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Während der letzten Yogastunde am Samstagabend lasse ich schon mal ein paar Glücksübungen einfließen. Eine davon ist «Die Heldin», die Mut und Entschlossenheit schenkt. Beides brauche ich mehr denn je. Heute Abend findet schließlich das Treffen mit Ben statt.

Ich kann es kaum erwarten, mit ihm im Mädchen ohne Abitur zu sitzen. Außerdem bin ich gespannt, wie sein Flug verlaufen ist. Aber wenn mir nicht bald etwas einfällt, wie ich Mama davon abhalten kann, am Montag ihre Praxis wieder zu öffnen, könnte es das letzte Treffen mit ihm sein.

«Ausatmen … Aus dem aufrechten Stand mit dem rechten Bein einen Schritt nach vorne … linken Fuß etwas ausdrehen … rechtes Bein beugen …»

Ich könnte Mama einen Wellnessurlaub zum Geburtstag schenken und sie für weitere ein, zwei Wochen abschieben.

«Schultern nach hinten … Arme zur Seite und anwinkeln … Daumen und Zeigefinger berühren sich … tief einatmen … Brustbein hebt sich … ausatmen …»

Beim nächsten Atemzug erinnere ich mich allerdings daran, dass Mama erst im Oktober Geburtstag hat. Außerdem hätte ich gar kein Geld, so einen Luxusurlaub zu finanzieren.

Gegen Ende der Stunde verschränke ich die Beine zum Schneidersitz und leite mit sanfter Stimme die Mini-Meditation ein:

«Augen schließen … einatmen … langsam bis vier zählen … ausatmen auf acht …»

Und wenn ich Mama einfach die Wahrheit sage? Ich könnte behaupten, Ben Reuther wollte sich partout nicht abweisen lassen und nur mit jemandem reden. Vielleicht glaubt sie mir ja.

«Der Körper wird leicht … wir sind im Einklang mit uns selbst … tief durch die Nase atmen … um uns herum ist nichts als heller Sonnenschein … wir lassen unsere Gedanken fließen, halten sie nicht fest …»

Und dann könnte ich aufs Ganze gehen und behaupten, dass sich meine Meinung zum Thema Psychologie und Therapie durch die Gespräche mit Ben geändert hätte. Ich würde nun doch studieren wollen. Das müsste Mama doch milde stimmen.

«Ausatmen … Augen öffnen … aus dem Schneidersitz lösen und aufstehen.» Ich beende die Yogastunde mit einer angedeuteten Verbeugung. «Namaste.»

«Namaste», antwortet die kleine Gruppe und verbeugt sich ebenfalls. Aber keine der fünf Frauen verlässt den Raum, stattdessen blicken mich alle erwartungsvoll an.

«Danke schön», sage ich und lächle freundlich in die Runde. Doch meine Schülerinnen starren mich weiterhin so seltsam an.

«Kein philosophischer Satz heute?», fragt eine Frau enttäuscht.

«Oh, tut mir leid, das hätte ich tatsächlich fast vergessen … Ist mir noch nie passiert», gestehe ich verlegen ein und verkünde: «Nur wer gegen den Strom schwimmt, gelangt an die Quelle.»

Im Vorbeigehen höre ich, wie eine Schülerin mit ihrer Freundin tuschelt. «Gegen den Strom schwimmen kann aber ganz schön anstrengend sein.»

Tja, da muss ich ihr leider recht geben.

 

Kribbelig erwarte ich Ben um halb neun vor der Tür meines Studios.

Ich setze meine ganzen Hoffnungen in diesen Abend. Es darf einfach nichts schiefgehen! Wichtig sind die Örtlichkeiten, die Umstände und natürlich meine optische Rückverwandlung in Nelly.

Wie an unserem ersten Abend trage ich das Sommerkleid mit den Spaghettiträgern und habe das rosa Strickjäckchen um meine Hüften geknotet. Mein Kräuselhaar steht ungebändigt vom Kopf ab, und ich dufte nach Daisy. Brille trage ich natürlich auch keine.

Als Ben den Innenhof betritt und aufs Studio zu eilt, fühle ich mein Herz schneller schlagen. Vor Aufregung schießt mir das Blut ins Gesicht.

«Hi, Ella», begrüßt er mich, streckt mir die Hand entgegen und betrachtet mich erstaunt. «Du siehst hinreißend aus. So … so verändert.» Sein Blick ruht auf meinen Haaren. «Irgendwie … wilder.»

«Danke», flüstere ich mit weichen Knien.

Der Abend fängt gut an. Ben benimmt sich zwar für meinen Geschmack etwas zu formell, aber für ihn bin ich ja immer noch die Therapeutin.

