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Die Woche vergeht ohne eine einzige Neuanmeldung. Und trotz intensiven Nachdenkens fällt mir auch keine Lösung für meine finanzielle Misere ein. Auf die Vorstellung, mein geliebtes Yogastudio zu verlieren, reagiert mein Gehirn nur mit krausen Gedanken wie: Lotto spielen oder Spielbankbesuch, was im Prinzip keine schlechte Idee wäre, weil ich da auf einen Schlag stinkreich werden könnte – wenn ich das nötige Startkapital hätte.

Eigentlich wollte ich an diesem Sonntag ja etwas länger schlafen, aber das Sorgenkarussell in meinem Kopf hindert mich daran. Vor allem die Frage: Sollte ich mir tatsächlich mal die Konkurrenz ansehen? Heißt es nicht, dass man seine Feinde kennen muss, um sie besiegen zu können? Ich könnte eine Yoga-Probestunde nehmen und dabei spionieren und 

Ach, so komme ich nicht weiter.

Ein klarer Fall für einen ausgiebigen Kopfstand. Das hilft, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten.

Kopfüber starre ich an die Wand im Schlafzimmer. Dort lese ich:

 

Im Grunde ist alles ganz einfach!

 

Diese Worte habe ich an die Wand gemalt – natürlich verkehrt herum. Darüber balanciert ein rosa Elefant mit einem Bein auf einem türkisfarbenen Ball. Normalerweise hellt das Bild auch die mieseste Stimmung auf. Doch irgendwie sieht der Elefant heute seltsam grau aus. Frustriert breche ich meine Morgenmeditation nach wenigen Minuten ab und schlurfe ins Bad.

Beim flüchtigen Blick in den Spiegel schrecke ich zusammen. Die Ringe unter meinen blaugrünen Augen beweisen, dass Probleme einen Menschen nicht schöner machen. Meine Haare hängen mir wie verfilzte Wolle ins Gesicht und spiegeln eindeutig meine düstere Stimmung wider. Gegen mein rotblondes Lockengestrüpp hilft aber keine noch so teure Kurpackung. Das habe ich alles schon getestet. Nicht mal die Olivenöl-Eigelb-Paste, die ich in einem Anfall von Verzweiflung auf Anraten einer Frauenzeitschrift aufgetragen habe, konnte etwas bewirken. Ich habe sogar damit geschlafen. Das hätte ich aber besser lassen sollen. Denn die Pampe war über Nacht eingetrocknet und nur sehr schwer auszuwaschen. Seitdem binde ich meinen Haarwust lieber zusammen, Käppi drauf und fertig.

Mir ist jetzt nach starkem Kaffee und etwas Salzigem. So was wie ’ne scharfe Salami oder ein Rollmops.

Doch im Kühlschrank entdecke ich lediglich eine halbleere Flasche Wasser, eine halbe ausgequetschte Zitrone und zwei leere, sauber ausgewaschene Joghurtbecher. Keine Ahnung, was ich damit vorhabe. Und in meinem antiken Küchenbüfett langweilt sich ein einsamer Teebeutel.

Aber ich brauche dringend eine Stärkung. Schließlich findet heute unser monatliches Familienessen statt. Strenggenommen fehlt ja mein Vater zur vollständigen Familie, seit die Ehe meiner Eltern vor gut vier Jahren geschieden wurde. Hätten sie noch zehn Monate länger miteinander gestritten, hätten sie es bei der Silberhochzeit krachen lassen können.

Der Scheidungsgrund war aber nicht wie so oft eine andere Frau, sondern Mamas Beruf. Sie ist Psychologin und Therapeutin, und Paps degradierte ihre Tätigkeit gerne abfällig zu einem Freizeitjob. Außerdem warf er ihr stets vor, dass sie ihre Familie vernachlässigen würde. Er habe nicht geheiratet, um dann zwei Kinder allein zu erziehen. Als Deutsch- und Geschichtslehrer war er nämlich immer derjenige, der mittags nach Hause kam und uns versorgt hat. Mama entgegnete in diesen Diskussionen meist, dass sie nicht studiert habe, um nur am Herd zu stehen.

