«Benutzt du normalerweise den Lift oder die Treppe?», frage ich Ben, als wir die Wohnung verlassen.
«Solange mir die Puste nicht ausgeht, immer nur zu Fuß», antwortet er.
«Du bist aber nicht zufällig mal in einem Aufzug stecken geblieben?» Es ist eine Frage ins Blaue.
«Woher weißt du?» Die Verblüffung ist Ben deutlich anzuhören.
«Ach, ich hing selbst mal zwischen zwei Etagen fest und bevorzuge seither ebenfalls die Treppe», erkläre ich, und mir wird ganz warm ums Herz. Schon wieder eine Gemeinsamkeit!
«Wohin entführst du mich denn?», fragt Ben, als wir die Treppen runtersteigen.
«Nur Geduld, wir gehen zur U-Bahn, fahren mit der U3 in Richtung Wittenbergplatz und besuchen dann ein Kaufhaus.»
Neugierig neigt sich Ben zu mir und sieht mich mit seinen grünen Augen so durchdringend an, als habe ich ihm etwas Unanständiges vorgeschlagen.
Errötend fahre ich mit der Hand über meinen Therapeutinnenhaarknoten. «Also, es ist eine Art … eine Art Verhaltenstherapie», stottere ich. «Dabei dringt man schneller an den Kern eines Problems, verstehst du?»
«Verhaltenstherapie», wiederholt Ben und streicht sich ebenfalls durchs Haar. Die Geste ist nach den internationalen Liebesregeln ein Zeichen für gegenseitige Gefühle, das habe ich mal in einer Frauenzeitschrift gelesen. «Hört sich interessant an», fügt er noch hinzu. «Und welches meiner Probleme möchtest du zuerst angehen?»
«Das wird nicht verraten, es könnte dich beeinflussen», erkläre ich in energisch-freundlichem Ton und wundere mich einmal mehr darüber, woher ich die Kühnheit zu derartigen Behauptungen nehme.
Als wir wenig später in der U-Bahn sitzen, blickt Ben nachdenklich in die Dunkelheit des U-Bahn-Tunnels. Er wirkt ein wenig misstrauisch.
«Keine Bange, es ist nichts Gefährliches», beruhige ich ihn und lächle aufmunternd.
Ben zieht die Augenbrauen hoch, als wäre ihm die ganze Aktion tatsächlich nicht geheuer. «Ich bin sehr gespannt, was passiert, wenn du mein Verhalten änderst», behauptet er dann plötzlich. Und das klingt nun gar nicht mehr ängstlich.
Ich bemühe mich um eine möglichst neutrale Miene. Auf keinen Fall soll Ben denken, dass ich seine zweideutigen Worte als Avance verstehe. «Wenn es funktioniert, wirst du dich danach wieder an alles erinnern», verspreche ich kühn.
«Sehr schön», seufzt Ben. «Ich bin ganz der Deine.»
Schon wieder spüre ich den Kloß im Hals. Ich weiß einfach nicht, ob mein Vorhaben den erhofften Erfolg haben wird. Aber ich wünsche mir so sehr, dass er sich wieder an mich und an unseren schönen Abend erinnert. Ich will endlich aufhören mit diesem Seelen-Striptease und wieder Nelly, die verliebte Yogalehrerin, sein.
Das Kaufhaus des Westens empfängt uns mit der für Shoppingtempel typischen Verführungsatmosphäre. Obwohl ich mir wirklich nicht viel aus Klamotten, Schminke und Schmuck mache, kann ich mich den glitzernden Waren nicht vollkommen entziehen. Ich ahne, wie Jeanette sich fühlen muss, sobald sie einen Fuß auf den hellen Steinboden des Hauses setzt.
«Gehört der Kaufhaustrip eigentlich schon zur Therapie?», flachst Ben und wirkt schon wesentlich entspannter. «Oder willst du nur mal eben eine Handtasche oder ein Paar neue Schuhe kaufen?»
