Am nächsten Morgen hängen dicke, schwarzviolette Wolken über Moabit. Sie sehen aus, als brächten sie den Weltuntergang. Ein scharfer Wind verbiegt die Baumwipfel, und ein heftiges Sommergewitter scheucht die letzten Passanten übers Pflaster.
Tage, die so dunkelgrau beginnen, bringen garantiert nichts Gutes.
Als Kind habe ich es geliebt, vom Fenster aus Blitze zu beobachten und dicke Regentropfen an die Fensterscheiben trommeln zu sehen. Nach so einem Unwetter stapfte ich mit Britta durch die Pfützen in unserem Hinterhof, bis wir klatschnass waren. Hinterher steckte mich Mama in ein heißes Bad, dann durfte ich wieder ins Bett, um nicht krank zu werden.
Auch heute würde ich am liebsten zurück unter meine Bettdecke kriechen und so lange schlafen, bis alles vorbei ist – bis ich Ben vergessen habe.
Aber ich widerstehe der Versuchung. Pah! Wäre doch gelacht, wenn ich mich unterkriegen lassen würde. Die Ausbildung auf der Yoga-Akademie in Schöneberg habe ich schließlich auch geschafft. Und ich kann mich noch gut erinnern, wie schwer es war, die erforderliche Körperbeherrschung zu erlangen. Vor allem beim Kopfstand. Zu Beginn konnte ich mich nicht allein im freien Raum halten und musste die Beine gegen die Wand stützen. Aufgeben kam aber nicht in Frage. Ich wusste, dass ich es schaffen würde – weil ich es schaffen wollte. Jeden Tag ging es etwas besser. Und eines Tages waren meine Bauch- und Beinmuskeln stark genug, die Balance zu halten. Es ist eine alte Weisheit: Wenn man eine Sache erst mal ans Laufen gebracht hat und dranbleibt, kommt der Rest von allein. Ab sofort werde ich mein Ziel fixieren und mich nur noch um mein Business kümmern. Männer können mir in Zukunft gestohlen bleiben!
Durchatmen und Konzentration auf das Wesentliche.
Also, warum warten, bis ich einen Nachmieter gefunden habe? Wer sagt denn, dass man eine bestimmte Reihenfolge bei der Problembewältigung einhalten muss? Es ist ja bereits beschlossene Sache, dass ich meine jetzige Wohnung aufgebe und bei Britta einziehe. Dann kann ich das auch sofort tun, oder nicht?
Aufgeregt drücke ich Brittas Kurzwahlnummer.
«Ja, Sonntag würde passen», erklärt sie unkompliziert wie immer. «Ich bin dieses Wochenende in Berlin und kann dir sogar beim Umzug helfen.»
«Du bist wirklich die allerbeste Freundin, die man sich wünschen kann, Britta.»
«Ach was, reine Berechnung», wehrt sie kichernd ab. «Sobald meine Personal Trainerin bei mir wohnt, erspart mir das viel Zeit.»
Als ich gegen halb neun auf dem Weg ins Studio bin, hört es endlich auf zu regnen.
Kaum habe ich die Tür aufgeschlossen, erscheint Ellen mit einem Baby, das sie in einem buntgemusterten Tuch auf den Hüften trägt.
Mit großen blauen Augen starrt die Kleine verwundert auf mein geblümtes Käppi, bevor ein Lächeln über ihr niedliches Puppengesicht huscht.
«Das ist meine Suzy», erklärt Ellen. «Hast du eigentlich auch Kinder?»
«Nein … ähm, dazu fehlt mir noch der passende Vater», flachse ich, und ohne es zu wollen, muss ich wieder an Ben denken. Aber der scheint als zuverlässiger Vater so wenig geeignet zu sein wie ich als Psychotante.
Schnell verdränge ich den unzuverlässigen Surfertypen aus meinem krausen Gehirn und grinse Suzy breit an. Es muss ein tolles Gefühl sein, so ein kleines Wesen auf seinen Hüften zu schaukeln, denke ich versonnen und höre meine biologische Uhr ticken.
«Wie alt ist sie denn?», frage ich Ellen.
«Sechs Monate. Seit gestern», antwortet sie strahlend.
«Sie ist wirklich sehr süß.» Mehr fällt mir mangels Kindererfahrung auch nicht ein.