Geheiratet haben die beiden übrigens erst, als mein jüngerer Bruder Phillip unterwegs war. Ich bin quasi unehelich, und Paps musste mich nach der Hochzeit adoptieren. Nach der Scheidung hat Mama dann nicht wieder geheiratet. Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie für alle Zeiten genug von der Ehe hat. Ihrer Überzeugung nach glauben alle Männer, Ehefrauen seien billige Haushälterinnen.

Manchmal ging es bei den Streitereien aber auch um mich. Um genau zu sein: um meine berufliche Zukunft. Meine Unentschlossenheit in dieser Frage sei ein Erbe meiner Großmutter väterlicherseits. Auch Paps hat mich nie gedrängt. Eine Berufswahl habe schließlich erheblichen Einfluss auf das ganze Leben, war seine Begründung. Mama dagegen fand, mein Zögern sei Verplempern von kostbarer Zeit.

Vielleicht gab es wirklich nicht viele Gemeinsamkeiten zwischen meinen Eltern. Aber nach zwei Kindern und vierundzwanzig gemeinsamen Jahren muss es doch Verbindungen geben, oder? Immerhin heiße ich Antonella mit vollem Namen (ich mag es aber nicht, wenn ich so angesprochen werde), und der setzt sich aus den beiden Vornamen meiner Eltern zusammen, Anton und Ella.

Aber was weiß ich schon von der Ehe. Meine längste Beziehung waren die sechs Monate mit Sven. Mama macht sich manchmal Vorwürfe, dass meine Bindungsunfähigkeit mit der Scheidung zusammenhängen könnte. In solchen Momenten drängt sie mich dann zu einer Therapie. Aber so ein Seelenstriptease ist nichts für mich. Für meine phlegmatische Ader gibt es ohnehin eine ganz plausible Erklärung: Ich kam drei Wochen zu früh auf die Welt. Deshalb schlafe ich auch so gerne. Mein Körper versucht diese letzten wichtigen Wochen im Bauch der Mutter nachzuholen. Phillip behauptet sogar, mein Gehirn sei wegen der Frühgeburt unterentwickelt, und ich wäre deshalb so vergesslich.

So ein Quatsch: Mein Gehirn stresst sich eben nicht mit Nebensächlichkeiten, sondern sortiert Banalitäten klugerweise aus.

Das Knurren meines Magens erinnert mich daran, dass der Kühlschrank unverändert leer ist. Na, dann muss es heute mal Junkfood zum Frühstück sein. Einmal im Jahr schadet es bestimmt nicht.

Eilig schlüpfe ich in mein weißes Sommerkleid (Mama besteht auf ordentliche Kleidung) und die dazu passenden Ballerinas. Dann schnappe ich mir mein magersüchtiges Portemonnaie und verlasse die Wohnung.

Vorbei an den hundert Jahre alten Markthallen, die sonntags leider geschlossen sind, schlurfe ich Richtung Imbissbude in der Turmstraße. Von der weiß ich, dass sie um diese Zeit schon aufhat.

Beim Näherkommen weht mir vom Curry-Eck der sündige Duft gebratener Würstchen entgegen und lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Und fürs Auge wird auch was geboten: Ein Typ mit breiten Schultern und hamsterbraunen Wuschelhaaren steht vor dem Tresen. Sein knackiger Hintern in den engen Jeans ist auf jeden Fall ein aufregenderer Anblick als mein leerer Kühlschrank.

Als wäre es das Normalste überhaupt, stelle ich mich dicht neben ihn und schiele unauffällig zu ihm rüber.

Er beendet soeben ein Telefongespräch und bestellt dann sein Essen. «Einmal Curry mit Pommes.»

Seine sexy Stimme klingt nach einer langen Clubnacht und wenig Schlaf.

«Für mich auch», rufe ich dem Wurstverkäufer frech zu, als würde ich tatsächlich dazugehören.

