Zwei Samstage später ist die Katastrophe vorerst abgewendet. Frau Paulsen übernimmt tatsächlich meine Wohnung, und ich bin bei Britta eingezogen. Auch die Witwe hat Wort gehalten und mir die Kaution sofort überwiesen.
Punkt eins auf meiner Liste ist erfolgreich erledigt!
Nummer zwei dagegen liegt mir so schwer im Magen, als hätte ich Tonnen rohes Fleisch verzehrt: Wie erkläre ich Jacobi glaubwürdig, warum ich die letzten drei Mieten schuldig geblieben bin und auch nicht auf seinen Brief geantwortet habe? Ich kann ihm doch nicht vorjammern, dass mein Studio unter Mitgliederschwund leidet.
Eigentlich wollte ich den Bittgang ja telefonisch erledigen. Aber Herr Jacobi gab sich während des Gesprächs überraschend leutselig und meinte, er handle dergleichen lieber persönlich ab. Am Sonntag wäre er zufällig in der Nähe und würde gerne auf einen Sprung vorbeischauen.
Was bleibt mir also anderes übrig, als meinen heiligen Sonntagsschlaf frühzeitig zu unterbrechen und mich in das anständige weiße Kleid von Mama zu werfen.
Während ich also am Eingang auf Jacobi warte, werde ich unsicher. Wie eine giftige Spinne krabbelt plötzlich die Frage durch mein Gehirn: Warum will ein Vermieter seine Mieterin unbedingt persönlich aufsuchen? Doch nur, um sie aus dem Studio zu werfen und den Schlüssel abzunehmen, oder?
Als Herr Jacobi endlich den Hinterhof betritt, grinst er mich schon von weitem an. Mein Vermieter ist ein großer, korpulenter Mann um die sechzig. Er stammt aus Kreuzberg und nennt inzwischen fünf Wohnblöcke sein Eigen.
«Tachchen och», begrüßt er mich und streckt mir die Hand entgegen.
Ich atme tief durch und besinne mich auf meine Manieren. «Schön, Sie zu sehen, Herr Jacobi. Bitte kommen Sie doch herein. Wie geht es Ihnen?»
«Jut, jut», antwortet er, nimmt an einem der Tische vor der Hibiskusblüte Platz und kommt gleich zum Wesentlichen. «Nu bin ick aber neugierig, junge Frau, warum se nich uff meene Briefe jeantwortet haben.»
Obwohl Herrmann Jacobi in seinem beige-braunen Freizeitlook mit den gemusterten Socken und den braunen Sandalen aussieht, als wäre er ein netter Mann auf Verwandtenbesuch, bringt mich seine Freundlichkeit völlig aus dem Konzept. Ich hatte mich darauf vorbereitet, dass er wütend wäre und ich mich Millionen Mal entschuldigen müsste.
«Ja, ähm … Also, es waren unglückliche Umstände», stottere ich, als ich ihm schnell noch einen Orangensaft serviere. Zum Glück fällt mir dann aber doch eine plausible Ausrede ein. «Normalerweise beantworte ich Geschäftspost natürlich sofort, aber … Ich war verreist.»
«Iss ja och Urlaubszeit, wa?» Er greift gierig zu dem Glas und leert es in einem Zug.
Ich kann es kaum fassen. Jacobi scheint mir tatsächlich zu glauben! Um Zeit zu gewinnen, schüttle ich den Kopf. «Ähm … nein, kein Urlaub.» Mist. Wo kann ich denn bloß gewesen sein? «Ähm, ich war in Indien bei einem Yogi auf Fortbildung.»
Was rede ich denn da für einen Stuss? Wenn mich Jacobi jetzt über Indien ausfragt, bin ich geliefert.
«Ach, kick mal eener an», staunt er mit weitaufgerissenen Augen. «Ick wusste ja nich, dat man fürs Beeneverschränken um de halbe Welt jetten muss. Und in de Zwischenzeit ham Se den Laden jeschlossen und allet schleifen lassen, wa?»
«Nein, ja … ähm, also, es war …» Verdammt. Ich kann ihm doch nicht erzählen, dass «Miss Zahlmeister» die Post nur alle vier Wochen öffnet.
Gespannt mustert mich Jacobi mit hochgezogenen Augenbrauen über seine Halbbrille hinweg.
«Ach, wissen Sie, meine Buchhalterin hat mich hintergangen», stöhne ich verzweifelt. «Sie hat mein Vertrauen missbraucht, mich glauben lassen, alles sei in Ordnung, und hinter meinem Rücken das Geschäftskonto abgeräumt. Leider habe ich den Schaden erst bemerkt, als ich aus Indien zurückkam und Ihre beiden Schreiben vorfand, Herr Jacobi. Na, und so kam es, dass sich die ganze Sache verzögert hat.»
