26

Nicht mal als Kind bin ich so schnell gerannt.

«Ben», rufe ich beim Zwei-Stufen-Sprint nach unten. «Ich bin gleich bei dir.»

«Nelly», höre ich eine gedämpfte Stimme antworten.

Und dann sehe ich, was geschehen ist. Der Fahrstuhlkorb steckt zwischen der ersten Etage und dem Erdgeschoss fest. Und das einzig Positive an dem unzuverlässigen Museumsstück sind die verglasten Seitenwände, durch die man hineinsehen kann.

Statt Ben erblicke ich allerdings zuerst einen riesigen Blumenstrauß, den er im Arm hält. Und wie ich beim genaueren Hinsehen feststelle, hat er sich in Schale geworfen. Er trägt einen dunklen Anzug mit weißem Hemd, das ihm ausgesprochen gut steht.

«Atmen Sie ganz ruhig. Ein und aus. Und keine Panik …»

Das könnte von mir sein, denke ich, als ich meine Mutter höre, die auf einer Stufe sitzt und eine Art Treppentherapie abhält.

Sie empfängt mich mit vorwurfsvoller Stimme. «Antonella! Poltere hier nicht so durchs Treppenhaus. Und mach nicht so einen Lärm. Es ist Sonntag.»

Keine Begrüßung. Kein Lächeln. Gleich zur Sache. Sie scheint ganz die Alte zu sein.

«Hallo, Mama. Wie schön, dass es dir wieder gutgeht», entgegne ich schmunzelnd, beuge mich zu ihr und hauche ihr ein Begrüßungsküsschen auf die Wange. Dann wende ich mich Ben zu. «Halte durch, meine Tante holt Hilfe.»

Trotz aller Dramatik kann ich mir ein Grinsen jetzt nicht verkneifen. Irgendwie hat das Ganze etwas von einer schicksalhaften Strafe.

«Wer ist der junge Mann?», mischt sich Mama ein. «Kennst du ihn?»

«Das ist … Ben.»

«Wie Ben? Welcher Ben?» Mama klingt aufgebracht, als hätte ich den Fahrstuhl absichtlich kaputt gemacht.

Mist. Wenn ich seinen Nachnamen ausspreche, erinnert sie sich vermutlich an ihn. Und dann bin ich geliefert.

«Äh, dass ist Ben Reu-» Ich räuspere mich, verschlucke den Rest und schaffe es, so heftig zu husten, dass mein Gesicht rot anläuft.

«Du nuschelst», tadelt mich Mama sofort. «Ich verstehe kein Wort.»

Hilfesuchend blicke ich mich um.

«Ben Reuther», ruft Ben durch das Glas und deutet eine kleine Verbeugung an.

Tja, so viel zu meinem «Versteckspiel».

Nachdenklich wandert Mamas Blick zwischen Ben und mir hin und her. «Reuther … Reuther … Da klingelt was. Sind wir uns schon mal begegnet?», fragt sie und mustert ihn aufmerksam.

«Ähm, ich glaube nicht. Ben ist nämlich …» Stotternd versuche ich, das Schlimmste abzuwenden. «Ben ist nämlich …» Verdammt, wie komme ich jetzt nur aus diesem Schlamassel raus? «Ja … also Ben wollte …»

«Ich bringe die Blumen», ruft Ben, der die unangenehme Situation offensichtlich durchschaut hat, und hält den Strauß hoch, als wäre er eine vergoldete Trophäe.

Die Blumen … Ben als Fleurop-Bote 

Genau!

«Der Strauß ist für dich, Mama. Deshalb bin ich doch auch in deiner Wohnung. Ich wollte … ähm … nachsehen, ob bei dir alles in Ordnung ist, und dich gebührend willkommen heißen.»

«Die Blumen sind für mich?» Mama ist sichtlich irritiert.

Ich sehe förmlich, wie ihr Hirn arbeitet. Offensichtlich zweifelt sie an dem Aufwand zu Ehren ihrer Rückkehr.

Auch Ben sieht mich fragend an, da schrillt eine Stimme durchs Treppenhaus.

«Notdienst ist unterwegs! Durchhalten!»

Auf Tante Tessa ist Verlass. Ich entspanne mich etwas und nutze die Gelegenheit zum Themenwechsel.

«Geh doch schon mal nach oben, Mama», schlage ich vor und helfe ihr aufzustehen. «Du willst dich sicher ausruhen? Tante Tessa wird dir eine Tasse Tee kochen.»