«Und», fragt er, «hast du auch ordentlich Hunger nach deinem Yogakurs?»

Ja! Er benutzt genau die gleichen Worte wie damals.

«Und wie!», piepse ich und verkneife mir zu sagen, dass ich abends doch immer eine Riesenportion verdrücken könnte.

«Klasse», freut sich Ben. «Endlich mal eine Frau, die nicht auf Diät ist.»

«Keine Bange, für Essen bin ich immer zu haben.»

«Gut zu wissen», meint Ben, während wir Seite an Seite den Hinterhof verlassen.

 

Im Restaurant platziert uns derselbe Kellner tatsächlich auch noch am selben Tisch – und das ohne Reservierung!

Vor Aufregung zittern meine Hände, und ich verstecke mich schnell hinter der Speisekarte.

«Schwere Entscheidung», murmle ich. «Flammendes Inferno oder Verschollen in Rio klingt beides lecker.»

«Mmm Flammendes Inferno …», wiederholt Ben leise.

Einen Augenblick lang sieht er mich mit seinen grünen Augen so durchdringend an, dass ich glaube, seine Erinnerung käme genau in dieser Sekunde zurück. Oder erinnert er sich vielleicht an den Traum mit dem Feuer, von dem er mir in der Praxis erzählt hat? Aber ich bin heute als Nelly und nicht als seine Therapeutin hier und werde das Gespräch nicht erwähnen.

Gerade will ich wieder in die Karte schauen, als Ben doch tatsächlich fragt: «Was hältst du davon, wenn wir beide Gerichte bestellen und voreinander probieren?»

Noch eine Wiederholung! Ein warmes Kribbeln läuft über meinen Rücken.

«Gute Idee», sage ich, und meine Stimme bricht etwas. Jetzt bedarf es nur noch einer Winzigkeit, und er wird sich an uns erinnern! «Und was wollen wir dazu trinken?«, frage ich provozierend.

Als Ben mir erklärt, dass er trockenen Wein liebt, und fragt, ob ich mit einem Riesling einverstanden wäre, ist der magische Moment verflogen. Er hätte doch sagen müssen, dass er Alkohol nur in homöopathischen Dosen genießt!

Ich nicke enttäuscht.

Kurz darauf serviert der Kellner den Wein. Wir erheben unsere Gläser, und ich blicke Ben erwartungsvoll an. Aber er lobt nur den aufmerksamen Service und die angenehme Atmosphäre im Lokal, anstatt «auf eine ganz besondere Frau» anzustoßen.

Tja, Britta hatte wohl recht: So eine Amnesie ist keine harmlose Verspannung im Rücken, die man mit ein paar Dehnübungen beseitigen kann.

«Wie ging es denn mit deiner Flugangst?», erkundige ich mich ernüchtert nach seiner Reise.

«Ich habe ganz fest an einen rosa Elefanten gedacht, wie du mir geraten hast», berichtet Ben und zwinkert mir zu. «Es hat mich gut abgelenkt. Bis zum Einsteigen war ich also ziemlich ruhig, doch kaum war der Gurt festgezurrt …» Er stockt, und auf seiner Stirn ist wieder diese steile Falte zwischen seinen Brauen zu erkennen, die große Anspannung verrät.

«Saß zufällig eine Frau in weißer Kleidung neben dir?», erkundige ich mich betont ruhig.

«Nein. Das heißt, ich weiß nicht … Ich hab nicht drauf geachtet», antwortet Ben fahrig. «Also, da saß eine Frau neben mir, aber was sie anhatte? Keine Ahnung.»

«Mmm», murmle ich nachdenklich, und mir fällt das Gespräch mit Mama wieder ein. «Hast du bei einer deiner vielen Flüge vielleicht mal eine Notlandung miterlebt und wurdest dabei am Kopf verletzt?»

«Notlandung?» Fassungslos schreckt Ben zusammen. «Wie kommst du denn auf diese absurde Idee, Ella?»

«Nun, so ein traumatisches Erlebnis würde erklären, warum du so ungern fliegst.»

«Ja, schon», sagt Ben. «Aber von solchen Katastrophen berichten die Medien doch tagelang. Würde jemand dabei sein Gedächtnis verlieren, bekäme er erst recht alle Aufmerksamkeit. Ich wüsste also ganz sicher, ob ich dabei gewesen wäre.»

«Stimmt, wie dumm von mir», gebe ich kleinlaut zu und mutmaße im Stillen, dass wohl doch eine Frau dahintersteckt. Also bohre ich weiter: «Hattest du während eines Flugs mal ein … ein unangenehmes Erlebnis mit einer Frau?»

