Wenig später lehne ich an der Innenseite der Tür und kann meine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Ohne das Licht anzuknipsen, lasse ich mich zu Boden sinken, vergrabe mein Gesicht zwischen meinen Knien und schluchze hemmungslos.
Es ist zum Verzweifeln! Dieser Abend war der endgültige Beweis: Ben wird sich nie, nie, nie an mich erinnern. Ich werde für immer seine Therapeutin bleiben müssen. Es sei denn, ich gebe mich zu erkennen und gehe das Risiko ein, dass er sich belogen und betrogen fühlt.
Warum hat mein Plan nicht wenigstens ein kleines bisschen funktioniert? Ben hätte sich zumindest an meinen Namen erinnern können! Hat Nelly ihm denn wirklich gar nichts bedeutet? Was soll ich bloß tun?
Ich wische mir die Tränen aus den Augen und krame nach meinem Handy, um nachzusehen, ob mir Britta eine Nachricht hinterlassen hat. Doch auch auf meine beste Freundin ist kein Verlass mehr.
In der Wohnung ist es dunkel und abgesehen von meinem Schluchzen vollkommen still. Phillip scheint entweder nicht da zu sein oder schon zu schlafen. Aber hierbleiben will ich ohnehin nicht.
Ich atme tief durch und will gerade aufstehen, als plötzlich ein Paar nackter Füße vor mir steht. Überrascht blicke ich auf – und sofort wieder weg.
Mein Bruder hat außer einem schwarzen Minitanga und einer Pilotenmütze auf dem Kopf nichts an.
«Was willst du denn hier?», herrscht er mich an und stemmt in Feldwebelmanier seine schmächtigen Arme in die ebenso schmächtigen Hüften. Sport findet bei meinem Bruder nur vor dem Fernseher statt. Seltsamerweise ist sein Gesicht jetzt aber so rot, als habe er sich ausnahmsweise doch zu ein paar Liegestützen hinreißen lassen.
Ohne zu antworten, seufze ich erneut auf und wühle in meiner Tasche nach einem Taschentuch.
«Huhu!» In dem Moment erklingt eine helle Frauenstimme aus seinem Schlafzimmer. «Wo bist du, mein Kapitän? Ich hab die Sprühsahne gefunden!»
«Äh … Ich bin sofort bei dir», flötet Phillip über seine Schulter und zischt mir dann zu: «Los, verzieh dich, aber dalli, dalli. Ich habe Besuch, du störst!»
Doch schon steht der Besuch neben uns – nackt und in knielangen schwarzen Lackstiefeln. Lediglich ihr üppiger Busen wird von hüftlangen blonden Haaren bedeckt.
«Wer ist das denn?», piepst die wohlgeformte blonde Venus und mustert mich befremdet.
«Niemand», brummt Phillip ungehalten.
Niemand?
Ich bin nicht niemand!
Ich bin nur unendlich traurig und mutlos, weil ich hoffnungslos in einen Mann verliebt bin, der mich vergessen hat und den ich wahrscheinlich für immer anlügen muss. Und nun verleugnet mich auch noch mein Bruder, statt mich zu trösten und zu fragen, warum ich hier mitten in der Nacht verheult auf dem Flur hocke?
In mir ballt sich die angestaute Enttäuschung des gescheiterten Abends zu einem fürchterlichen Sommernachtsgewitter, das sich gleich auf den Kapitän in seiner lächerlichen schwarzen Unterhose entladen wird.
Na, der kann sich auf etwas gefasst machen! Ich werde mich rächen für all die Gemeinheiten, die er mir ständig an den Kopf schmeißt.
Langsam rapple ich mich hoch.
«Aber Schatz», klage ich mit tränenverhangenem Blick. «Was hast du denn? Ich bin es doch, deine Verlobte!» Vorwurfsvoll sehe ich Phillip an und schluchze erneut theatralisch auf. Ha! Damit hat er nicht gerechnet. Seine Begleiterin offensichtlich auch nicht.
«Du bist verlobt!?», kreischt die Venus und drückt vor Schreck auf die Sprühsahne, die sich daraufhin in einer Kringelkaskade auf dem glänzenden Parkett verteilt.
«Blödsinn!», zischt Phillip und funkelt mich zornig an. «Das ist nur meine bescheuerte Schwester, die saudumm daherquatscht.»
Der panische Blick seiner Gespielin wandert von meiner dicken, roten Krauswolle zu Phillips strohblonden Haarstoppeln, die im Nacken unter der Pilotenmütze hervorlugen, und glaubt ihm natürlich kein Wort.
«Na klar, und die Erde ist eine Scheibe», empört sie sich. «Wenn du mit der da verwandt bist, dann … dann …» Sie fuchtelt wild mit der Sprühsahne vor Phillips Gesicht herum. «Dann bin ich die Tochter von Barack Obama.»