Wie erhofft, wendet sich der Wuschelkopf jetzt mir zu. Er ist gut einen Kopf größer als ich und dürfte so um die dreißig sein. Die Enden seiner hellbraunen Haare sind ausgebleicht. Von irgendeiner Wassersportart, vermute ich – auch wegen der gesunden Gesichtsfarbe und der breiten Schultern. Am besten gefallen mir aber seine kräftige Nase und die kleine Narbe auf der Stirn. Dadurch sieht er nicht wie ein langweiliger Schnösel aus, und sie verleiht ihm irgendwie sogar eine erotische Ausstrahlung.

Verzückt lächele ich ihn an. Doch irgendwie scheint er mit seinen hellgrünen Augen durch mich hindurchzusehen. Es könnte aber auch ein entsetztes Starren sein. Denn sein Blick haftet an meinem weißen Kleid, als hätte ich mich in eine Gardine gewickelt.

Vielleicht ist er ein Morgenmuffel wie ich, oder er war überhaupt noch nicht im Bett. So ein süßer Typ ist mir schon lange nicht mehr über den Weg gelaufen. Und genau wie ich muss er Single sein. Denn wer sich an einem Sonntagmorgen allein eine Currywurst gönnt, kann ja wohl kaum eine Freundin haben. Vielleicht wurde er ja genau wie ich gerade erst verlassen. Das würde auch erklären, warum er so abwesend wirkt. Ein kleines Lächeln oder wenigstens eine hochgezogene Augenbraue wäre doch das Mindeste beim Anblick meines Kleids.

«Macht jenau sechs Euro zusammen.» Der Wurstbrater serviert die Bestellung. «Noch wat zu trinken für euch?»

«Ähm … das ist ein Missverständnis», wende ich kleinlaut ein, krame in meiner Börse und lege drei Euro auf den Zahlteller.

Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie der Wuschelkopf einen Zehn-Euro-Schein obendrauf legt und sagt: «Für mich noch ’ne Cola.»

Enttäuscht schnappe ich mir meinen Teller und verziehe mich an einen der beiden Stehtische. Auf einen Flirt hat der Typ wohl keinen Bock, sonst würde er seine Wurst ja nicht direkt am Tresen verspeisen, sondern sich zu mir stellen.

Schade!, seufze ich still vor mich hin. Im Moment hab ich offensichtlich weder beruflich noch privat Glück. Und dabei hätte mich so ein kleiner Sonntagsflirt ganz wunderbar von meinen Problemen abgelenkt.

 

Auf der Fahrt nach Wilmersdorf mit meinem klapprigen Golf bin ich immer noch enttäuscht über meine mangelnde Wirkung auf den grünäugigen Typen.

Ob er das weiße Kleid zu spießig fand? Möglich wär’s. Sein starrer Blick wirkte jedenfalls nicht besonders angetan von meinem Outfit. Vielleicht sollte ich doch mehr auf mein Äußeres achten und meine Weiblichkeit mehr betonen, wie Mama immer rät. Blöderweise gibt es sexy Klamotten nicht für lau. Wegen meines finanziellen Engpasses werde ich dieses Thema also notgedrungen zurückstellen müssen.

Ich will gerade tief durchatmen und mich mental auf das Sonntagsessen mit Mama und Phillip einstellen, als mein Wagen auf der Joachimstaler Straße zu stottern beginnt.

O nein, das fehlt mir gerade noch! Der Sprit ist alle. Ich hab mal wieder vergessen, den Kilometerstand aufzuschreiben. Das muss ich nämlich tun, um zu erkennen, wann der Tank leer ist, weil die olle Benzinuhr kaputt ist. Mit dem letzten Tropfen bugsiere ich den Golf in einen freien Parkplatz und steige aus. Der Weg zur U-Bahn-Station Kurfürstendamm wäre weiter, als zu Fuß in die Fasanenstraße zu laufen, wo meine Mutter wohnt. Also spare ich mir die unnötige Ausgabe für ein Ticket, raffe mein Kleidchen und renne trotz steigender Temperaturen los.

Ich bin wild entschlossen, mich nicht zu verspäten und Mama keinen Anlass zum Meckern zu geben.

Angefeuert von einem hupenden Auto und «Kiek-mal-Lola-rennt-wieder-Zurufen», erreiche ich mein früheres Zuhause dennoch zehn Minuten zu spät.