Möglicherweise habe ich etwas zu dick aufgetragen, aber schließlich steht meine Existenz auf dem Spiel.
«Det iss ja een Ding!» Mitfühlend sieht mich mein Vermieter an. «Ick sach ja och immer: Hermann, sach ick immer, nur wat de selbst erledigst, iss jut … Und wat nu?»
Ich bin platt! Jacobi kauft mir die Story ab. Nun kann ich durchatmen. «Also, ich wollte Sie noch um einen Monat Aufschub bitten, verehrter Herr Jacobi», schleime ich. «Binnen vier Wochen werden aber alle Rückstände beglichen, versprochen.»
Hermann Jacobi kratzt sich nachdenklich am Kopf und murmelt: «Vier Wochen … hmm … mal kiecken … Aber wat iss, wenn Se de Kohle bis dahin nich zusammenkriegen?»
Puh! So einfach scheint er sich also doch nicht abspeisen zu lassen. «Das wird garantiert nicht passieren», versichere ich mit fester Stimme.
Er mustert mich erneut, diesmal ist sein Blick zweifelnd. «Ick globe Ihnen ja, dat Se zahlen wollen, Frolleinchen, aber ick hab schon Pferde vor de Apotheke kotzen sehen. So een Versprechen is mir einfach zu wenig.»
Will er etwa mit mir feilschen? «Tja, sollte dieser Fall tatsächlich eintreten, räume ich unverzüglich den Laden und überlasse Ihnen die gesamte Ausstattung.» Ich drehe mich um und zeige in den Raum. «Wie Sie sehen, ist das Studio in bestem Zustand und perfekt ausgestattet. Allererste Sahne, wenn Sie so wollen. Sie könnten es sofort für eine viel höhere Miete weitervermieten.»
«Na jut.» Jacobi zögert nicht, sondern ergreift die Chance sofort. «Denn lassen Se uns den Handel aber noch schriftlich festhalten.»
Nachdem Jacobi mit dem Pfandschein abgezogen ist, düse ich schnell zu Britta.
Sie sitzt an ihrem Schreibtisch und reagiert verärgert, als ich ihr von meinem Deal berichte.
«Du träumst mal wieder, Nelly», erklärt sie streng. «Kein Wunder, dass er sich darauf eingelassen hat: Ein besseres Geschäft wird der Mann so bald nicht wieder machen.»
«Aber ich hatte doch keine Wahl», verteidige ich mein ungewöhnliches Verhalten. «Zugegeben, ein kleines Risiko bin ich eingegangen. Vier Wochen sind schnell rum. Andererseits kann in dreißig Tagen auch viel Positives passieren.»
Verständnislos rollt Britta mit den Augen. «Ziemlich naiv, sich auf Zufälle zu verlassen.»
«Finde ich nicht», setze ich dagegen. «In den letzten zwei Wochen haben zwei neue Schülerinnen und deine nette Kollegin Eva Henze, die Kostümbildnerin, ein Zehner-Ticket erstanden. Auch meine Nachmieterin hat versprochen, bei mir zu trainieren, wenn sie in Berlin ist.»
«Freut mich, dass du so zuversichtlich bist», entgegnet Britta wenig überzeugt.
«Warum auch nicht?», frage ich provokant. «Läuft doch alles super. Ich gewinne neue Kunden und kann Geld sparen. Sogar der Umzug war günstiger als gedacht. Nicht zuletzt dank deiner und der Hilfe meiner Mutter, die –»
Kopfschüttelnd blickt mich Britta an. «… die in einem eleganten Kostüm, hochhackigen Pumps und aufwändig frisiert zum Kistenschleppen erschienen ist. Nennst du das etwa Hilfe? Während wir eingepackt und geschleppt haben, saß deine Mutter in der Küche, meckerte rum und behandelte dich wie ein unmündiges Kind. Ob du daran gedacht hättest, das Telefon umzumelden, den Stromzähler abzulesen, den Keller leer zu räumen, und ob die Wohnung noch gestrichen werden müsse … Ich versteh einfach nicht, warum du dir das immer noch gefallen lässt.»
«Na ja …», antworte ich schulterzuckend. «Sie wirkt in letzter Zeit ungewöhnlich gestresst und ist bestimmt nur deshalb so schnell wieder abgerauscht, weil sie viel um die Ohren hat. Aber mit Phillip und seinem Kollegen waren wir immerhin noch zu viert, und das war für mein bisschen Kram doch völlig ausreichend.»