Wortlos starrt Ben in sein Weinglas, als wäre die Frage indiskret.

«Tut mir leid», entschuldige ich mich. «Ich frage das natürlich nur aus beruflichem Interesse.»

«Schon okay», murmelt er. «Da gibt es aber nichts.»

«Ist es möglich, dass du die Dame vergessen hast?», hake ich nach.

Ben kratzt sich gedankenverloren am Kopf. Dann angelt er das Handy aus der Innentasche seiner Jacke.

«Dieses Ding hier benutze ich nur privat», erklärt er und hält mir das Telefon hin. «Im Register sind kaum weibliche Namen verzeichnet. Du kannst mich gerne abfragen.»

«Nein, nein», wehre ich halbherzig ab. «Das wäre mir peinlich. Das ist doch deine Privatsphäre.»

«Aber du bist meine Therapeutin», antwortet Ben ernst. «Vor dir habe ich keine Geheimnisse.»

«Na gut.» Meine Neugier ist einfach größer, als es das Berufsethos vielleicht gebietet. Zufrieden stelle ich beim Blättern durch das Namensverzeichnis fest, dass er Ella Nitsche, also mich, unter der Kurzwahl 1 und seine Mutter unter der 2 eingespeichert hat.

«Wer ist Tanja?», frage ich, als der nächste weibliche Name auftaucht.

«Meine Schwester, die Mutter von Tim», antwortet Ben, ohne zu zögern. «Du kannst sie gerne anrufen und fragen, wie es meinem Neffen geht und ob er sich über den Pandabären gefreut hat.»

«Nicht nötig», wehre ich ab und blättere weiter. «Und wer ist Marcia?»

Auch diese Frage beantwortet Ben ohne langes Nachdenken. «Meine portugiesische Putzfrau.»

«Also keine geheimnisvolle Unbekannte. Dann muss das Übel woanders sitzen.»

Erleichtert gebe ich Ben das Handy zurück. Wirklich zufrieden bin ich jedoch nicht. Mir fällt nämlich ein, dass er mal davon gesprochen hat, sich eine neue Handynummer anzuschaffen.

«Vielleicht hast du die Nummer der Dame ja gelöscht oder deine Handynummer gewechselt», spekuliere ich.

«Möglich», gesteht er. «Aber in dem Fall habe ich es dann wohl vergessen, und das hilft mir nicht weiter.»

Als unser Essen serviert wird, sind wir eine Weile damit beschäftigt, uns die Köstlichkeiten schmecken zu lassen und voneinander zu probieren. Leider verläuft das Gespräch längst nicht so ausgelassen wie an jenem ersten Abend.

Ben wirkt ziemlich unkonzentriert, und immer wieder entsteht ein unangenehmes Schweigen, bei dem ich das Gefühl habe, er wäre ganz weit weg.

«Worüber denkst du nach?», frage ich ihn schließlich ganz direkt.

«Über geheimnisvolle Frauen in meinem Leben», stöhnt Ben gequält und schiebt seinen halbvollen Teller zur Seite. «Auf meinen Geschäftsreisen begegne ich doch so vielen Frauen …»

«Verstehe», sage ich und versuche, mich auf das Flammende Inferno zu konzentrieren. Ich will gar nicht so genau wissen, wann und wo er mit irgendeiner Tussi zusammen war.

Vielleicht hatte Ben sogar schon mal Sex auf der Flugzeugtoilette!? Phillip behauptet nämlich, das würden alle Männer wollen. Ein Mann würde dann automatisch zum Mitglied des exklusiven Club-der-zehntausend-Meter. Ich nenne so was ja einen Lustmolch-Club, und Details interessieren mich nicht die Bohne.

«Zurzeit gibt es überhaupt keine Frau in meinem Privatleben», durchdringt Bens Stimme meine düsteren Gedanken.

«Wie kannst du dir da so sicher sein?», frage ich mit wackeliger Stimme und hoffe, dass sich der dichte Nebelschleier des Vergessens endlich lichtet. «Dir fehlen in der Erinnerung immer noch drei Wochen deines Lebens.»

«Ja, schon», erwidert er. «Aber es gibt ja nicht mal ein Foto von ihr, geschweige denn von uns beiden.» Er sieht mich unverwandt an. «Ich fotografiere doch alles, was mir wichtig ist, wie du ja neulich im KaDeWe selbst erlebt hast.»

Ja, das leuchtet mir ein.

Und plötzlich fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Er wollte im KaDeWe lediglich den vermeintlichen Therapieerfolg festhalten. Unser erstes Rendezvous hat er dagegen nicht fotografisch festgehalten! Nelly war ihm unwichtig. Er hat sich also überhaupt nicht in mich verliebt. Und auch der Kuss bedeutete ihm nichts!