Mama lebt immer noch in derselben Vier-Zimmer-Wohnung, in der auch wir Kinder aufgewachsen sind.

Keuchend drücke ich auf die Klingel. Kurz darauf ertönt das Brummen des Türöffners.

Durchatmen, ermahne ich mich, als ich das herrschaftliche Eingangsportal betrete. Drinnen empfängt den Besucher schwarz-weiße Eleganz aus der Gründerzeit: marmorverkleidete Wände, eingelassene Spiegel und dunkelrote Kokosläufer auf gebohnerten Treppenstufen. Das Treppenhaus wird auf jeder Etage von einem Kronleuchter erhellt. Nach oben gelangt man außerdem mit einem altmodischen Lift, dessen verschnörkelte, schmiedeeiserne Tür noch mit der Hand geschlossen werden muss. Seit einigen Jahren bleibt der Aufzug aber manchmal zwischen den Stockwerken stecken. Über eine Stunde saß ich mal fest, bis endlich der Mechaniker kam und mich befreite. Seitdem nehme ich immer die Treppe in die dritte Etage.

Mama erwartet mich an der Wohnungstür. Offensichtlich kommt sie direkt aus der Küche, denn am Bund ihrer schwarzen Bundfaltenhose steckt noch ein Geschirrtuch. Sie trägt eine zartbeige Hemdbluse mit kurzen Ärmeln und flache schwarze Slipper. Wie immer sieht sie sehr elegant aus. Auch ihr von wenigen grauen Fäden durchzogenes kastanienbraunes Haar ist perfekt frisiert. In dem Outfit könnte sie auch Patienten empfangen. Denn die honigfarbene Hornbrille auf der zierlichen Nase verleiht ihr genau die Kompetenz, die sie für ihren Beruf braucht, ohne sie aber zu streng aussehen zu lassen.

«Meine Güte, Antonella, du scheinst ja völlig überhitzt zu sein.» Nach meinem Eintreten mustert sie mich vorwurfsvoll. «Bist du etwa von Moabit hierhergerannt?»

Meine Mutter hält sich selten mit zeitraubenden Begrüßungsritualen auf. Sie kommt lieber sofort auf den Punkt.

«Hallo, Mama», erwidere ich genervt, denn sie weiß genau, dass ich meinen vollen Namen ätzend finde. «Ich trainiere für den Stadtmarathon.»

Sie schließt die bleiverglaste Tür, zieht die Stirn kraus und betrachtet mich erstaunt, als sei sie soeben auf eine noch unentdeckte Verhaltensstörung gestoßen. «Hast du nicht gesagt, Sonntag wäre dein freier Tag? Den solltest du aber auch tatsächlich einhalten, Antonella. Der Körper braucht Erholungsphasen. Hoffentlich wird dieses Yoga nicht zur Obsession.»

Lächelnd übergehe ich ihren besorgten Erziehungsversuch und frage nach meinem Bruder. «Ist Phillip schon da?»

«Wo soll er denn sonst sein?», antwortet sie irritiert.

Ach so, stimmt ja. Ich habe ganz vergessen, dass Phillip vor kurzem zurück ins «Hotel Mama» gezogen ist.

«Er hat bereits Platz genommen. Wir essen heute in der Loggia. Aber mach dich bitte noch etwas frisch.»

Der unterschwellige Vorwurf in ihrer Stimme suggeriert, dass sie mein Aussehen schlampig findet. Sie belabert mich ständig, Make-up aufzulegen und mein Haar vom Friseur professionell pflegen zu lassen. Geschminkte und gutfrisierte Frauen würden mehr Kompetenz ausstrahlen. Aber ich wage zu bezweifeln, dass mich meine Schüler für fähiger halten, wenn mir nach einer schweißtreibenden Stunde Poweryoga die Wimperntusche über die Wangen liefe.

«Kann ich dir noch etwas helfen?», frage ich auf dem Weg durch den langen Flur, vorbei an meinem ehemaligen Kinderzimmer. (Meines und nicht Phillips Zimmer hat Mama zu ihrer Praxis umfunktioniert.)

