KAPITEL 89

Der eine Deputy stand an der Tür, der andere am Fenster.

»Das wird ein richtiger Scheißkrawall«, sagte der Deputy, der zum Fenster hinausschaute; er hatte Eddies Größe, lockiges Haar und einen muskulösen Körper. »Da fliegt das Tränengas.«

»Tränengas«, wiederholte der zweite Polizist, ein Mann mit einer Brust wie eine Bulldogge, dicker Taille und breiten Hüften, was zur Folge hatten, dass die Gegenstände an seinem Gürtel zu beiden Seiten herausstanden. »Ich wäre lieber auch da unten und würde den Pennern ein bisschen von dem Zeug verpassen.«

»Dann geh doch. Ich hab hier alles im Griff.«

»Nee, ist nicht drin. Der Chef hat befohlen, wir sollen hier bleiben.« Der Mann blickte in die Richtung der Durchgangszelle, in der Eddie hockte und sie stumm beobachtete. »Der Hurensohn hat ’ne Menge Leute abgemurkst. Wahrscheinlich hat er einen an der Waffel.«

»Wegen unvorsichtiger Passanten gibt es keinen Krawall, Jungs«, sagte Eddie.

Beide Deputys blickten ihn an. Der Hochgewachsene lachte. »Den muss ich mir merken. ›Wegen unvorsichtiger Passanten gibt es keinen Krawall.‹«

Der Kleinere blickte seinen Kollegen fragend an.

»Geh ruhig«, sagte der. »Unser Freund macht sich bestimmt nicht dünne.«

»Okay, aber wenn du den Chef kommen siehst, funk mich an. Dann bin ich wie ein Blitz wieder da.«

»Geht klar.«

Der Mann verließ den Raum, und Eddie war mit dem zweiten Deputy allein.

Er stand auf und schlenderte zur Zellentür. »Hast du mal ’ne Zigarette?«

»Für wie blöd hältst du mich? Meine Mutter hat doch keinen Idioten großgezogen. Du bleibst da, und ich bleibe hier.«

»Komm schon, Mann, an mir sind sämtliche Löcher durchsucht worden, die ich habe, und einige, von denen ich noch gar nichts wusste. Ich habe nichts, womit ich dir was tun könnte. Ich will nur gern eine rauchen.«

»Hm-hmm.« Unverwandt spähte der hoch gewachsene Polizist zum Fenster hinaus. Ab und zu fiel sein Blick auf Eddie, doch seine Aufmerksamkeit galt fast ausschließlich den Ereignissen vor dem Gebäude.

Eddie Battle hatte starke Unterarme mit dicken Venen. Eine dieser Venen war größer und dicker als die anderen – eine Tatsache, die den Polizisten, die ihn durchsucht hatten, wahrscheinlich aufgefallen war, doch ohne ihren Verdacht zu erregen. Denn die vermeintliche Vene bestand aus Plastik, Kunstharz und Gummi und war hohl. Während seiner Reenactment-Laufbahn hatte Eddie beachtliche Geschicklichkeit im Gebrauch von Schminke, Kostümierungen und Verkleidungen sowie dem Nachahmen von Wunden und Narben erworben. Er setzte sich eine Weile in den Schatten und schabte mit dem Fingernagel an der falschen Vene. Schließlich barst sie, und er zog die sehr dünnen Gegenstände hervor, die er darin versteckt hatte. Eddie hatte das Risiko, erwischt zu werden, immer sehr ernst genommen; deshalb hatte er gewisse Vorkehrungen getroffen, um sich auch unter solchen Umständen helfen zu können. Durch keine noch so gründliche Durchsuchung wäre die in der hohlen Kunstvene verborgene Pinzette entdeckt worden.

Während Eddie den hoch gewachsenen Deputy, der nach wie vor aus dem Fenster schaute, im Auge behielt, schlich er sich lautlos zur Gittertür der Zelle und schob die mit Handschellen gefesselten Hände so durch die Stangen, dass sie das Türschloss verdeckten. Dann schob er das Werkzeug ins Schloss und machte sich behutsam daran, es zu öffnen. Stundenlang hatte er dies an einer alten, aus der Ruine eines abgebrochenen Zuchthauses geborgenen Zellentür geübt. Endlich spürte er, wie die Nocken sich bewegten. Der Lärm draußen wurde stärker, was Eddie nutzte, um das Knacken des Schlosses zu übertönen. Er hielt die Gittertür fest und zwängte das Werkzeug zwischen Handgelenk und Handschelle.

»He, Blödmann!«, sagte er. »Ich rede mit dir, du dämlicher Arsch!«

Der Deputy wandte sich um und musterte ihn. »Warum hältst du nicht endlich die Klappe? Mach dir ein paar warme Gedanken und denk an den elektrischen Stuhl.«

»Heutzutage nimmt man die Giftspritze, Schwachkopf.«

»Tot ist tot. Also, wer von uns beiden ist hier der Blödmann?«

»Aus meiner Sicht bist du es.« Komm, Langer, komm her.

