das Geschehen. Williams gesellte sich zu ihm.
»Wie geht es Eddie?«, erkundigte sich Bailey.
»Er ist noch bewusstlos. Ich weiß nicht, ob er vergiftet worden ist oder was es mit der Sache auf sich hat. Eigentlich weiß ich überhaupt nicht mehr, was hier los ist. Ich meine, wer könnte Interesse daran haben, Sally und Eddie zu ermorden?«
»Ich hätte nicht gedacht, dass das Mädchen mit drinhängt.«
Einige Minuten später kam Sylvia zu den beiden Beamten.
»Sally wurde die Kehle von einem Ohr bis zum anderen aufgeschlitzt. Der Tod dürfte innerhalb von fünfzehn Sekunden eingetreten sein. Anschließend wurde ihr Gesicht verstümmelt.«
»Sie sind sicher, dass ihr zuerst die Kehle aufgeschlitzt wurde?«, fragte Bailey.
»Ja. Als man ihr das Gesicht zerschmettert hat, war sie schon tot.«
»Und der Todeszeitpunkt?«
»Liegt höchstens vier Stunden zurück. Ich habe rektal die Körpertemperatur gemessen, und auch der Grad der Leichenstarre spricht dafür.«
Williams schaute auf die Armbanduhr. »Demnach muss die Tat sich ungefähr um fünf Uhr dreißig zugetragen haben.«
»Sieht ganz so aus. Es gibt keine Anzeichen einer Vergewaltigung oder anderer sexueller Misshandlungen. Der Mörder hat sie hinterrücks angegriffen. Er ist Rechtshänder, denn er hat den Schnitt durch die Kehle von links nach rechts geführt.«
»Und Savannah hat sie gefunden?«, vergewisserte sich Bailey.
»Sie wollte ausreiten und hat dabei die Tote entdeckt«, erklärte Williams. »Wenigstens glaube ich, dass ihre Aussage so lautet. Sie hat dermaßen geschluchzt, dass ich kaum ein Wort verstehen konnte.«
»Und um Hilfe zu holen, ist sie zum Kutschenhaus gelaufen?«, fragte Bailey.
»Es liegt näher an der Stallung als das Hauptgebäude oder das Haus, in dem Sally wohnte«, stellte Williams klar.
»Dann öffnete Dorothea ihr die Tür, versuchte vergeblich, Eddie zu wecken, und ließ den Notarzt kommen.«
»Genau.«
Bailey überlegte. »Folglich lagen Dorothea und Eddie zusammen im Bett. Dorothea fehlte nichts, Eddie hingegen muss irgendein Gift untergejubelt worden sein.«
»Von Dorothea habe ich noch keine vollständige Aussage«, sagte Williams.
»Sie sollten die Vernehmung schleunigst nachholen.«
»Nein, ich halte es für sinnvoller, King und Michelle Maxwell zu verständigen«, erwiderte Williams. »Sie hatten heute früh wegen Sally angerufen, bevor Dorotheas Anruf uns erreichte. Offenbar wissen sie etwas, von dem wir keine Ahnung haben.«