«Keine Bange, während einer Therapie widme ich mich voll und ganz nur dem Patienten. Da geht’s lang», verkünde ich und weise in die Richtung des gläsernen Lifts.
Widerspruchslos folgt mir Ben.
Der Aufzug ist auf dem Weg nach unten, dennoch müssen wir noch einige Minuten warten.
«Irgendwelche Anweisungen?», erkundigt sich Ben, als wäre er mein Angestellter.
«Nein, es ist noch nicht so weit», antworte ich und lasse ihn weiter im Ungewissen. «Ich gebe dir dann ein Zeichen.»
«Welches?»
In dem Moment hält der Lift. Die Tür öffnet sich lautlos, und eine junge Mutter mit Kinderwagen steigt aus. Wir lassen sie vorbei und steigen ein. Ich drücke auf die Sieben, die Tür schließt sich, und der Aufzug fährt los.
«Also welches Zeichen gibst du mir?», fragt Ben erneut.
Ich schweige beharrlich. Hoffentlich funktioniert mein Plan, flehe ich im Stillen und fühle prompt den Kloß wieder im Hals.
Als der Lift in der ersten Etage hält, steigt eine ältere Frau ein. Sie trägt Jeans, Rüschenbluse, Sommerstiefel und einen Strohhut im Cowboylook. Alles in Weiß. Als i-Tüpfelchen lugt aus ihrer hellen Umhängetasche noch ein kleiner weißer Fiffi mit dunklen Knopfaugen hervor, wie ihn Hollywoodstars gerne mit sich rumschleppen.
«Entschuldige, Ben, was hast du gefragt? Ich war gerade etwas abgelenkt.»
«Welches Zeichen du mir geben willst», präzisiert Ben ungeduldig seine Frage und tritt nervös von einem Bein aufs andere.
«Ach so, ja …», antworte ich zögernd und versuche, ihn nicht direkt anzusehen. Er soll nicht merken, dass wir bereits mittendrin sind in der Verhaltenstherapie.
Ich hab mir nämlich überlegt, dass eine Fahrt im Glaslift viel mit einem Flug gemeinsam hat. Man verliert den Boden unter den Füßen und hebt ab. Vielleicht gründet Bens Flugangst auf dem Gefühl des Eingeschlossenseins. Und das ist in Aufzügen ja auch der Fall. Allerdings kommt man da schneller raus, und für Panikattacken gibt’s einen Alarmknopf.
Die Aufzugtür schließt sich. Es geht weiter nach oben.
Gespannt beobachte ich Ben aus den Augenwinkeln. Bis zu diesem Halt war ja alles normal. Aber er lehnt jetzt an der Aufzugwand, atmet seltsam schwer und starrt unverwandt auf den Boden.
Leise surrt der Lift an der dritten Etage vorbei.
Bens Atem geht schneller.
In der vierten Etage läuft Ben rot an, und kleine Schweißperlen treten auf seine Stirn. Hektisch zerrt er am Ausschnitt seines T-Shirts, als bekäme er keine Luft.
«Alles okay?», frage ich ehrlich besorgt. Hoffentlich bemerkt er nichts von meiner aufsteigenden Angst. Ich mache mir Vorwürfe. Meine hirnrissigen Ideen bringen ihm jetzt auch noch körperliche Qualen ein.
Den starren Blick weiter auf den Boden gerichtet, hebt Ben wortlos die Hand. Sein Atem flattert heftig, und seine ganze Körperhaltung wirkt verkrampft.
«Wir sind gleich oben», versuche ich ihn zu beruhigen.
Mist! Er hyperventiliert. Wieso hab ich keine Papiertüte dabei? Eine gute Therapeutin sollte immer eine Tüte bereithalten, ein paar Beruhigungströpfchen oder Traubenzucker dabeihaben oder sonst irgendwie vorbereitet sein.
In meiner Ratlosigkeit versuche ich es mit den Yogakommandos. «Einatmen … Ausatmen … Ganz ruhig atmen.»
«Ham ’se Platzangst?», fragt die Frau und krault ihren Taschenhund, worauf er in unangenehm hoher Tonlage loskläfft.