»Red du nur.«

»Was denn? Glaubst du, du kannst hier den harten Hund spielen? Mann, ich weiß genau, was für ein Weichei du bist. Wie ist jemand wie du bloß Polizist geworden? Aber du bist ja gar kein richtiger Bulle. Du bist bloß so was wie ’n Landgendarm.« Komm schon, du Arsch! Du würdest mir doch gern Saures geben. Na los, komm!

»Wir Landgendarmen haben dich aber geschnappt.«

»Das war ein ehemaliger Secret-Service-Agent, Blödmann. Euren Polizeichef hätte ich in der Pfeife geraucht.« Eddie schaute auf die Hand des Deputys und sah einen Ehering. »Das heißt, nachdem ich deine Alte gepimpert hätte. O Mann, dann hätte die mal ’nen richtigen Kerl im Bett gehabt…«

Im Nacken des Deputys bildete sich eine Schweißschicht. Seine Waffenhand spannte und lockerte sich unentwegt.

Gleich ist es so weit.

»Sind eure Bälger so hässlich wie du, oder hast du mit deiner fettärschigen Trulla welche adoptiert, damit ihr keine kleinen Scheusale in die Welt setzt?«

Der Deputy fuhr herum und stapfte auf die Zelle zu. Seine flachen Kindersärge dröhnten bei jedem Schritt auf dem gestrichenen Betonboden. »Hör zu, du Stück Scheiße, du hast ein Riesenglück, dass du hinter…«

Eddie trat die Tür auf, und das schwere Gitter krachte dem Deputy mitten ins Gesicht. Mit voller Wucht prallte er auf den Fußboden. Eddie sprang aus der Zelle, schlang die Kette der Handschellen um den Hals des Mannes und spannte die kraftvollen Arme. Nach dreißig Sekunden war es vorbei. Eddie durchsuchte den Toten, fand die Schlüssel für die Handschellen und löste sie. Rasch verschloss er die Tür zum Korridor, schleifte den toten Deputy in die Zelle, tauschte die Kleidung mit ihm und setzte ihn auf die Pritsche, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.

Eddie setzte sich die Sonnenbrille und den breitkrempigen Diensthut des Deputys auf, sperrte die Tür auf und spähte hinaus. Im Flur waren Polizisten postiert.

Kein Problem. Er konnte jederzeit den Weg durchs Fenster nehmen. Eddie schloss die Tür, eilte zum Fenster und blickte hinaus. Es erwies sich als Glück für ihn, dass die Polizeikräfte mittlerweile die Menschenmenge zur anderen Seite des Gerichtsgebäudes abgedrängt hatten. Eddie blickte nach unten. Es war nicht ganz ungefährlich, aber er sah keine andere Möglichkeit. Und er hatte eine Aufgabe zu vollenden.

Eddie öffnete das Fenster, kletterte ins Freie und ertastete mit den Füßen das unterhalb des Fensters umlaufende Sims. Er kauerte sich nieder, ergriff die schmale Ziegelkante mit seinen starken Fingern, hielt sich am Sims fest und ließ sich herab. Sein Blick fiel nach rechts und links, als sein Körper am Fenstersims baumelte. Eddie verstärkte die Pendelbewegung. Beim vierten Mal ließ er los und flog wie ein Trapezartist durch die Luft. Er landete auf dem Dachvorsprung des Erdgeschosses, gewann das Gleichgewicht zurück und kletterte hinunter. Als er auf festem Boden stand, klopfte er den Schmutz von der Polizeiuniform.

Statt fortzulaufen, umrundete er das Gebäude, mischte sich unter die Leute und bahnte sich einen Weg durch das Getümmel. Er erreichte eine Anzahl leerer Polizeifahrzeuge und spähte in eines nach dem anderen, bis er in einem bulligen Ford Mercury den Zündschlüssel stecken sah. Eddie stieg ein und fuhr davon. Er grinste, als er daran dachte, dass den Medienvertretern das größte Ereignis entging: Eddie Lee Battles erfolgreiche Flucht.

Im Aschenbecher fand er ein Päckchen Kaugummi, steckte sich ein Stück Juicy Fruit in den Mund und schaltete den Polizeifunk ein, um sofort zu erfahren, wenn man seine Flucht entdeckte. Als er einen Jungen sah, der sein Fahrrad über den Bürgersteig schob, verlangsamte er den Wagen und ließ das Seitenfenster herunter.

»Na, mein Freund? Bist du auch schön artig? Oder klaust du und belügst deine Eltern?«

»Nein, Sir«, rief der kleine Junge eingeschüchtert. »Ich will genauso werden Sie, Sir.«

Eddie warf dem Jungen ein Stück Kaugummi zu. »Nee, bestimmt nicht, mein Sohn.« So wie ich willst du nicht werden. Mit mir geht es zu Ende. Von meinem Leben bleiben mir nur noch ein paar Tage.

Doch Eddie betrachtete die Situation von der positiven Seite. Er war wieder frei und handlungsfähig. Und er hatte nur noch eine Sache zu erledigen. Eine letzte Sache.

Eddie fühlte sich sauwohl.