«Ja, wenn sie schläft, auf jeden Fall», seufzt Ellen und wirkt schon eine Winzigkeit weniger glücklich. «Aber ich bin wegen der Yogastunden hier.»
«Oh … ähm, prima!», erwidere ich begeistert. Ob sie ihr Kind mit in die Stunde nehmen will?
Ellen schiebt das Baby mit einer routinierten Bewegung von der linken auf die rechte Hüfte und zupft danach ihr verrutschtes rosa T-Shirt zurecht. «Ja, dein Unterricht ist nämlich der beste.»
«Danke, das freut mich», antworte ich und bedaure, dass meine Mutter das Kompliment nicht hören konnte. Vielleicht würde sie ihre Meinung über mein Hobby dann endlich ändern.
«Keine Übertreibung», untermauert Ellen ihr Kompliment. «Ich hab einige Studios ausprobiert, auch in Mitte und im Hansaviertel –» Sie bricht ab, um Suzy daran zu hindern, mit ihren kleinen Patschehändchen Mamas blonde Haare einzeln auszureißen.
«Konkurrenz belebt das Geschäft», behaupte ich großmütig, dabei brenne ich auf Einzelheiten.
«Dein philosophischer Satz am Ende der Stunde, zum Beispiel, hat mir besonders gut gefallen», fährt Ellen fort. «Er hat so etwas Aufbauendes. Und dass hier nur Frauen trainieren, finde ich auch sehr gut. Bei dir ist es irgendwie so … na ja, so alternativ.» Unsicher blickt sie mich an. «Hoffentlich empfindest du das nicht als abwertend, Nelly?»
«Nein, nein, ich fühle mich geschmeichelt», versichere ich lächelnd. «Ich will mich ja auch von anderen Studios unterscheiden.»
Suzy gibt unwillige Quieklaute von sich, als würde ihr unsere Unterhaltung schon viel zu lange dauern.
«Gleich gibt’s was zu essen, meine Süße», flüstert Ellen ihr ins Ohr und wendet sich dann wieder an mich. «So, jetzt muss ich aber los, sonst fängt die Kleine noch an zu schreien.»
«Aha, verstehe», erkläre ich, weil ich keine Ahnung habe, was ich darauf antworten soll.
Ellen schultert ihren Rucksack und wendet sich zum Gehen.
War es das also? Wollte sie nur von der Konkurrenz berichten und mir ihren Nachwuchs vorführen?
Konsterniert betrachte ich das Mutterglück. Ganz allerliebst – wirklich. Aber will Ellen sich nicht endlich als neues Mitglied anmelden? Das würde mich vollends entzücken.
Ich beschließe, die souveräne Geschäftsfrau zu geben, die es nicht nötig hat, auf Kundenfang zu gehen, und reiche ihr mit einer lässigen Geste einen Stundenplan über die Theke.
«Falls dich mal wieder die Trainingslust überkommt.»
Kopfschüttelnd nimmt sie den Rucksack wieder ab und kramt ihre Geldbörse hervor. «Über unserem kleinen Schwätzchen hätte ich jetzt beinahe vergessen, dass ich wegen eines Zehner-Tickets hier bin. Und sobald ich die Unterbringung der Kinder organisiert habe und weiß, wie oft ich trainieren kann, unterschreibe ich einen Mitgliedsvertrag.»
Innerlich breche ich in Freudenjubel aus. Ellens Besuch bringt einhundert Euro Cash ein!
Ich bin doch eine gute Geschäftsfrau. Noch dreißig solcher Tickets, und die ausstehende Miete ist drin!
Auch die drei folgenden Yogastunden sind einigermaßen normal besucht, und mittags scheint sogar wieder die Sonne.
Alles wird gut, denke ich erleichtert, als ich mich zur Mittagspause faul in den Liegestuhl in den Hinterhof lege.
Ich überlege gerade, wie ich die Nachmietersuche angehen soll, als eine attraktive, in Schwarz gekleidete Frau den Hof betritt. Ihr glänzendes, platinblondes Haar fällt glatt über die Schultern und schwingt bei jeder Bewegung sanft mit. Sie ist sehr schlank und trägt eine enge knielange Hose und eine extravagante Schluppenbluse mit kleinen Puffärmeln. Darunter ahnt man eine üppige Oberweite in Spitzendessous.
Push-up-Alarm, nennt mein Bruder diesen Look.