«Mmm …», murmelt Britta unkonzentriert und blickt wieder auf ihren Computer.
Also verzieh ich mich lieber in mein Zimmer, damit sie ungestört weiterarbeiten kann.
Obwohl ich inständig hoffe, dass sich Britta in puncto Jacobi täuscht, bin ich jeden Tag aufs Neue glücklich, eine Freundin zu haben, die mich gegen ein paar lächerliche Trainingsstunden in ihrer Luxuswohnung aufgenommen hat. Bis jetzt hat sie allerdings kaum etwas von ihrer «Miete» kassiert. Gleich nachdem ich bei ihr eingezogen war, ist sie für eine Woche nach Hamburg abgedüst, um Darsteller für einen großen Kinofilm zu casten. Meine anfänglichen Bedenken, nie wieder ausschlafen zu können, haben sich also nicht bewahrheitet. Auch an die langen U-Bahn-Fahrten ins Studio habe ich mich bereits gewöhnt. Dennoch muss ich jetzt früher aufstehen.
Damit ich aber auf keinen Fall verschlafe, habe ich mir noch einen zweiten Wecker angeschafft. Einen von diesen altmodischen Dingern, die so unerträglich laut rappeln. Zur Sicherheit habe ich ihn ganz oben ins Regal gestellt, auf einen mit Münzen gefüllten Porzellanteller.
Doch heute wird keiner meine wohlverdiente Sonntagsruhe stören. Ich werde den Rest des freien Tages im Bett genießen und mir keine Sorgen über Katastrophen machen, die frühestens in vier Wochen eintreten.
Ich lasse mich aufs Bett fallen, blinzle träge in die hereinscheinende Sonne, lausche dem Vogelgezwitscher und stelle mir vor, wie schön ein Sonntagsausflug an einen See wäre. Sofort drängt sich mir wieder das Gesicht von Ben auf. Mit aller Macht fixiere ich daher einen anderen positiven Gedanken, der seit ein paar Tagen durch mein krauses Gehirn saust: Nelly Nitsche, Kantstraße. Das hat doch was Philosophisches!
Das durchdringende Schrillen des Handys unterbricht meine Gedanken. Auf dem Display leuchtet der Name meines Bruders auf.
Komisch, unser nächstes Familienessen ist doch erst nächste Woche Sonntag.
«Jemand gestorben?», scherze ich launig.
«Was soll der Scheiß?», schnauzt er mich an. «Ich rufe wegen Mama an. Es geht ihr nicht gut. Ich glaube, sie hat was mit den Nerven.»
«Wie bitte?» Ich kann nicht glauben, was ich da höre.
«Mit! Den! Nerven!» Phillip betont jedes einzelne Wort, als wäre ich bescheuert.
Das ist ein ganz schlechter Witz: Ella Nitsche, die erfahrene Psychotherapeutin, dreht durch … So ein Quatsch! Es ist wohl eher mein Bruder, der nicht mehr alle Tassen auf dem Brett hat. «Wie kommst du denn auf diese absurde Idee?»
«Weil sich Mama höchst sonderbar verhält», erklärt er mir. «Als ich gestern spät nachts nach Hause kam, geisterte sie im Bademantel durch die Wohnung. Um zwei Uhr morgens!»
«Mmm, das ist allerdings sonderbar», stimme ich meinem Bruder zu. Unsere Mutter geht nämlich immer vor elf ins Bett. Sie vertritt die überkommene Ansicht, dass nur der Schlaf vor Mitternacht wirklich Erholung brächte.
«Aber es kam noch schlimmer», seufzt Phillip. «Sie schien mich gar nicht richtig wahrzunehmen, stellte sich in der Küche ans Spülbecken, hielt die Hände unter den laufenden Wasserhahn und murmelte unverständliches Zeug. Ich –»
«Das finde ich jetzt aber noch nicht sooo merkwürdig», falle ich Phillip ins Wort. «Ich plappere auch schon mal vor mich hin. Deshalb ist man doch nicht gleich reif für die Klapse.»
Ein hämisches Lachen ist die Antwort. «Ja, bei dir fände ich das auch nicht weiter auffällig, Nelly. Aber bei Mama ist das sehr ungewöhnlich. Außerdem lacht sie immer wieder plötzlich laut auf, irgendwie total hysterisch. Ich glaube, dass sie die ganze Nacht nicht im Bett war. Als ich heute Morgen aufgestanden bin, hatte sie noch denselben Bademantel an und lief weiter ziellos in der Wohnung umher.»