«Ich schwöre, Mäuschen, das ist nur meine Schwester!» Theatralisch hebt Phillip die rechte Hand zum Schwur und legt die andere auf die Brust. Die Geste wirkt in Tangas ziemlich grotesk. «Das ist meine Schwester, Nelly Nitsche.»
Das Mäuschen zieht die Stupsnase kraus und überlegt. «Und weshalb hat deine Schwester dann einen Schlüssel zu deiner Wohnung?»
«Ach so», schalte ich mich ein, «du hast ihr erzählt, das hier wäre deine Wohnung? Angeber!»
Aber auch das ist typisch Phillip. Um Frauen zu imponieren, war er schon immer zu allem bereit. Mit dreizehn hat er mal behauptet, den Führerschein zu besitzen, und war kurz davor, sich Papas Wagen auszuleihen. Den Schlüssel hatte er schon gemopst.
«Nein, sie hat …», stottert mein Bruder. «Ich meine, ich lebe hier …»
Jetzt bin ich aber gespannt! Dass er hier mit seiner Mutter lebt, die aber gerade im Sanatorium weilt, kann er seinem nächtlichen Besuch natürlich nicht gestehen. Das würde sich ja nach Mamasöhnchen anhören.
Ich wische mir die Tränen aus dem Gesicht und ziehe trotzig die Nase hoch.
«Ich bin wirklich seine Verlobte und lebe hier mit ihm und seiner Mutter», behaupte ich und würge meinem Bruder noch eins rein. «Wir wollen nämlich bald heiraten.»
Angewidert verzieht das blonde Mäuschen den üppigen Mund, lässt die Sprühsahne fallen und dreht sich auf ihren Absätzen um. Mit wehenden Haaren rauscht sie den Flur entlang, als wäre es ein Catwalk.
«Bist du jetzt komplett übergeschnappt?», schreit Phillip mich an. Sein Gesicht glüht vor Zorn, und seine hellblauen Augen färben sich gefährlich dunkel. «Du klärst das sofort auf!», fordert er und zeigt mit ausgestrecktem Arm in Mäuschens Richtung. «Los!»
Kämpferisch verschränke ich die Arme vor der Brust. «Warum sollte ich? Das ist meine Rache dafür, dass du mir als Kind immer weismachen wolltest, wir wären gar keine Geschwister. Du hast immer behauptet, Mama hätte mich an einer Bushaltestelle gefunden und würde mich zurückbringen, wenn ich dich ärgern würde.»
«O Mann, Nelly! Carina ist … Sie ist beruflich sehr wichtig für mich», erklärt er keuchend und reckt seinen Kopf vor, als wolle er jeden Augenblick auf mich losgehen.
«Aha, schulst du etwa um, von Pilot über den Wolken auf Herr der Straße? Ich meine, dein Mäuschen benimmt sich ja verdächtig ungeniert, und ihre Lackstiefel sprechen auch eine deutliche Sprache.»
Der blasse Kapitän schnappt nach Luft und tippt sich erbost an die Stirn. «Du hast wohl ’ne Meise. Carina ist doch keine …» Er stockt.
«Was ist sie dann?» Jetzt bin ich wirklich gespannt.
«Carina arbeitet im Lufthansa-Trainingszentrum für Flugsimulation und verschafft mir –»
«Die günstigen Übungsflüge für den Airbus kannst du in Zukunft vergessen!» Die blonde Maus kommt auf ihren Stilettos angestakst. Ihre langen schlanken Beine stecken jetzt in einer abgeschnittenen Jeans. Ihre hübsche Oberweite verhüllt ein pinkfarbenes Top, auf dem mehrere Silberketten baumeln.
Entschlossen schiebt Phillip mich zur Seite und platziert sich vor der Tür, um seine Gespielin am Entwischen zu hindern. Mit einem geradezu devoten Augenaufschlag bettelt er um Vergebung.
«Bitte, mein Mäuschen, verlass mich nicht. Wir machen auch das mit den Handschellen.» Als das nicht hilft, wendet er sich mir zu und durchbohrt mich mit einem drohenden Blick. «Du sagst jetzt sofort die Wahrheit, Nelly. Sofort!»
«Mmm», grummle ich nachdenklich, weil sich durch mein krauses Gehirn gerade ein genialer Gedanke schlängelt: Lufthansa … Trainingszentrum … Flugsimulation … Flugangst. Könnte so ein simulierter Flug Ben vielleicht …
«Weg da», fordert das blonde Mäuschen jetzt erbost und versucht, Phillip zur Seite zu schieben. «Mir reicht’s. Ich steh nicht auf verlogene Milchbubis.»
«Bitte, Nelly, bitte», fleht Phillip mich an.
