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«Herzlich willkommen!» Tapfer lächelnd übergebe ich Mama den Strauß.

Mürrisch nimmt sie ihn entgegen und reicht ihn gleich an Phillip weiter, der zusammen mit Carina und Tessa ein Empfangskomitee im Flur bildet. Alle starren gebannt auf Ben und mich, als erwarteten sie eine Ansprache.

Keine Ahnung, wie man sich in so einer seltsamen Situation benimmt. Plaudert man übers Wetter, über Politik oder über die Tücken der Technik?

Nach einer gefühlten Ewigkeit durchbricht Phillip die angespannte Stille.

«Also, ich finde, das schreit nach einem Gläschen Sekt», schlägt er vor und sieht freudestrahlend in die Runde. «Ist auch gut für den Kreislauf», fügt er noch schnell an, als Mama ihn entgeistert mustert.

Dankbar greift Ben den Vorschlag auf. «Uns allen würde eine kleine Aufmunterung nach der ganzen Aufregung bestimmt guttun.»

Auch Carinas Augen leuchten erfreut auf.

Mama dagegen zieht die Brauen hoch und betätschelt wieder ihr Haar. «Feiern können wir später», erklärt sie streng. «Erst habe ich noch etwas mit Antonella zu klären.» Sie fixiert mich ungnädig. «Kommst du bitte einen Moment ins Sprechzimmer?»

Vor meinen Augen tanzen plötzlich kleine, schwarze Punkte, und mir wird schwindelig. Am liebsten würde ich die Treppen wieder runterlaufen oder mich zumindest unter einem Tisch verkriechen und so lange dort bleiben, bis Mama vergessen hat, was sie klären will. Denn dass sie heute mal ausnahmsweise nicht über mein Yogastudio herziehen wird, ist so sicher wie die Tatsache, dass ich ihre Tochter bin.

«Können wir diese … ähm, diese Angelegenheit nicht später besprechen?», versuche ich stotternd meinen Hals aus der Schlinge zu ziehen. «Wir haben doch Besuch.»

Doch ohne meinen Einwand zu beachten, schreitet Mama voran. Ich sende Ben einen hilfesuchenden Blick zu. Ganz ruhig ergreift er meine Hand und nickt mir aufmunternd zu. Auch wenn er vermutlich keine Ahnung hat, was hier gerade los ist.

Mama dreht sich noch einmal um, mustert Ben kurz und erklärt dann: «Ich würde es vorziehen, allein mit dir zu sprechen. Und zwar jetzt gleich.» Ihre schneidende Stimme duldet keinen Widerspruch.

Als ich das Zimmer betrete, sitzt meine Mutter bereits hinter ihrem Schreibtisch und ist wieder ganz Frau Dr. Nitsche. Zufrieden schiebt sie ihre Brille auf die Nase, die sie in der Schublade gefunden haben muss.

Die Abendsonne spiegelt sich im gegenüberliegenden Fenster, wirft rötliches Licht in den Raum und sorgt für eine friedliche Atmosphäre.

Trügerisch, denke ich, denn die gesamte Szenerie wirkt, als sei nie etwas geschehen. Als sei meine Mutter nie ausgeflippt. Nie in der Klinik gewesen. Und als hätte ich nie Therapeutin gespielt.

Doch der aufgeschlagene Terminkalender, der vor ihr liegt, macht mir nicht gerade Mut. Hat sie die ausradierten Termine schon bemerkt? Ahnt sie etwas? Oder hat Tessa vielleicht gepetzt? Zugegeben, die Story von Ben als Blumenboten war ziemlich dünn, denke ich und wappne mich für die wahrscheinlich unangenehmste Moralpredigt meines Lebens.

«Dann schieß mal los, Mama», sage ich schicksalsergeben und lasse mich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen.

Überrascht hebt sie den Kopf. Aufmüpfiges Benehmen hat sie wohl nicht erwartet. Aber ich bin kein verängstigtes Kind mehr, das sich von ihr zurechtweisen lassen muss. Egal, was kommt. Ich werde es durchstehen. Sogar ohne Kopfstand.