Abrupt zieht sie ihren Arm weg, streicht sich den schmalen Rock glatt und zupft den Kragen ihrer weißen Bluse zurecht.

«Ausruhen?! Ich bin doch nicht invalide», wehrt sie schnippisch ab. «Und für Tee ist es heute viel zu heiß.»

Oh, oh, Mama wie eine ältere, hilfsbedürftige Frau zu behandeln ist unverzeihlich.

«Nein, nein», bemühe ich mich um Schadensbegrenzung. «Ich meine ja auch nur, dass so eine … ähm … Sitzung auf der Treppe ziemlich anstrengend sein muss.»

Sie sieht mich verwundert an und fährt sich mit einer vertrauten Geste übers Haar.

«Man sitzt hier ja nicht gerade besonders bequem», fahre ich fort. «Und das laute Reden strengt doch auch an. Also ich würde davon einen ganz trockenen Hals kriegen und –»

«Schon gut», fällt sie mir ins Wort und streckt den Rücken durch. «Ich geh ja schon.»

«Die Blumen bringe ich später vorbei», ruft Ben ihr nach und winkt mit dem Strauß.

Als meine Mutter außer Hörweite ist, lasse ich mich auf eine Treppenstufe plumpsen und seufze tief.

«Iss das ’ne neue Yogaübung?», plärrt eine mir wohlbekannte Männerstimme von unten.

Gleich drauf schlendert mein Bruder, Arm in Arm mit Carina, die Treppen herauf.

«Phillip, wo kommst du denn her?», entfährt es mir, obwohl der Picknickkorb und die hochsommerlichen Klamotten der beiden eindeutig nach einem sonntäglichen Badeausflug aussehen.

«Wir waren auf dem Ku’damm flanieren», erklärt mein Bruder spitz. «Na, wo waren wir wohl, Schwesterherz?» Er schwingt den Korb durch die Luft und sieht mich fragend an.

«Ist er das? Dein Traumtyp?», flüstert Carina mir zwinkernd zu und deutet auf Ben, der sich mittlerweile auf dem ausklappbaren Sitz im Fahrstuhl niedergelassen hat.

Ich nicke lächelnd. «Aber er steckt im Lift fest.»

«Ha!» Phillip verdreht die Augen und kann es sich nicht verkneifen, hämisch zu lachen. «Da wär ich ja nie drauf gekommen.»

«Steh nicht rum, tu lieber was», befiehlt Carina streng und stößt ihm den Ellbogen in die Rippen.

Augenblicklich lässt mein Bruder den Picknickkorb fallen und tritt an die verschnörkelte Aufzugtür. «Hast du schon mal gedrückt?», fragt er an mich gewandt. «Manchmal klemmt nur der Knopf.»

Er klingt wie ein Chefmonteur, der dieses Problem schon x-mal beseitigt hat, und drückt mehrfach hektisch auf den glänzenden Messingknopf.

Natürlich ohne Erfolg. Doch Phillip lässt sich nicht beirren. Vermutlich möchte er Carina imponieren, die sich mittlerweile neben mich auf die Treppe gehockt hat und dem Treiben belustigt zusieht.

«Ben, drück mal auf Erdgeschoss», ruft er in Richtung Fahrstuhl.

Die Drückerei geht eine Weile hin und her. Immer schön im Wechsel. Bis sich Phillip plötzlich am Kopf kratzt, irgendwas vor sich hin murmelt und Ben ein neues Kommando erteilt: «Bei drei nochmal gleichzeitig auf Erdgeschoss drücken!»

Gespannt recken Carina und ich die Hälse. Phillip zählt laut, und wir sehen, dass auch er bei drei den Messingknopf drückt. Und tatsächlich knarrt es daraufhin im Lift. Vielleicht war es aber auch nur Bens Gewichtsverlagerung, die das Geräusch ausgelöst hat. Er hat den Strauß vorsichtig auf den Boden gelegt und sich vor den Knöpfen postiert wie ein Türsteher vor einer beliebten Disco.

«Nochmal!», brüllt Phillip. «Eins, zwei – drei!»

Und zu unser aller Erstaunen bewegt sich der Fahrkorb nun ein kleines Stückchen. Er rumpelt und knarrt lautstark, und beim dritten Versuch ruckelt es gefährlich. Dann setzt sich das Ungetüm tatsächlich nach unten in Bewegung.