«Sehr gern. Wenn du wieder bei Atem bist, kannst du den Salat waschen, die Kartoffeln aufsetzen, den Tisch decken und die Erdbeeren für den Nachtisch putzen.»

Ein Scherz. Seit Mama meine Erziehung als gescheitert ansieht, treibt ihr Humor manchmal skurrile Blüten. Es hat eine Weile gedauert, bis ich das kapiert habe.

Schuldbewusst erkläre ich mit leiser Stimme: «Das nächste Mal erscheine ich pünktlich und koche mit, versprochen.» Beinahe bin ich versucht, hinzuzufügen: mit getuschten Wimpern und Hochsteckfrisur.

Meine Mutter schüttelt nur den Kopf und verschwindet in der Küche.

Ich weiß ja, dass ich meine Zusagen nicht immer einhalte. Aber ich bin voller guter Vorsätze und will heute zur Abwechslung mal eine gute Tochter sein. Deshalb habe ich doch auch brav dieses weiße Sonntagskleid angezogen, das sie mir vor einiger Zeit gekauft hat. Na ja, um ehrlich zu sein: Eigentlich habe ich mich zurechtgemacht, weil ich mein Yogastudio retten will. Und dazu brauche ich vielleicht ihre Unterstützung.

Runtergekühlt auf normale Gesichtsfarbe, betrete ich wenig später die Loggia. Als Kinder haben wir von hier oben versucht, den Passanten auf die Köpfe zu spucken. Phillip fand das irgendwann zu langweilig und wechselte zu Wasserbomben, wenn Mama nicht zu Hause war.

Mein Bruder sitzt bereits am schöngedeckten Tisch. «Erster!», begrüßt er mich feixend und zupft selbstgerecht wie der Sieger eines großen Wettbewerbs seinen schneeweißen Hemdkragen zurecht.

Noch so ein Spiel aus unserer Kindheit: Wer ist zuerst zu Hause? Einer musste die Treppen hochrennen, der andere fuhr mit dem Aufzug, der damals noch störungsfrei funktionierte.

«Bist du nicht! Wir sind ja nicht gleichzeitig gestartet», erwidere ich patzig und ärgere mich sofort über meine unüberlegte Antwort. Phillip hasst es, zu verlieren. Keine gute Voraussetzung, wo ich ihn doch anpumpen will. Also lenke ich schnell ein und halte ihm die Hand zum Einschlagen hin. «Aber theoretisch hast du natürlich wolkenkratzerhoch gewonnen!»

Während er einschlägt, huscht ein freches Siegerlächeln über sein Gesicht. «Meine Rede!»

Phillip ist vier Jahre jünger und aus einem völlig anderen Holz geschnitzt. Nicht nur mental. Auch äußerlich. Die hellblauen Augen, die sanften Gesichtszüge und die Grübchen hat er von Mama geerbt. Die strohblonden Haare sind von meinem Vater. Der raspelkurze Bürstenschnitt im Kampfpiloten-Look ist von Udo Walz.

Ich finde ja, mit längeren Haaren würde er gut in eine dieser Boygroups passen und Mädchenherzen zum Schmelzen bringen. Aber das hört Phillip natürlich gar nicht gerne, denn er will ein echter Kerl sein. Ein Macho, der sich mit knallharten Muskeln immer den ersten Platz erboxt.

Ich dagegen bin meiner verstorbenen Großmutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Fotos aus ihrer Jugendzeit beweisen das. Die gleichen wilden Kräusellocken, helle Haut, siebzehn Sommersprossen auf der Nase und hohe Wangenknochen. Dazu eine eher sehnige Figur – und ewig müde. Meine Großmutter schlief genauso gern wie ich.

«Na, Schwesterherz. Heute schon Erleuchtung gefunden?», scherzt Phillip.

«Und du, schon den ersten Fehlstart hinter dir?», flachse ich zurück, wohl wissend, dass mein Bruder der Beste in der Fliegerschule ist, wo er sich zum Piloten ausbilden lässt. Als wir uns beim letzten Familienessen hier trafen, erzählte er ganz aufgeregt von seinem ersten Simulationsflug. Die teure Ausbildung ist übrigens auch der Grund, warum er wieder bei Mama wohnt.