Wow! Die kauft bestimmt nicht bei der Firma mit den zwei großen Buchstaben ein, denke ich, und mein Blick wandert die langen goldbraun schimmernden Beine entlang bis zu den Highheels.
Die Schönheit schaut sich kurz um und stöckelt dann zielstrebig auf mich zu. Ihrem dunklen Outfit nach zu urteilen, könnte sie den Bestatter suchen, obwohl dessen Eingang sich vorn auf der Straße befindet und eigentlich nicht zu übersehen ist.
«Guten Tag.» Lässig stellt sie ihre weiße Kroko-Handtasche ab, schiebt die überdimensionale schwarze Sonnenbrille ins Haar und sieht mich aus leuchtend blauen, stark geschminkten Augen an. «Ist hier geschlossen?»
Oh! Sie will doch zu mir?
«Meinen Sie das Yogastudio?»
Die schöne Fremde nickt gelangweilt.
Nur eine kleine Portion ihrer Laszivität, und Ben hätte mich bestimmt nicht … Stopp! Den Typen wollte ich doch vergessen, ermahne ich mich und gebe eine lässige Ein-Wort-Auskunft: «Mittagspause.»
«Schade», bedauert die Schwarzgekleidete und wird gesprächig. «Ich wollte zu Nelly Nitsche, die soll einen Nachmieter für ihre Wohnung suchen. Wissen Sie vielleicht, wo ich sie finden kann?»
Begeistert springe ich aus dem Liegestuhl hoch. «Ich bin Nelly Nitsche.»
«Paulsen.» Lächelnd streckt sie mir die Hand entgegen.
An ihrer Linken sehe ich einen Ring mit einem beeindruckend großen Stein blitzen. «Freut mich, Frau Paulsen», sage ich breit grinsend und biete ihr etwas zu trinken an.
«Danke, ein kaltes Wasser … wenn Sie so freundlich wären.»
«Wasser ist immer im Haus», beeile ich mich zu versichern und bitte sie, mir ins Studio zu folgen.
«Ich trinke mindestens drei Liter Wasser am Tag, das hält die Haut straff.»
Für eine Nachmieterin würde ich sogar extra teure Flaschen aus dem Supermarkt holen, denke ich und greife in den Minikühlschrank unter dem Tresen. Frau Paulsen setzt sich an einen der Tische, kramt beiläufig ein Eau-de-Toilette-Spray aus ihrer weißen Kroko-Tasche und sprüht sich damit ein. Ein erfrischender Duft steigt mir in die Nase.
«Desiree Engel hat mir von der Wohnung berichtet», sagt sie nun. «Drei Zimmer, richtig?»
Ich stelle zwei Gläser und eine Flasche Evian auf den Tisch. «Genau. Und sie liegt nur fünf Häuser entfernt von hier. Vierte Etage … leider ohne Lift, aber dafür in U-Bahn-Nähe. Sämtliche Einkaufsmöglichkeiten sind ebenfalls fußläufig zu erreichen», beeile ich mich zu versichern.
Gelassen winkt die Blondine ab. «Treppensteigen ist doch ein super Beintraining.»
«Finde ich auch», stimme ich erleichtert zu und betrachte fasziniert ihre guttrainierten Beine und das Tattoo an ihrem rechten Fuß. Eine züngelnde Schlange kriecht aus den Highheels und windet sich um die Fessel.
Frau Paulsen leert ihr Glas in einem Zug, bevor sie weiterspricht: «Aber das ist nebensächlich. Ich mag Moabit, ist irgendwie im Kommen.»
Seltsam, sie sieht aus wie jemand, der genug verdient, um sich eine repräsentative Wohnung in Charlottenburg zu kaufen.
«Es wäre eine Zweitwohnung», erklärt sie, als könne sie meine Gedanken lesen. «Eigentlich wohnen wir in Frankfurt, aber viele unserer Freunde leben in Berlin. Mein Verlobter und ich verbringen die Wochenenden oft hier. Er hat diverse berufliche Kontakte in der Stadt.»
«Aha», erwidere ich interessiert. Ich würde zu gerne wissen, womit eine Frau mit so einer eleganten Ausstrahlung ihre Brötchen verdient. Vielleicht spielt sie ja mit Desiree in der Telenovela. Oder sie ist Maklerin an der Frankfurter Börse. Das würde der Witwe Pusch bestimmt gefallen: Mieter, die viel Kohle verdienen, immer pünktlich bezahlen, aber selten zu Hause sind.
