Donnerstag habe ich Jeanette Krüger im Kalender notiert. Einen Tag nach ihrer Absage hat sie sich tatsächlich wieder gemeldet. Was mich einerseits verwundert, andererseits aber auch stolz macht. Sie muss mich für eine gute Therapeutin halten. Würde sie sich sonst von mir behandeln lassen?
Mit einer von Mamas spießigen weißen Blusen, einer schwarzen Bundfaltenhose und dem strengen Haarknoten verwandle ich mich wieder in Frau Dr. Ella Nitsche. Per U-Bahn fahre ich dann ins KaDeWe, wo wir vor dem Haupteingang verabredet sind.
Als ich Frau Krüger eine Verhaltenstherapie vorschlug, reagierte sie so aufgeregt, als hätte ich ihr eine exklusive Einladung zu einem einmaligen Super-Sonder-Sale eines angesagten Designers besorgt.
Ich sehe sie schon von weitem. Sie trägt ein violettes Kleid – ein toller Kontrast zu ihren brünetten Haaren –, dazu gefährlich hohe, orangefarbene Pumps und eine Sonnenbrille im gleichen auffälligen Farbton. An ihrem rechten Arm baumelt eine monströse, violette Handtasche aus Wildleder, sicher mit Platz für viele Schnäppchen. Als sie mich erblickt, schiebt sie die Brille ins Haar und winkt mir zu.
«Huhu, Frau Doktor.»
«Hallo, Frau Krüger. Tut mir leid, wenn Sie warten mussten», begrüße ich sie.
«Nein, nein», wehrt sie kichernd ab. «Ich war zu früh. Vor Aufregung konnte ich es einfach nicht länger zu Hause aushalten.» Ungeduldig tritt sie von einem Bein aufs andere und strahlt mich aus ihren blauen Augen erwartungsvoll an. «Wo sollen wir anfangen? Welches ist Ihr Lieblingsdesigner? Was brauchen Sie dringend?»
Huch! Anscheinend verwechselt sie Verhaltenstherapie mit privater Einkaufsberaterin. Macht aber nichts.
«Gleich geht’s los», verspreche ich, während wir das Kaufhaus betreten. «Vorher würde ich gerne erfahren, was Sie am Dienstag –»
«Dienstag?» Sie blickt mich irritiert an, als habe ich sie nach dem Modetrend für das Jahr 3000 gefragt.
«Sie hatten mich doch vom KaDeWe aus angerufen und die Sitzung abgesagt», helfe ich ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.
Verwundert bleibt Jeanette Krüger vor dem Bulgari-Shop stehen und betrachtet in der Auslage eine sündhaft teure Wildleder-Handtasche, die der ihren sehr ähnlich sieht. «Tut mir leid, ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern.»
Auweia! Leidet sie etwa auch an Amnesie?
«Sie wissen es nicht mehr?»
«Nein, leider, aber ist ja auch schon zwei Tage her», erklärt sie lachend. «Ich merke mir nur ganz wichtige Sachen. Wenn neue Kollektionen eintreffen zum Beispiel, Termine von Modenschauen natürlich auch oder unseren Termin hier. Alles andere ist doch nur unnötiger Ballast, oder nicht?»
Da stimme ich ihr gerne zu. Ich vergesse ja auch so einiges. So gesehen leide ich dann wohl auch unter Amnesie. Ich muss unbedingt recherchieren, ob es dafür eine medizinische Bezeichnung gibt.
«Haben Sie denn am Dienstag etwas gekauft?», bohre ich weiter.
«Bestimmt», antwortet Jeanette, ohne lange zu überlegen. «Ich komme niemals ohne Tüte nach Hause. Sie wissen doch, wie mich das frustriert.»
«Und was genau haben Sie erstanden, Frau Krüger?»
«Sie fragen genauso wie mein Hubert, Frau Doktor. Der will auch immer alles ganz genau wissen. Und wenn ich es ihm dann erzähle, sagt er: Das hast du doch schon.» Jeanettes verständnisloser Miene ist anzusehen, dass sie sich über meine Fragen wundert. «Iss das denn wichtig für die Therapie?»
«Ja, sogar sehr wichtig», behaupte ich mit fester Stimme. «Es war sicher etwas ganz Außergewöhnliches, das Sie gekauft haben. Sonst hätten Sie doch unsere Sitzung nicht abgesagt, oder? Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie mir jeden einzelnen Einkauf ganz detailliert beschreiben könnten.»
«Aha … Na gut, dann muss ich wohl mal überlegen», murmelt Jeanette, während wir an den Uhrenauslagen namhafter Designer vorbeiflanieren.
«Waren es vielleicht Schuhe?», frage ich und deute auf ihre Highheels. «Sehr schick übrigens, und sie sehen so neu aus.»
Jeanette streckt einen Fuß aus und starrt nachdenklich den orangefarbenen Schuh an. «Stimmt!», bestätigt sie meine Vermutung. «Die trage ich heute zum ersten Mal. Aber ich kann mich nicht entsinnen, wo und wann ich die gekauft habe.»