«Tja, das ist tatsächlich etwas merkwürdig, aber –»
«Du musst sofort herkommen!», fordert mein Bruder, und seine Stimme klingt ungewohnt drängend.
Unwillkürlich richte ich mich aus meinen Kissen auf. «Um was zu tun?» Ich meine, natürlich bin ich jederzeit bereit, meiner Mutter zu helfen, wenn sie krank ist. Aber ich finde, ungewöhnliches Benehmen oder eine schlaflose Nacht ist doch noch kein Grund zur Panik, oder? Und wer weiß, ob sie mein Auftauchen nicht noch mehr aufregen würde …
«Was ist denn das für eine Frage?», herrscht Phillip mich an.
«Reg dich nicht auf», versuche ich ihn zu beruhigen und springe schnaufend aus dem Bett. «Ich bin ja schon unterwegs.» Langsam habe ich den Verdacht, dass Phillip derjenige ist, der Hilfe braucht.
Seufzend lege ich auf, greife nach der Latzhose und einem Shirt, binde mir die Haare mit einem Stoffgummi zusammen, setze ein Käppi auf und sause los.
Als ich eine Stunde später völlig außer Atem in der Fasanenstraße auf die Nitsche-Klingel drücke, ertönt augenblicklich der Summer.
Phillip muss direkt an der Tür auf mich gewartet haben. Mit klopfendem Herzen sprinte ich in die dritte Etage.
«Na, endlich», empfängt er mich mit sorgenvoller Mine.
Mamas Liebling wirkt müde. Phillip hat dunkle Ringe unter den Augen, und das zerknitterte, weiße Hemd verstärkt den übernächtigten Eindruck. Zwischen seinen Augenbrauen erkenne ich eine tiefe Falte, die mir jetzt doch ein bisschen Angst macht.
«Wie geht’s Mama?», erkundige ich mich. «Hat sie dir inzwischen gesagt, was los ist?»
«Nein. Sie scheint komplett neben sich zu stehen», murmelt Phillip verstört und schließt leise die Tür, als fürchte er, Mama könne uns hören.
Automatisch verfalle auch ich ins Flüstern. «Wo ist sie?»
«Im Bad. Geh hin und sieh dir das Drama selbst an», drängt er und schiebt mich dann durch den langen Flur.
Vorsichtig öffne ich die angelehnte Tür zum Bad – und presse mir beim Anblick meiner Mutter schockiert die Hand auf den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken.
So zerfleddert habe ich sie noch nie gesehen. Ihr lachsfarbener Bademantel weist dunkle Flecken auf. Das Augen-Make-up ist verschmiert, und das sonst perfekt frisierte Haar hängt ihr strähnig ins Gesicht. So, wie Mama in dem weißen Marmorbad am antiken Säulenwaschbecken lehnt und mit halbgeöffneten Lidern in den Kristallspiegel starrt, sieht sie aus, als wäre sie einem Stummfilmdrama entsprungen.
«Mama, was hast du denn?», frage ich mit zittriger Stimme.
Ihre flackernden Augen suchen meinen Blick. Sie mustert mich, ohne mich wirklich anzusehen, und lacht kurz auf. «Dildos! Kistenweise Dildos!», ruft sie mit sich überschlagender Stimme und lässt den Kopf sinken.
Erschrocken schnappe ich nach Luft. Nicht, dass Mama prüde wäre. Aber sie legt Wert auf einen gepflegten Umgangston, und anstößiges Vokabular gehörte noch nie zu ihrem Wortschatz.
«Wir müssen sofort einen Arzt holen», raunzt mir Phillip ins Ohr und hält sich weiter wie ein ängstliches Kind hinter mir versteckt. «Sie scheint ernsthaft krank zu sein.»
«Ernsthaft krank?» Ich atme tief durch, ziehe die Badezimmertür wieder zu und benehme mich wie eine besonnene große Schwester. «Du dramatisierst, Bruderherz», erkläre ich betont ruhig, auch, um mich selbst zu beruhigen.
«Bei dir muss man wohl erst Schaum vor dem Mund haben, bevor du Hilfe holst, wie?», zischt er hinter vorgehaltener Hand.
Doch ich lasse mich nicht provozieren. Mir ist Mamas Zustand zwar auch nicht geheuer, aber Panik hilft jetzt niemandem. «Hat sie sich in den letzten Tagen vielleicht über etwas aufgeregt? Ein größeres Problem mit Patienten? Oder läuft die Praxis nicht mehr, und sie hat Existenzängste?»