Mama richtet sich auf und sieht mich streng an. «Ist dieser Ben Reuther identisch mit dem Reuther in meinem Kalender?»

Typisch, ohne lange Vorrede kommt sie direkt zum Thema. Na gut, kurz angebunden sein kann ich auch.

«Ja.»

Geduldig, als wäre ich ein Patient, blickt sie mich an. «Und weiter?»

«Nichts weiter», antworte ich schulterzuckend.

Zwischen ihren Brauen entsteht eine steile Falte, als sie jetzt die Augen zusammenkneift. «Du bist also mit einem meiner Patienten liiert? Mit einem Mann, der sich wegen einer retrograden Amnesie von mir behandeln lassen wollte?» Sie tippt mit einem Kugelschreiber mehrmals auf den Kalender, und ihre Stimme klingt plötzlich viel weniger geduldig.

Jetzt spüre ich wieder so ein unangenehmes Bauchgrummeln. Ihre Worte klingen ja gerade so, als wäre ich einer Straftat schuldig! Aber ich reiße mich zusammen, atme tief durch und nicke gleichmütig.

«Und das nennst du: Nichts weiter? Du willst mich wohl für dumm verkaufen!», poltert sie erbost los. «Ich verlange, dass du mir sofort erklärst, was hier gespielt wird. Und versuche ja nicht, dich rauszureden, Antonella Nitsche.» Ihr drohender Zeigefinger kommt mir plötzlich wie ein Lineal vor. «Tessa hat mir nämlich berichtet, dass sie dich mit Herrn Reuther auf der Couch … nun, dass sie euch dort überrascht hat.»

«… angetroffen hat», korrigiere ich selbstbewusst und muss ein Grinsen unterdrücken, als ich mir die Szene vor meinem geistigen Auge in Erinnerung rufe. «Es gab absolut nichts, wobei sie uns hätte überraschen können.»

«Gab es nicht?»

«Nein, Mama, es war völlig harmlos», versichere ich, was zumindest an jenem Tag ja auch der Fall war. «Tessa hat die Situation wohl falsch interpretiert, weil ich … Na ja, weil ich deine Kleider anhatte.»

«Meine Kleider?»

Ist es zu fassen? Sie wiederholt tatsächlich die Worte, um mich dadurch zum Reden zu animieren. Aber mittlerweile kenne ich alle Tricks der Therapeutin. Schließlich habe ich mich in der Rolle selbst gut geschlagen.

«Ich wollte einfach mal wissen, wie es sich anfühlen könnte … ähm … deine Nachfolgerin zu sein», gestehe ich die halbe Wahrheit.

Mama schweigt überraschend. Eine Antwort oder Frage bleibt aus. Entweder ist sie total überwältigt von meinem plötzlichen Interesse, oder sie glaubt mir nicht. Ihrer professionell-neutralen Miene ist leider nicht die geringste Emotion zu entnehmen.

«Ich meine, du predigst doch immer, dass ich mich für diesen Beruf interessieren sollte», lege ich noch eins drauf. «Na ja … und du kennst doch die Redensart, dass Kleider Leute machen, und da wollte ich –»

«Aha!» Ein Ruck geht durch ihren Körper. «Und da wolltest du Herrn Reuther mal als Versuchskaninchen benutzen.»

«Natürlich nicht», wehre ich entrüstet ab. «Es war …» Ich erinnere mich, wie verblüfft ich war, Ben an jenem Tag an der Tür zu sehen. Und plötzlich weiß ich, was ich Mama erzählen kann, ohne sie anlügen zu müssen. «Ben und ich kannten uns bereits, bevor er sich bei dir angemeldet hat. Ich hatte dir nur noch nichts von unserer … ähm, von unserer Beziehung erzählt. Weil wir … na ja, weil wir noch nicht so lange zusammen sind.» Das ist nicht nur wahr, sondern auch eine absolut plausible Erklärung. Ich blicke Mama mit stolzgeschwellter Brust an.