Erstaunlicherweise bleiben Phillips übliche Angebereien heute aber aus. Schweigend erhebt er sich und verkündet, Mama behilflich sein zu wollen. Was ist denn plötzlich los?, frage ich mich. Er hilft doch normalerweise nicht freiwillig.

«Hab ich was Falsches gesagt?», erkundige ich mich vorsichtig und folge ihm.

«Falsches Thema», zischt er ungehalten, als wir die Küche betreten.

«Seid so gut und streitet euch woanders», bittet uns Mama leicht ungehalten. «Ich muss unter der Woche schon genug Auseinandersetzungen zwischen Ehepaaren schlichten. Am Sonntag möchte ich absolute Ruhe.»

«’tschuldigung», murmeln wir gleichzeitig und helfen beim Auftragen der Speisen.

Es gibt gebratene Seezungen mit neuen Kartöffelchen und zerlassener Butter. Dazu ein Gläschen eisgekühlten Chardonnay. Einträchtig nehmen wir wenig später an dem rötlichen Marmortisch in der Loggia Platz. Die Tafel ist wie jeden Sonntag mit dem guten Rosenthalgeschirr, dem Silberbesteck sowie den schönen Kristallgläsern von Großmutter gedeckt.

Als wir auf unseren angestammten Plätzen sitzen, kann Mama ihre Neugier nicht länger beherrschen. «Worum ging es denn vorhin?»

Sonntag oder nicht: Therapieren liegt ihr einfach im Blut.

Phillip wirft mir einen strengen Blick zu. Ich zucke wortlos die Schultern, falte gelassen meine Leinenserviette auseinander und hoffe, das Thema schweigend beenden zu können. Tief durchatmen und ruhig bleiben, sage ich stumm mein Mantra auf. Ich habe keine Ahnung, warum er so aufgebracht ist.

Für Mama ist das Thema aber noch nicht vom Tisch. «Phillip!?», fordert sie ihn auf. «Was gibt es für ein Problem?»

«Aaach», antwortet er zögerlich und greift nach der Platte mit dem Fisch. «Nelly hat einen bescheuerten Witz über Fehlstarts gemacht.»

«Entschuldige bitte, das war ein Scherz. Woher soll ich wissen, dass du zur Mimose geworden bist?»

Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtet Mama, wie ich mir reichlich Butter über die Kartoffeln auf meinen Teller kippe.

«Das ist ungezogen, Antonella», ermahnt sie mich, als sei ich drei Jahre alt. «Entschuldige dich.»

Unsicher blicke ich sie an. Spricht sie gerade von meinen Tischmanieren oder von Phillip?

«’tschuldigung», brummle ich mit der entsprechenden Büßermiene und stelle das Buttertöpfchen ab.

«Ein Fehlstart im Flugsimulator ist zwar absolut kein Weltuntergang», erklärt sie streng, «aber dennoch eine unangenehme Sache. Da ist es nur verständlich, dass Phillip deshalb etwas verschnupft ist.»

«Auweia. Du hast tatsächlich den ersten Startversuch verpatzt?» Mir fällt beinahe die Gabel aus der Hand. «Musst du deinen Traum vom Piloten jetzt begraben und bist deshalb so mies drauf?»

Betretenes Schweigen breitet sich aus. Es sagt mehr als jede Antwort. Eine Weile ist nur das Geklapper unseres Bestecks zu hören.

Mist! Wie kriege ich jetzt bloß die Kurve zu meinem eigentlichen Anliegen? Durch mein Gehirn schwirren schon wieder bedrohliche Gedanken: der Mahnbrief, mein überzogenes Bankkonto, die unnachgiebige Banktussi … Ob es vielleicht klüger wäre, meinen Bittgang ein paar Tage zurückzustellen?

«Es könnte sein, dass auch mein Traum platzt», seufze ich und entschließe mich zu einem versöhnlichen Geständnis. «Wenn ich nicht ganz schnell jemanden finde, der mir ein paar tausend Euro leiht, damit ich die ausstehende Miete für mein Studio –»

«Antonella!», fährt Mama entsetzt dazwischen. «Du hast Schulden?»