Mittlerweile haben wir im Erdgeschoss jeden Shop besichtigt und sind an allen Präsentationsständen vorbeigeschlendert, aber Frau Krüger hat noch immer nichts gekauft. Ja, sie hat nicht mal den Wunsch geäußert, etwas zu erstehen. Ablenkung ist offensichtlich genau das Richtige. Vielleicht langweilt sie sich zu Hause nur und geht deshalb ständig shoppen.
«Also, wollen wir in die Klamottenabteilung, und Sie zeigen mir, wie so eine Shoppingtour von Ihnen aussieht, Frau Krüger?»
Ein glückseliges Lächeln huscht über ihr Gesicht, und ihre blauen Augen beginnen zu leuchten, als wäre sie verliebt.
«Wenn ich gewusst hätte, wie viel Spaß so eine Verhaltenstherapie macht, wär ich schon viel früher zu Ihnen gekommen, Frau Doktor … Aber sagen Sie doch bitte Jeanette zu mir.»
«Ähm, ja, gerne», stottere ich. «Und ich bin Nel- … Ella.» Hoppla, da hätte ich mich doch beinahe verplappert.
«Also, Ella, mir nach!», fordert sie mich auf und dirigiert mich Richtung Rolltreppe.
«Fangen wir oben an?»
Jeanette übergeht meine Frage mit einer leichten Handbewegung. «Ich brauche ganz dringend einen Paillettenblazer. Hubert veranstaltet nämlich nächste Woche das jährliche Sommerfest für seine Angestellten. Und da möchte ich mich ordentlich aufrüschen. Schließlich bin ich die Frau vom Chef!»
Bei mir läuten sämtliche Therapiealarmglocken. So viele Klamotten, wie Jeanette laut ihrer eigenen Aussage besitzt, hat sie garantiert genug partytaugliche Outfits für die nächsten zehn Jahre im Schrank. Und ich verwette mein Yogastudio, dass sich darunter mindestens ein ungetragener Paillettenblazer findet!
Wenn ich sie nun so weit bringen könnte, dass sie die Unnötigkeit eines neuen Blazers einsieht, egal, ob mit oder ohne Pailletten, wären wir vielleicht schon einen großen Schritt weiter. Und ihrem Hubert würde das sicher auch gefallen.
«Sie besitzen also nichts Passendes für eine Party, Jeanette?», beginne ich vorsichtig.
«Das vielleicht schon, aber eben keinen Paillettenblazer», behauptet sie, ohne rot zu werden.
Ich gebe mich vorerst geschlagen und folge ihr in den zweiten Stock zur Fashion-Etage für Damen.
Mit glänzenden Augen flaniert meine kaufsüchtige Patientin an den schneeweißen Modepuppen vorbei, die auf ihren schmalen Schultern gesichtslose Köpfe tragen. Auf Jeanettes Gesicht dagegen ist die Vorfreude deutlich abzulesen. Verzückt angelt sie bei Jil Sander ein raffiniert geschnittenes rotes Kleid von der Stange. Einen Moment hält sie es hingerissen vor ihren Körper, hängt es dann aber desinteressiert wieder zurück. Einige Meter weiter greift sie versonnen nach einem Stella-McCartney-Pulli, betrachtet ihn kurz und lässt ihn achtlos wieder fallen. Bei Roberto Cavalli stockt Jeanette dann vor Begeisterung der Atem.
«Genau! Das! Ist! Er!», japst sie mit glühenden Wangen. Beinahe andächtig befühlt sie ein mattsilbernes Jäckchen mit unzähligen Pailletten und nimmt es vorsichtig von der Stange.
Augenblicklich eilt eine überschlanke Modelschönheit herbei, die uns bereits seit einer Weile beobachtet.
«Darf ich Ihnen behilflich sein?», fragt sie und schenkt uns ein freundliches Lächeln.
Jeanette nickt huldvoll und hält der professionell geschminkten Blondine das Glitzerjäckchen vor die Nase. «Das da! In Größe vierzig.»
«Oh, da muss ich Sie leider enttäuschen, gnädige Frau», erklärt die Verkäuferin. «Dieses Modell ist im Moment leider nur in sechsunddreißig vorrätig.»
Aus ihrer unterkühlten Miene schließe ich, dass Cavalli sowieso nur bis Größe sechsunddreißig produziert.
«Aber Ihnen würde es vermutlich passen.» Sie betrachtet mich mit abschätzendem Blick und hält mir das Teil an.
«Oh, danke, aber ich … ähm …», stottere ich überrascht. So ein auffälliges Teil würde mir überhaupt nicht stehen. «Also, ich wüsste gar nicht, zu welcher Gelegenheit ich das tragen sollte.»