Na, so was! So kenne ich ihn ja gar nicht. Es scheint ihm tatsächlich viel an dieser Carina zu liegen.
«Also gut», schnaufe ich gnädig und krame in meiner Tasche nach der Geldbörse. Als ich sie gefunden habe, ziehe ich meinen Ausweis raus und halte ihn der Blonden vor die süße Stupsnase. «Phillip sagt die Wahrheit: Ich bin wirklich seine Schwester. Und ich wohne auch nicht hier.»
Das Mäuschen reißt mir den Perso aus den Händen und zieht beim Lesen ihre akkurat nachgezogenen Augenbrauen hoch. «Was sollte denn dann der Scheiß?»
«Du hast wohl keine Geschwister, wie?», frage ich kleinlaut.
Verständnislos mustert mich die Blondine. «Nein, ich bin Einzelkind. Warum?»
«Weil du dann wüsstest, dass man sich unter Geschwistern gern mal einen Streich spielt», erkläre ich ruhig, während ich meinen Ausweis zurücknehme und wieder verstaue.
«Meinetwegen.» Carina-Mäuschen zuckt mit den Schultern. «Aber doch nicht mitten in der Nacht.»
«Tut mir wirklich leid, Carina. Ich wollte dich nicht verletzen», entschuldige ich mich. «Das war eine Kurzschlussreaktion. Aber ich habe gerade eine schreckliche Enttäuschung hinter mir. Außerdem lasse ich mich nicht gerne als niemand bezeichnen. Schon gar nicht von meinem Bruder!»
«Schon gut», winkt Carina ab und wirkt schon wesentlich entspannter.
«Trotzdem kein Grund, gleich so auszuflippen», mosert Phillip. «Was willst du überhaupt hier? Ist ja wohl ein bisschen spät für einen Besuch.»
«Ja, nein … Ich … Es war ein Notfall», stammle ich.
«Pah, Notfall! Bei mir hast du verschissen!», fügt er verächtlich hinzu.
«Wen interessiert das schon», entgegnet Carina schnippisch und sieht mich aufmunternd an. «Also, was für ein Notfall?»
«Es geht … Es geht um meinen Traummann», stottere ich und entschließe mich, einfach die Wahrheit zu sagen. «Er leidet unter Amnesie und kann sich nicht mehr an mich erinnern. Nicht mal an meinen Namen. Er hat mich total vergessen.»
Phillip glotzt mich an, als habe ich ihm prophezeit, dass er während seines Prüfungsfluges abstürzen wird.
«Ganz, wie Großmutter immer gesagt hat: Krause Haare, krauses Gehirn!», raunzt er abfällig, als er die Sprache wiedergefunden hat.
«Pscht», zischt Carina und sieht mich eindringlich an. «So richtig Gedächtnisverlust? Alles weg?»
«Ja», seufze ich erschöpft. «Er erinnert sich nicht mal mehr an unseren ersten Kuss.»
«Das ist ja entsetzlich!», seufzt Carina mitfühlend und schüttelt den Kopf. Dann hakt sie mich unter und zieht mich Richtung Küche. «Wir brauchen was zu trinken!»
Als ich die traurige Geschichte in voller Länge und Tragik ausgebreitet habe, sind die Kerzen an Mamas antikem, fünfarmigem Leuchter zur Hälfte heruntergebrannt, und die zweite Flasche Rotwein ist geleert.
Während des Erzählens wurde mir die Dramatik erst so richtig bewusst. Wenn ich es nicht schaffe, Ben aus seinem schwarzen Erinnerungsloch zu holen, bevor Mama zurückkommt, fliegt meine Tarnung auf – und alles ist aus. Das Risiko, vorher alles aufzuklären, wage ich nicht einzugehen. Warum sollte mir Ben so eine absurde Story glauben? Dazu ist es längst zu spät. Das hätte ich gleich bei seinem Erscheinen in der Praxis tun müssen. Wenn ich jetzt damit rausrücke, wird er mich für übergeschnappt halten und nie wieder ein Wort mit mir sprechen. Außerdem würde das immer noch nichts an seinen Gefühlen ändern. Dann bleibe ich doch lieber Ella für ihn, seine treue Therapeutin.
Müde blicke ich in die flackernden Kerzen und zwirble eine Haarsträhne um meinen Finger.
Phillip, der seinen blassen Körper mittlerweile in einen dunkelblauen Morgenmantel mit goldenem Monogramm gehüllt hat, erhebt sich, um noch eine Flasche Wein aus der Speisekammer zu holen.
«Ach, Nelly, das ist wirklich schwierig», bekundet Carina ihr Mitgefühl. «Aber du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Prinz Charles und seine Camilla sind schließlich auch noch zusammengekommen!»