Instinktiv springe ich auf und renne die Treppen hinab.

Gleichzeitig kommen Ben und ich im Erdgeschoss an. Überglücklich reiße ich die Tür auf und falle ihm um den Hals.

«Alles ist gut, Nelly», flüstert er leise und küsst mich zärtlich aufs Ohr.

Ich seufze erleichtert und muss gegen jäh aufsteigende Tränen kämpfen. Die ganze Aufregung hat mich doch ziemlich mitgenommen.

«Ich hab was gut bei dir, Schwesterherz!», ruft Phillip feixend durchs Treppenhaus und macht sich mit Carina auf den Weg nach oben.

Ben lässt mich los und deutet auf die Blumen, die immer noch im Aufzug liegen. «Die sollten wir deiner Mutter bringen, bevor sie endgültig verwelken.»

«Ja, gleich», entgegne ich. «Vorher musst du mir aber noch versprechen, nie wieder ohne mich in einen Lift zu steigen.»

«Alles, was du willst, Nelly. Hauptsache, du bist mir nicht mehr böse und sprichst wieder mit mir. Ich hatte solche Angst, du würdest mir die Tür vor der Nase zuknallen.» Ben sieht mich mit großen Augen an. «Es tut mir leid, dass ich zu spät bin. Aber ich dachte, dass es mit dem Lift schneller gehen würde, und …» Er stockt und lacht amüsiert auf. «Was für eine bescheuerte Idee.»

Auch ich muss jetzt herzhaft lachen.

«Ich verzeihe dir», lächele ich großzügig, nehme seinen Kopf in meine Hände und küsse ihn zärtlich auf die Narbe.

Doch plötzlich ändert sich Bens heitere Miene. «Und ich verspreche dir auch, dich niemals mehr zu belügen», erklärt er ernst. «Ich wollte dir schon an unserem ersten Abend im Restaurant gestehen, dass wir … na ja, dass wir in derselben Branche tätig sind. Aber ich hatte Angst.»

«Wovor?»

«Dass du sauer wärst. Ich hatte Angst, du könntest glauben, ich hätte deine Mitglieder bewusst abgeworben. Das Gegenteil zu beweisen ist fast unmöglich. Und dann wäre unsere erste Verabredung gleichzeitig die letzte gewesen.»

«Ja, wahrscheinlich wäre ich ausgerastet», stimme ich ihm zu und blicke nachdenklich zu Boden. «Erst hätte ich dir meinen Drink ins Gesicht geschüttet und dann mein Essen über deinen Schoß gekippt!»

Schuldbewusst senkt Ben den Kopf. «So was Ähnliches hab ich mir schon gedacht. Bei deinem Temperament …»

«Ich bin nur froh, dass dir nichts Schlimmes zugestoßen ist», erkläre ich versöhnlich. «Ich hatte schon Sorge, du wärst verunglückt. Oder die durchgeknallte Vera Paulsen hätte dir aufgelauert und dich gekidnappt.»

Ben zuckt zusammen. Ich kann sehen, wie sich die Narbe auf seiner Stirn dunkel färbt. «Wir wollen diese Wahnsinnige nie wieder erwähnen, ja?»

«Einverstanden. Wir lassen sie den grausamen Tod des Vergessens sterben.»

Doch kaum habe ich zugestimmt, bedaure ich, dass diese Eishexe dann ungestraft davonkommen würde. Herausfordernd blicke ich Ben an.

«Eigentlich hätte sie für ihre Gemeinheiten ja eine Strafe verdient.»

«Mir würden sicher ein paar schmerzhafte Schikanen einfallen», grummelt Ben mürrisch vor sich hin. «Aber lassen wir das, ich bin ja kein Krimineller.»

«Man müsste ihre weiße Couch komplett mit Kaffee versauen», schlage ich vor, als eine schrille Stimme durchs Treppenhaus ertönt.

«Antonella, alles in Ordnung?»

Mama!

Wir schrecken beide zusammen. Ben holt eilig die Blumen aus dem Lift, und ich streiche mein Kleid glatt. Wenigstens erfüllen wir heute beide Mamas strenge Kleiderordnung.

«Tja, gehen wir den Blumenstrauß abliefern», schnaufe ich kampfbereit und ziehe Ben hinter mir her.

Wird schon schiefgehen, rede ich mir ein, während wir die dreiundsechzig Stufen nach oben steigen.

Mein Bauch ist allerdings anderer Meinung.