Kein Wunder. In einer Tasche würde ich auch Platzangst kriegen.
Als der Lift im fünften Stock hält und die Tür aufgeht, steigt unsere Mitfahrerin aus. Kaum ist das weiße Gespann verschwunden, entspannt sich Ben sichtlich und atmet wieder normal.
«Lass uns lieber auch aussteigen», schlage ich besorgt vor und lege vorsichtig meine Hand auf seinen Arm.
Ich verstehe das nicht. Hatte Ben nun Platzangst oder Flugangst? Oder war das eine Reaktion auf die weißen Klamotten der Frau? Oder will er mich vielleicht veräppeln? Hat er mir etwas vorgespielt, weil meine Methoden so ungewöhnlich sind?
«Du brauchst dringend eine Ablenkung. Oder möchtest du lieber nach Hause?», stottere ich ratlos und überlege verzweifelt, wie ich aus dieser Nummer wieder rauskomme. Mein Herz schlägt bis zum Hals, und meine Kehle ist wie ausgetrocknet. Ich würde alles für ein Glas Wasser geben. Wer weiß, welchen Schaden so eine retrograde Amnesie noch anrichten kann.
Wir steigen aus und stehen vor der Spielzeugabteilung. Etliche Minuten vergehen, bevor Ben wieder seine normale Gesichtsfarbe angenommen hat. Ich muss wohl ziemlich verbissen dreinschauen, denn er lächelt plötzlich und erklärt: «Gleich darfst du mich nach Hause bringen, Frau Doktor, ich will nur noch schnell einen Pandabären für Tim, meinen dreijährigen Neffen, kaufen.»
Pandabären? Erleidet Ben etwa gerade einen Nervenzusammenbruch?
«Ich meine, wo wir schon mal hier sind.» Er zieht mich mit sich. Es scheint ihm besserzugehen. «Wusstest du, dass Pandabären während der Paarungszeit im Handstand pinkeln, um ihr Revier zu markieren?» Seine Augen blitzen schelmisch auf. «Und das sei endcool, sagt mein Neffe.»
«Pandabären pinkeln im Handstand …» Fassungslos murmle ich vor mich hin, während ich ihm folge.
Keine Ahnung, was ich von dieser Neffen-Story halten soll. Möglicherweise ist es ja eine Erinnerung, die da plötzlich hochkommt, oder der Bär löst etwas in ihm aus.
Moment mal! Mir kommt eine neue Idee, die ich für meine Verhaltenstherapie nutzen könnte.
Eilig folge ich Ben Richtung Spielwaren und beobachte, wie er auf der Suche nach den Pandas die unzähligen Verkaufstische abläuft. Unauffällig nähere ich mich den Eisbären. Ein ganzer Tisch ist voller plüschiger schneeweißer Polarbären, die natürlich alle an Knut, den armen Eisbären im Berliner Zoo, erinnern, der von seiner Mutter verstoßen wurde und …
Ach du Schande!
Mir stockt der Atem. Hat Bens Weißphobie vielleicht etwas mit seiner Mutter zu tun? Ein traumatisches Erlebnis in seiner Kindheit?
Mein krauses Gehirn vibriert wie nach einem Starkstromschlag. Oder hatte er mal etwas mit einer älteren Frau? Ich erinnere mich an seine Bemerkung: Ich steh nicht auf ältere Frauen. Und die weißgekleidete Frau im Lift war ja wesentlich älter als er, das könnte also hinkommen. Meine Güte, das wäre ja …
Viel! Zu! Einfach!
Außerdem hätte Ben die Probleme dann ja auch schon vor der Amnesie gehabt. Mütter können außerdem nicht an allem schuld sein.
Ich schnappe mir einen der Knuts und begebe mich zu Ben, der einige Meter weiter mit großen und kleinen Plüschpandas hantiert und sich ganz offensichtlich amüsiert. Den Eisbären verstecke ich vorerst hinter meinem Rücken.