«Keine Ahnung.» Phillip zuckt mit den Schultern. «Ich war viel unterwegs.»
Das hätte ich mir ja denken können. Was meinen Bruder nicht direkt betrifft, kriegt er auch nicht mit.
«Na gut, dann koche ich ihr jetzt erst mal einen starken Kaffee, der belebt», behaupte ich und marschiere Richtung Küche. «Denn Mama sieht aus, als könne sie eine Stärkung gebrauchen.»
«Kaffee???», kreischt Phillip und hält mich am Arm fest. «Ich fasse es nicht. Mama verfällt dem Wahnsinn, und du willst Kaffee kochen!»
Auf so einen überzogenen Schwachsinn antworte ich nicht. Ich mache mich frei und wende mich ab.
«Dann lass uns wenigstens Papa anrufen», jammert er und schlurft hinter mir her in die neu eingerichtete Küche. Vor einem Jahr hat Mama eine knallrote Einbauküche mit schwarzen Arbeitsflächen und modernen Geräten angeschafft.
Verwundert blicke ich Phillip an. «Es sind Ferien. Paps ist verreist, falls du das vergessen hast. Außerdem weißt du genau, wie allergisch Mama auf ihn reagiert. Die streiten doch nur, wenn sie zusammentreffen. Das wäre genau so, als wollte man einen Laktose-Allergiker mit heißer Milch kurieren.»
Meine Argumente lassen Phillip verstummen, doch er beobachtet lauernd, wie ich die chromglänzende Kaffeemaschine bediene und Tassen aus dem Schrank hole.
«Na gut», brummelt er dann gnädig, «versuchen wir es also mit Kaffee.»
Der plötzlich so milde Unterton verrät mir, dass er ebenfalls gerne ein Tässchen trinken würde. Er hat auch garantiert noch nichts im Magen. Phillip ist nämlich eine stinkfaule Zecke und glaubt, er müsse sich nur an den Tisch setzen, und schon wird ihm das Essen serviert.
Kurz darauf gelingt es mir tatsächlich, Mama aus dem Bad in die Küche zu locken. Wie eine fürsorgliche Krankenschwester fasse ich sie sanft am Arm, rede ihr leise zu und führe sie einfach in die Küche.
Einträchtig sitzen wir dann am Frühstückstisch. Mama rührt abwesend in ihrer Tasse und starrt dabei auf die Cognacflasche, die sie sich in der Nacht aus ihrem Behandlungszimmer geholt haben muss. Phillip streicht dick Leberwurst auf eine Scheibe Brot und sieht schon wieder etwas zuversichtlicher aus.
Ich versuche, unauffällig in Erfahrung zu bringen, was meine Mutter so aus der Bahn geworfen hat. «Wie war denn deine Woche?», frage ich sie und schenke noch etwas Kaffee nach.
Durchatmen, sage ich mir und starte einen neuen Versuch. «Hast du Ärger mit Patienten gehabt?» Sie würde zwar niemals irgendwelche Details ausplaudern, aber sie könnte ja zumindest auf die Frage reagieren.
Sie schweigt immer noch.
«Mama, erzähl uns doch bitte, was dich so aufregt», sage ich nun ganz direkt und appelliere an ihren Mutterinstinkt. «Du machst uns Angst.»
Unsicher blickt sie auf. «Dildos, überall nur Dildos!», platzt es plötzlich wieder aus ihr heraus. Ihre Stimme kippt dabei in ein seltsam fremdes Krächzen, gleich darauf lacht sie schrill auf und wirft mit einer fahrigen Handbewegung ihre Tasse um. «Das muss man sich mal vorstellen! Hunderte von Dildos!»
Eilig wische ich die Kaffeepfütze mit einer Papierserviette auf. «Vielleicht … Vielleicht sollten wir doch einen Arzt holen, Phillip», gestehe ich zögernd ein.
Mein Bruder fischt eine Essiggurke aus dem Glas vor ihm und grinst mich triumphierend an, als hätten wir einen Wettstreit ausgefochten.
Ohne ihn jedoch weiter zu beachten, gehe ich in Mamas Büro, um zu telefonieren. Den Notarzt zu holen erscheint mir übertrieben. Aber ich werde Tante Tessa anrufen. Dr. Theresa Tokay ist eine Studienkollegin und enge Freundin meiner Mutter. Sie wird wissen, was zu tun ist. Denn beim Anblick eines fremden Arztes könnte Mama komplett ausflippen, und wer weiß, ob sie dann nicht in eine Nervenheilanstalt eingewiesen würde, aus der sie so schnell nicht wieder rauskommt.