«Wann könnte ich das Objekt besichtigen?», unterbricht sie meine Gedanken.
Um mir meine Euphorie (ich habe eine Nachmieterin!) nicht zu sehr anmerken zu lassen, nicke ich unschuldig. «O ja, logisch, Sie wollen die Wohnung natürlich erst mal anschauen. Wir könnten gleich jetzt hingehen. Es sind ja nur ein paar Schritte die Straße hoch.»
«Sehr schön», entgegnet sie erfreut.
Eilig ziehe ich mir was über, schließe das Studio ab und laufe mit meiner potenziellen Nachmieterin los. Neben dieser mondänen Frau fühle ich mich in meiner schlabberigen Latzhose und dem alten T-Shirt ein bisschen wie Aschenputtel. Aber wen kümmert’s? Hauptsache, sie übernimmt die Wohnung.
Kurz darauf betreten wir den Wohnungsflur.
«Wissen Sie denn bereits, wann Sie ausziehen werden?», erkundigt sich Frau Paulsen und läuft im Stechschritt alle Räume ab. Im leeren Wohnzimmer bleibt sie am Fenster stehen und blickt hinunter auf die Straße.
«Am kommenden Sonntag», verkünde ich.
Erfreut strahlt sie mich an. «Das wäre ja perfekt.»
«Demnach gefällt Ihnen die Wohnung?»
«Ja, die Aufteilung ist sehr hübsch und die Miete günstig. Alles andere ist eine Frage des Designs. Und wenn ich möglichst schnell einziehen kann, müssen Sie nicht mal den rosa Elefanten entfernen», erklärt sie mit einem Grinsen.
«Umso besser. Die Vermieterin ist übrigens eine sehr nette und unkomplizierte Witwe. Frau Pusch», erkläre ich. «Und wenn ich Ihnen noch einen Tipp geben darf: Sie vermietet vorzugsweise an verheiratete Paare.»
Verträumt blickt Frau Paulsen auf ihren Diamantring. «Da muss ich nicht mal lügen. Wie gesagt, ich bin mit dem Mann meiner Träume verlobt und werde bald heiraten. Das Brautkleid –»
«Oh! Gratuliere», unterbreche ich sie, weil ich es heute nicht ertrage, vom Glück anderer zu hören. Ich werde bald dreißig und hab noch nicht mal eine feste Beziehung! Schlimmer noch: Gerade erst bin ich schäbig versetzt worden.
«Danke schön», lächelt die glücklich Verlobte und wechselt das Thema. «Haben Sie vielleicht die Telefonnummer der Hauseigentümerin parat?»
«Logo», erwidere ich und suche im Register meines Handys nach der Nummer. Im Grund ist mir eine nüchterne Unterhaltung auch viel lieber, denn ich will auf keinen Fall an diesen … diesen …
Nein! Ich beschließe, seinen Namen zu vergessen, und widme mich dem Telefonregister.
Frau Paulsen tippt in ihr weißes Handy ein, was ich vorlese.
«Vielen Dank», erklärt sie. «Gleich nach der Mittagspause werde ich dort anrufen. Ich gebe Ihnen dann Bescheid, sobald ich den Mietervertrag unterschrieben habe.»
«Das klappt bestimmt», erwidere ich zuversichtlich und zähle noch einmal auf, welche Unterlagen die Witwe von ihren Mietern verlangt. Besonders betone ich die Wichtigkeit der Gehaltsbestätigung, um möglichst unauffällig Nachforschungen anzustellen. Ich würde doch zu gerne erfahren, womit diese Frau ihr Geld verdient.
Leider geht sie nicht auf meine Anspielung ein. Sie nickt nur lächelnd und meint: «Kein Problem, Frau Nitsche. Ich bin fest angestellt.»
Also gebe ich mich damit zufrieden. Eine Fremde direkt nach ihrem Beruf zu fragen, würde ich nie wagen. Dazu bin ich viel zu schüchtern. Was die Menschen nicht von selbst erzählen, wollen sie meist aus gutem Grund nicht verraten. Neugier ist außerdem unhöflich – manchmal aber auch hinderlich, wenn man sich nur wegen der guten Manieren die Telefonnummern eines gewissen Typen nicht hat geben lassen …
Stopp!
Wer ständig zurückschaut, kommt nicht vorwärts, lautet einer meiner philosophischen Gedanken, und die wollte ich doch befolgen.