«Welchen soll ich nehmen?» Er hält mir zwei schwarzweiße Plüschtiere in unterschiedlichen Größen entgegen.
Statt auf seine Frage einzugehen, ziehe ich Knut hinter meinem Rücken hervor. «Und wie findest du den?»
Ben wirft einen flüchtigen Blick darauf. «Auch süß. Aber mein Neffe will unbedingt einen Panda.»
«Aber du hast ihn gar nicht richtig angesehen», versuche ich es nochmal.
«Na, der sieht aus wie Knut», entgegnet er, ohne mich oder den Bären noch eines Blickes zu würdigen.
«Aber er ist WEISS!», betone ich mit Nachdruck.
Irritiert wendet sich Ben nun doch zu mir. «Das sind Eisbären doch immer, oder nicht?»
Ich versuche es noch einmal. «WEISS! WEISS! WEISS!», zische ich energisch und halte ihm den Bären direkt vor die Nase.
Und endlich scheint Ben zu begreifen. Er starrt den Polarbären an – bleibt aber völlig ruhig. Kein hektisches Atmen, kein roter Kopf, kein Schweiß auf der Stirn. Nichts! Nicht mal ein nervöses Augenzucken.
«Wieso reagierst du nicht auf weiße Plüschtiere?», frage ich atemlos, weil ich ahne, dass die Ursache seiner Weißphobie tatsächlich eine Frau ist.
Einen Moment scheint Ben genauso verwirrt wie ich. Dann nimmt er mir den Bären ab, drückt ihn fest an sich und vergräbt sein Gesicht in dem Plüschfell, als könne man Farbe inhalieren.
«Nun …», murmle ich und streiche mir nachdenklich über meinen Haarknoten. (Die Geste wird langsam zu einer Phobie!) Aber ich muss sofort etwas Tiefgründiges – am besten Tiefenpsychologisches – von mir geben, schließlich bin ich seine Therapeutin. «Es könnte sein, dass du … ähm, dass du nur auf weißgekleidete Frauen reagierst.»
Zugegeben, das ist ziemlich unrealistisch. Aber in meiner Verzweiflung fällt mir kein anderes Argument ein. Einfach nur stumm dastehen kann ich schließlich auch nicht.
Gerade als ich schon denke, Ben wird mich auslachen und als Hochstaplerin entlarven, huscht ein Lächeln über sein Gesicht.
«Das ist es!», ruft er begeistert. «Du bist genial, Frau Doktor.»
«Erinnerst du dich etwa?» Vor Aufregung wird mir trotz der Klimaanlage in diesem Luxustempel so heiß, als brate ich seit Stunden in einer Sauna.
«Nein», antwortet Ben kopfschüttelnd und betrachtet den Eisbären erneut. «Aber die weiße Farbe allein kann es wirklich nicht sein. Nach der Panikattacke von eben zu schließen, müssen weiße Klamotten der Grund sein. Das war mir bisher nicht aufgefallen.» Eindringlich sieht er mir in die Augen. «Trägst du auch manchmal etwas Weißes?»
«Ähm … ja, natürlich habe ich jede Menge weißer Blusen. Für meinen Job sind sie ideal», erklärt die Therapeutin in mir, und nach einer kurzen Pause füge ich flüsternd hinzu: «Und ich besitze ein weißes Sommerkleid.»
Das letzte Wort hauche ich nur noch, als wäre es das Codewort zwischen uns. Wie im Märchen, wo der verzauberte Prinz nur das richtige Wort finden muss, um den bösen Zauber zu beseitigen.
Doch Ben hat anscheinend nicht richtig zugehört. Er sieht mich begeistert an und fragt: «Wie wäre es, wenn wir davon ein Foto schießen?»
«Wovon?», frage ich perplex.
Ohne weiter auf meine Verwunderung einzugehen, drückt er mir beide Bären in die Arme und holt sein iPhone aus der Hosentasche.
«Denkwürdige Ereignisse wie dieses muss man doch einfach festhalten», erklärt er mit ernster Miene. «Zur Erinnerung und damit man es auf keinen Fall vergisst!»