Genervt rollt Phillip mit den Augen. «Dass ihr Weiber immer gleich losheulen müsst, anstatt mal zu überlegen, wo der Fehler im Plan liegt.»
«Fehler?», fragen Carina und ich synchron.
Bevor sich mein kleiner Bruder zu einer klärenden Antwort herablässt, füllt er erst noch die Gläser auf. «Ist doch ganz einfach, Nelly: Du warst heute Abend Ella für ihn und wohnst ja auch nicht mehr in Moabit.» Er sieht mich oberlehrerstreng an. «Ben konnte sich gar nicht erinnern.»
«Aber in Täglich grüßt das Murmeltier lief doch auch nicht jeder Tag haargenau wie der vorherige ab», gebe ich zu bedenken.
Mein Bruder mustert mich verächtlich. «Das beweist wieder mal, wie doof du bist, Nelly Nitsche. Der Protagonist des Films litt doch nicht unter Amnesie. Im Gegenteil, der hat ganz schnell gecheckt, dass er in einer Zeitschleife steckt und nur er alleine etwas ändern kann. Dein Ben dagegen hat doch keinen blassen Schimmer, was los ist, capito?»
«Ach, was verstehen Männer schon von Gefühlen», rügt Carina ihren Kapitän und prostet mir zu. «Auf die große Liebe!»
Erleichtert atme ich auf und erhebe mein Glas. «Danke, Carina, das ist lieb von dir. Ich hätte da vielleicht auch noch eine Bitte.» Irgendwie habe ich Vertrauen zu ihr gefasst. Deshalb traue ich mich auch, ihr meine ungewöhnliche Idee vorzutragen. «Also, gegen Amnesie und Flugangst gibt es ja leider keine Pillen. Deshalb habe ich überlegt, ob … na ja, ob ein Simulationsflug mit ein paar netten Wetterkapriolen vielleicht etwas bewirken würde. Ich meine, wenn Ben mal so richtig durchgeschüttelt würde, könnte das doch die Blockade in seinem Gehirn lösen, oder?»
«Kein Problem», entgegnet Carina, ohne Phillip zu beachten, der sich verzweifelt an den Kopf fasst. «Der Simulator steht jedem zur Verfügung. Dein Ben könnte sogar selbst das Steuerhorn in die Hand nehmen. Eventuell würde das sein Empfinden noch steigern. Anschließend bekommt man eine Erlebnisflugurkunde, die könnt ihr euch dann zur Erinnerung übers Bett hängen. Kostet nur knapp dreihundert Euro.»
«Dreihundert Euro?», wiederhole ich geschockt. «Das ist ja teurer als mancher Inlandsflug. Kannst du da nichts drehen?»
Carina schüttelt den Kopf. «Tut mir leid, Nelly. Aber wenn du ihm diese Idee richtig verkaufst, ist er sicher bereit, zu investieren.» Mit diesen Worten erhebt sie sich und stöckelt ins Bad.
«Na, endlich ist das Thema durch.» Triumphierend hebt Phillip sein Glas und nimmt einen tiefen Schluck. Dann beugt er sich verschwörerisch zu mir und flüstert: «Und was machen wir mit Mama?»
«Wie kommst du denn jetzt darauf?», frage ich verdattert. Er will wohl nicht, dass Carina etwas mitbekommt.
«Weil sie mich heute Abend angerufen hat, um zu erklären, dass sie am Montag entlassen wird.»
«Ist mir bekannt», sage ich gereizt. «Schließlich habe ich sie heute Nachmittag besucht, während du hier –»
«Ja, ja, schon gut», unterbricht er mich. «Aber was unternehmen wir gegen diese voreilige Entlassung? Eine Woche Erholung reicht in Mamas Fall doch bestimmt nicht aus. Ich habe keine Lust auf einen weiteren Ausraster.»
Ich kapiere sofort. Dem schneidigen Kapitän geht es weniger um Mama als um die Wohnung, in der er ungestört in schwarzen Tangas rumspringen möchte.
«Na, dann muss sich deine doofe Schwester wohl eine Lösung einfallen lassen», sage ich verheißungsvoll.
«Und wann wird das sein?», drängelt Phillip.
«Sobald du mein krauses Gehirn mit ein paar Geldscheinchen zu Höchstleistungen animiert hast. Sagen wir dreihundert Euro?
Es dauert zwei, drei Sekunden, bis mein Bruder kapiert. «Das kannst du vergessen», erklärt er empört. «Ich zahl doch nicht für deine Schnapsideen.»
«Tja, dann wird Mama wohl bald erfahren, dass du in ihrer Abwesenheit hier ausufernde Sexorgien veranstaltest», drohe ich, kurz bevor Carina wieder die Küche betritt. Wie heißt es doch so schön: Im Krieg und in der Liebe sind alle Mittel erlaubt!