Die kaufsüchtige Jeanette dagegen mustert mich jetzt ebenfalls eingehend. «Aber Sie könnten doch mal kurz reinschlüpfen, Ella», schlägt sie vor. «Dann könnte ich zumindest beurteilen, wie es angezogen aussieht.»
Notgedrungen spiele ich die Anziehpuppe. Was tut man nicht alles für seine Patienten!
Etwas umständlich schlüpfe ich in den Blazer und drehe mich verlegen vor dem Spiegel.
«Das steht Ihnen wirklich ausgezeichnet», schleimt die Verkäuferin sofort los. «Wie für Sie gemacht. Damit werden Sie in jeder Gesellschaft der Mittelpunkt sein.»
Ganz offensichtlich ist es ihr vollkommen schnuppe, ob sie Jeanette damit verletzen könnte. Hauptsache, sie verkauft das Teil. Komplimente sind im Preis inklusive. Dass man in irgendeinem Secondhandladen ein ähnliches Teil wahrscheinlich für einen Bruchteil des Preises finden könnte, kann ich jetzt wohl kaum anbringen.
«Hey, ich wusste ja gar nicht, dass du so trendy bist», ertönt in diesem Moment eine bekannte Stimme hinter mir.
Als ich mich umdrehe, werde ich blass.
Sie hat mich erkannt, und ich ahne, dass sie mich gleich mit Nelly ansprechen wird. Um nicht aufzufliegen, muss ich also schnell von mir ablenken.
«Was machst du denn hier, Eva?», versuche ich es daher mit der bewährten Fragetaktik.
«Meine Assistentin hat mich im Stich gelassen», schnauft sie gestresst. «Das dumme Ding ist mit einem Jungschauspieler nach Hollywood ausgewandert und hat von heute auf morgen gekündigt. Ausgerechnet jetzt, wo ich diesen großen Spielfilm vorbereiten muss! Ich weiß gar nicht, wie ich das alleine schaffen soll.»
Evas Worte rauschen an mir vorbei. Ich höre kaum zu, weil ich inständig hoffe, dass sie meinen Namen nicht ausspricht und nicht fragt, warum ich mich hier in einer Abendrobe vor dem Spiegel drehe.
«Ähm, darf ich bekannt machen», stottere ich aufgeregt. «Das ist Jeanette Krüger.» Ich drehe mich zu meiner Patientin um und streiche kurz über meinen Haarknoten. «Sie ist meine … ähm, meine private Stilistin. Sie hilft mir, ein passendes Outfit für eine Party zu finden. Ich hab doch so wenig Ahnung von Mode. Jeanette dagegen ist Expertin.»
«Ah, eine Kollegin», erklärt Eva erfreut und streckt ihre Hand aus. «Freut mich.»
«Und das ist Eva Henze», mache ich mit der Vorstellung weiter, «eine erfolgreiche Kostümbildnerin.»
«Eine Kostümbildnerin am Rande des Nervenzusammenbruchs würde es genauer treffen.»
Jeanette hat die Anspielung auf den Film von Pedro Almodóvar offensichtlich verstanden, denn aufgeregt schüttelt sie Evas Hand.
«Tolles Styling!», bewundert sie Evas kunterbuntes Sommerkleid im Hippiestil.
«Gleichfalls! Ihres ist von Donna Karan, richtig? Die gehört ja zu meinen Lieblingsdesignerinnen … Und dazu diese Schuhe! Eine super Kombination. Ganz nach meinem Geschmack.»
Staunend vernehme ich, wie sich die beiden mit vielen Fachausdrücken über die neuesten Modetrends austauschen. Ich selbst verstehe kaum die Hälfte davon.
«Und Sie arbeiten also frei?», erkundigt sich Eva schließlich bei meiner Patientin, die nicht ganz sicher zu sein scheint, was «frei arbeiten» bedeutet. Doch ohne eine Antwort abzuwarten, sprudelt Eva schon weiter: «Ich meine, sind Sie als Stilistin momentan ausgebucht, oder hätten Sie vielleicht Zeit, für meine Assistentin einzuspringen?»
Jeanette bleibt die Spucke weg.
«Sie müssten mir am Set helfen», erklärt Eva weiter, «Sachen aus dem Fundus abholen, Accessoires besorgen … Na ja, was soll ich den Job lange schönreden: Hauptsächlich müssten Sie stundenlang durch die Läden laufen und einkaufen.»
«Einkaufen?!», quietscht Jeanette überdreht. An ihren glänzenden Augen ist deutlich zu sehen, dass sie sich nur mit Mühe zurückhalten kann, um Eva nicht vor Glück um den Hals zu fallen.
Auch ich würde Eva zu gerne abknutschen. Jeanette als ihre Assistentin, das ist doch die Lösung!
«Du hättest keine Bessere fragen können», bestätige ich Eva in ihrem Ansinnen. «Und sobald wir … ähm … ein Outfit für mich gefunden haben –» Ich blinzle Jeanette zu. «Hat sie Zeit für dich.»