Er stellt sich neben mich, legt einen Arm um meine Schulter und streckt den Arm mit dem Handy aus, um uns beide zu fotografieren. Anschließend sagt er gutgelaunt: «Ich kaufe beide Bären! Den Panda für meinen Neffen und den Eisbären zur Erinnerung an unseren ersten Erfolg.»
Er hakt mich unter und zieht mich Richtung Kasse.
«Ja, dann reicht es aber auch für heute mit der Verhaltenstherapie», erkläre ich erschöpft.
«Wolltest du mich nicht nach Hause bringen, Frau Doktor?», fragt er zwinkernd.
Verlegen weiche ich seinem Blick aus. Wahrscheinlich ist es für eine Therapeutin ziemlich unprofessionell, ihre Patienten nach Hause zu begleiten.
«Wo wohnst du denn?», lenke ich schnell ab. Doch kaum habe ich die Frage ausgesprochen, erkenne ich die günstige Gelegenheit. Ach was, günstig. Das ist genial. Megagenial!
In Bens Wohnung stoße ich doch garantiert auf den einen oder anderen Hinweis, der mir weiterhelfen könnte. Ein Foto, das mich auf die richtige Spur führt. Herumliegende Post oder einen Steuerbescheid, der das Geheimnis um seinen Familienstand und seinen Beruf lüftet. Und wie nach einem langen, erfrischenden Schlaf bin ich plötzlich hellwach und kann es kaum erwarten, das KaDeWe zu verlassen.
Während der Fahrt Richtung Prenzlauer Berg erfahre ich im Taxi, dass Ben in der Pappelallee wohnt, in der letzten Etage einer ehemaligen Schuhfabrik. Obwohl man wegen des Berliner Verkehrs mit der U-Bahn meist schneller vorwärtskommt, bestand er darauf, ein Taxi zu nehmen.
Am Ziel gelangen wir durch ein verschnörkeltes Tor in einen großflächigen Innenhof mit Parkplätzen und einem überdachten Fahrradständer.
Als der Wagen hält, zieht Ben, wie auch schon beim Kauf der Plüschtiere, ein Bündel Scheine aus seiner Hosentasche und gibt großzügig Trinkgeld.
Er scheint wirklich auf großem Fuß zu leben, denke ich und bin umso gespannter auf die Wohnung.
Der Klinkerbau wurde mit viel Feingefühl für Details restauriert. Bepflanzte Tröge mit Sträuchern und Blumen verbreiten mediterranes Flair.
«Vierte Etage, ohne Lift», erklärt Ben, als wir das Gebäude durch eine breite Doppeltür aus dunklem Holz betreten.
Plötzlich überfällt mich die Erinnerung an unseren ersten gemeinsamen Abend. An das Essen und vor allem an den Kuss vor meiner Haustür. Ich werde ganz melancholisch, und ich bin mir überhaupt nicht mehr sicher, ob ich hier das Richtige tue. Ich meine, wie soll ich mich verhalten, wenn ich mit Ben allein in seiner Wohnung bin? Ob wir uns wieder küssen werden?, überlege ich leicht panisch, und mir entschlüpft ein Seufzer.
«Alles in Ordnung, Frau Doktor?»
«Ach, das Schnaufen hat nichts weiter zu bedeuten. Ist nur eine Angewohnheit aus dem Yogaunterricht, so intensiv zu atmen.»
«Wir haben es gleich geschafft», sagt Ben aufmunternd. «Die vierte Etage ist auch die letzte. Ich hab’s nicht gern, wenn mir einer auf dem Kopf rumtrampelt», erklärt er beiläufig, als er die Wohnungstür aufschließt. «Tritt ein … Du bist mein erster Besucher.»