Mir ist zum Heulen zumute. Ich hatte mir diesen Déjà-vu-Abend so wunderschön ausgemalt, aber nichts läuft so wie geplant. Ben sieht in mir immer nur Ella Nitsche. Ich kann diese Seelenklempnerei nicht länger durchziehen.

«Du bist ja plötzlich so still», bemerkt Ben, als würde er meine melancholische Stimmung spüren.

Ertappt schrecke ich zusammen. «Ähm, ja … Ich habe nur etwas überlegt», behaupte ich hastig und nehme einen Schluck Wein.

«Ach bitte, Frau Doktor», bettelt Ben, und sein eindringlicher Blick geht mir durch und durch. «Verrate mir doch deine Überlegungen. Geht es um mich?»

«Also, ich habe mich gefragt …» Ja, was denn eigentlich?

«Ja?»

«Na ja … Ich habe mich gefragt, ob du … ob du in Zukunft nicht mit der Bahn fahren könntest, statt zu fliegen.»

Mit dieser Notlüge kann ich hoffentlich davon ablenken, dass mir zum Heulen zumute ist.

«Mit der Bahn?» Ben mustert mich überrascht.

Ich zucke bemüht gelassen mit den Schultern. «Soweit ich weiß, dauert eine Fahrt nach München keine sechs Stunden. Rechnet man die Strecke zum Flughafen, das Einchecken und den Weg ins Hotel zur Flugzeit hinzu, dann ist man mit dem Zug wahrscheinlich genauso schnell.»

«Vielleicht hast du recht. Allein bei der Vorstellung, wieder in ein Flugzeug steigen zu müssen, gerate ich ins Schwitzen. Du bringst mich wirklich auf den richtigen Weg. Ich bin wirklich froh, dich als meine Therapeutin zu haben.»

Durchatmen, sage ich mir, du musst der Wahrheit ins Auge sehen, Nelly Nitsche. Für deinen Traummann wirst du immer nur die Therapeutin sein.

 

Als wir uns um Mitternacht ein Taxi teilen, würde ich mich am liebsten sofort in mein Bett verkriechen. Das Blöde ist nur, dass ich mich ja bei meiner Mutter absetzen lassen muss. Schließlich denkt Ben, dass ich dort arbeite und wohne.

Das Taxi hält in der Fasanenstraße, und Ben bittet den Fahrer, kurz zu warten, er wolle mich noch nach oben bringen.

Ob Fortuna in letzter Sekunde doch noch aufwacht?, wage ich zu hoffen, während ein riesiger Schwarm Schmetterlinge in meinem Magen aufflattert.

«Wollen wir das Schicksal herausfordern?», flüstere ich Ben wagemutig zu, als wir das Treppenhaus betreten.

«Und was tun?», entgegnet er launig.

«Den Aufzug nehmen!»

«Aha», grinst Ben. «Und zu therapeutischen Zwecken stecken bleiben?»

«Na, hoffentlich nicht», antworte ich und füge in Gedanken hinzu: Jedenfalls nicht nur zu therapeutischen Zwecken.

Inständig flehe ich die Glücksgöttin an, sie möge dieses altertümliche Monstrum mindestens für eine Stunde zwischen den Etagen festhalten und keine Nachbarn auftauchen lassen, die uns befreien könnten.

«Na, dann nix wie rein ins nächtliche Abenteuer!» Ben wirkt übermütig wie ein kleiner Junge. Er schließt die Tür und drückt den Knopf zur dritten Etage.

Der Lift ruckelt ein bisschen, dann setzt er sich in Bewegung. Entgegen meinen Stoßgebeten hält dieses unzuverlässige Ding dann ohne weitere Mucken ganz vorschriftsmäßig im dritten Stockwerk.

«Tja, einen Versuch war’s wert», stellt Ben mit ernster Miene fest und hält mir die Tür auf.

«Da wären wir», brumme ich enttäuscht und krame in meiner Tasche nach dem Wohnungsschlüssel. Wenn mir nichts Besseres mehr einfällt, werde ich wohl tatsächlich reingehen müssen. «Hatten wir eigentlich schon die nächste Sitzung vereinbart?», frage ich leise.

«Ich rufe dich an», sagt Ben, als wäre das nur das Ende einer Therapiesitzung.

Ich ergreife meine letzte Chance und wiederhole die Abschiedsworte unseres ersten Abends. «Ist das nicht der Spruch, den man einer Frau sagt, die man garantiert nicht wiedersehen will?»

«Keine Ahnung», lacht Ben völlig unbedarft. «Du weißt doch, ich leide unter Amnesie.»