«Treffer», höhnt Phillip und prostet mir überheblich zu.

Jetzt ist alles egal. Ich schenke mir Wein nach und hebe ebenfalls mein Glas. «Du könntest mir doch etwas leihen, Phillip», wage ich mich vor und trinke mir für die nächste Frage Mut an. «Vielleicht möchtest du sogar Teilhaber an meinem Studio werden?»

Mit einer großspurigen Geste greift mein Bruder zur Serviette, tupft sich theatralisch den Mund ab und scheint tatsächlich einen Augenblick lang zu überlegen. «Welch verlockendes Angebot. Aber, nein danke, Schwesterherz. Selbst wenn von Großmutters Erbe noch etwas übrig wäre, würde ich niemals in ein marodes Unternehmen wie dein Hüpfstudio investieren», verkündet er kühl und fährt belehrend fort: «Sonntags zu schließen, wo doch beruflich stark eingebundene Menschen gerade diesen Tag zu ihrem Sporttag erklärt haben, ist wirtschaftlich betrachtet aber auch glatter Selbstmord.»

Pah! Als wäre Phillip studierter Betriebswirt! Mit dem Mut einer Verzweifelten kämpfe ich weiter. «Es handelt sich doch nur um einen vorübergehenden finanziellen Engpass. So etwas kann es in jedem Betrieb mal geben. Ich brauche ja nur läppische drei- oder viertausend Euro. Du kriegst es auch bald wieder zurück.» Ich unterstreiche mein Versprechen noch mit einem bittenden Augenaufschlag.

Bevor Phillip etwas erwidern kann, mischt sich Mama ein. «Nun, Antonella, wenn du kurz vor der Pleite stehst, wäre das doch die passende Gelegenheit, noch einmal über deine Zukunft nachzudenken, oder?»

Beifällig nickt Phillip ihr grinsend zu. Damit ist seine Position (wie er es gerne nennt) klar. Als Helfer in der Not scheidet er wohl endgültig aus.

«Aber Mama», stoße ich hervor. «Das Yogastudio ist meine Zukunft! Und hast du nicht selbst gesagt, dass man seine Träume immer realisieren oder es zumindest versuchen sollte?»

Wie so oft, wenn sie mal wieder einen Erziehungsversuch startet, betätschelt Mama ihr Haar und mustert mich eingehend. «Um Träume zu realisieren, muss man erst mal aufwachen, Antonella. Scheinbar schläfst du aber immer noch», ergänzt sie mit therapeutisch geduldiger Stimme. «Es ist demnach unsinnig, weiter daran festzuhalten.»

«Und wenn du mir etwas leihen würdest?», frage ich zögerlich. So schnell gebe ich mich nicht geschlagen!

Es folgen bange Sekunden des Schweigens, in denen ich versuche, Mamas unglaublich nichtssagenden Gesichtsausdruck eine positive Bedeutung beizumessen.

«Dir etwas leihen?», wiederholt sie und erklärt nach einer weiteren Spannungspause: «Nun, ich wäre sogar bereit, alle deine Schulden zu bezahlen.» Sie seufzt, bevor sie das endgültige Urteil verkündet: «Vorausgesetzt, du gibst dieses … dieses alberne Hobby auf.»

«Waaas?»

«Du willst doch nicht dein ganzes Leben auf einer verschwitzten Matte vergeuden. Nächsten Monat wirst du dreißig, vergiss das nicht, Antonella. Also bitte, werde endlich vernünftig und entscheide dich für einen ordentlichen Beruf, der dich ernähren kann.»

Ich fasse es nicht! Was meint sie denn damit, mein ganzes Leben vergeuden? Ich bin doch noch jung, da kann jeden Tag, jede Minute etwas Großes geschehen. Ich meine, das Schicksal könnte an einer Currywurstbude zuschlagen. Das weiß doch jeder.

«Ja, Mama», antworte ich genervt, um eine weitere endlose Diskussion über ordentliche Berufe zu vermeiden.