Ohne Flur oder Vorraum stehen wir direkt in einem weitläufigen, lichtdurchfluteten Loft, dessen gläserne Dachkonstruktion von vier Säulen getragen wird. Wahllos über den Raum verteilt stehen Möbel und Umzugskartons und verraten, dass Ben hier noch nicht lange wohnt. Nur die High-Tech-Küchenzeile aus mattem Edelstahl wirkt benutzt. Davor warten auf einem langen Arbeitstisch diverse Pfannen, Teller und Gläser darauf, einsortiert zu werden. Neben einer Saftpresse häufen sich Orangen in einer flachen Schale. Und aus dem Abfalleimer lugt ein Pizzakarton.
«Du bist erst vor kurzem umgezogen, oder?», stelle ich fest und spüre ein freudiges Kribbeln im Magen. Schon wieder eine Gemeinsamkeit.
«Vor knapp zwei Wochen», bestätigt Ben.
«Auch wenn es neugierig erscheinen mag, aber als deine Therapeutin muss ich dich einfach fragen: Wo hast du vorher gewohnt? Der Umzug könnte im Zusammenhang mit der Amnesie stehen und ein wichtiger Aspekt sein.»
«Oldenburger Straße, in Moabit», berichtet Ben unbefangen.
Spontan möchte ich ihm gestehen, dass wir da noch Nachbarn waren, und ihm von unserem Supermarkt-Treffen erzählen. Doch ich beherrsche mich. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es gefährlich wäre, seine Gedächtnislücken mit meinem Wissen zu füllen. Warum sollte er mir auch glauben? Er würde doch nur skeptisch werden, warum ich nicht sofort etwas gesagt habe, oder?
Nein. Er muss sich selbst erinnern.
Während Ben die Einkaufstüte mit den Plüschtieren fallen lässt und sich hinter den Küchentresen begibt, sehe ich mich unauffällig um. Ganz so, wie eine normale Besucherin es tun würde. Doch Briefe, Fotos oder Ähnliches kann ich leider nicht entdecken.
«Etwas zu trinken?» Ben öffnet eine glänzende Kühlschranktür. Der Innenraum ist prall gefüllt mit lauter kleinen Flaschen. «Ein Smoothie gefällig?» Er strahlt wie ein Getränkeverkäufer, der die größte Auswahl der Stadt anbieten kann.
«Das sieht ja aus, als wärst du süchtig nach dem Zeug», entfährt es mir überrascht. «Was natürlich eine äußerst gesunde Sucht wäre», füge ich vorsichtshalber noch hinzu.
«Ich teste nur verschiedene Geschmacksrichtungen von unterschiedlichen Marken für meine Firma», erklärt Ben.
«Aha», murmle ich zufrieden. Er verdient sein Geld also mit dem Verkauf von Getränken.
Nun, Getränkehändler ist ein äußerst ehrenwerter Beruf. Jedenfalls besser als Drogenhändler, denke ich. Und offensichtlich verdient man in der Getränkebranche eine Menge Geld. Auch wenn das noch lange nicht erklärt, warum Ben ständig so viel Bargeld mit sich rumschleppt.
«Cocosdream, Grüne Wiese oder Prinzessinnen-Cocktail?»
«Wie bitte?» Ich sehe Ben mit großen Augen an.
«Diese Geschmacksrichtungen kann ich dir anbieten.» Noch immer hält er die Kühlschranktür offen und deutet auf sein Angebot.
«Oh … ähm, Cocosdream klingt lecker.» Ein Blick auf die Uhr verrät mir allerdings, dass ich mich ungeheuer beeilen muss, um noch rechtzeitig zur ersten Yogastunde am Nachmittag zu kommen. «Aber ich muss jetzt leider los.»
Schnell schreibe ich Ben noch meine Handynummer auf und erkläre mein überstürztes Aufbrechen. «Ich muss dringend los zu einer … ähm, zu einem anderen Patienten. Aber wenn du Schwierigkeiten hast, ruf mich jederzeit an. Sonst sehen wir uns morgen zur nächsten Sitzung, ja?»
Ich muss mich jetzt echt sputen. Im Gegensatz zu meinem reichen Getränkehändler kann ich mir nämlich kein Taxi leisten …