Sie stutzt, und plötzlich steht ihr das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. «Ist er etwa auch Yogalehrer?»

Ob sie sich Ben bereits als Schwiegersohn ohne anständigen Beruf vorstellt?

«Nein, nein», sage ich schnell. «Ben ist Besitzer einer großen Fitnesskette mit neun Filialen, unter anderem auch in Stuttgart, Hamburg und Frankfurt.» Dass er gleichzeitig auch mein ärgster Konkurrent ist, braucht Mama ja nicht zu wissen.

«Soso … Fitnesskette», murmelt sie vor sich hin. «Und davon kann man leben?»

Ich nicke eifrig und bemühe mich um einen ernsthaften Gesichtsausdruck. «Er hat übrigens darauf bestanden, diesen opulenten Strauß für dich zu bezahlen.»

«Sehr aufmerksam von ihm.» Verlegen schiebt sie ihre Brille auf der Nase zurecht. «Wie dem auch sei, es geht mich im Grunde ja auch gar nichts an, was dieser junge Mann beruflich treibt.» Offensichtlich erinnert sich Mama wieder an ihre guten Manieren. «Was mich aber sehr wohl etwas angeht, ist deine Anmaßung, dich hier als Therapeutin aufzuspielen, Antonella.»

Durchatmen.

Und keine Panik!

«Wie kommst du denn auf so eine absurde Idee?», frage ich und lache bemüht herzhaft, um Mama zu verunsichern. «Ich hatte wirklich nur deine Kleider an, um einen guten Eindruck bei deinen Patienten zu machen. Ich würde aber niemals wagen –»

«Verkauf mich nicht für blöd, Antonella», fällt sie mir unwirsch ins Wort.

«Ich meine ja nur … Also, ich muss gestehen, dass ich deinen Beruf inzwischen mit anderen Augen betrachte», beeile ich mich zu erklären, um sie vorerst wieder zu beruhigen. «Ich … Ich könnte mir sogar durchaus vorstellen –»

«Bist du dir sicher?», unterbricht mich Mama mit freudigem Strahlen. «Das wäre ja … Ich meine, du könntest dir wirklich vorstellen, als Therapeutin zu arbeiten?»

«Ähm …» Huch! Da bin ich wohl ein wenig übers Ziel hinausgeschossen.

«Nelly, das wäre ja phantastisch!»

Nelly? Mama stottert und nennt mich Nelly?

Ein denkwürdiger Tag.

«Nicht so schnell», stoppe ich ihre Euphorie. «Ich finde manches daran wirklich interessant. Was mir Ben über seine Amnesie erzählt hat … ähm … Bei einem privaten Gespräch in einem Restaurant», erkläre ich eilig, damit sie nicht wieder auf dumme Gedanken kommt. «Und was ich in deiner Abwesenheit so beim Blättern in den Fachbüchern gelesen habe … Also, bislang dachte ich ja immer, man müsse sich nur endlose Monologe von unglücklichen Menschen anhören, aber anscheinend ist die Thematik … na ja, sehr viel umfassender. Und für Bens Geschichte interessiere ich mich natürlich besonders.»

Mama hört mir aufmerksam zu und sieht mich mit großen Augen an. «Ja, die Amnesie ist wirklich ein höchst spannendes Feld. Wenn du willst, können wir das bei Gelegenheit gerne vertiefen … Ich bin auch schon sehr gespannt auf den Patienten.»

Hilfe!

Offensichtlich glaubt sie, Ben würde nach wie vor eine Therapie benötigen.

«Du meinst Ben?»

«Aber ja», antwortet sie irritiert und blättert in ihrem Kalender. «Zurzeit ist Ben Reuther mein einziger Amnesie-Fall.»

Wenn mir nicht sofort ein plausibler Grund einfällt, warum sich Ben nicht mehr behandeln lassen will, fliegt meine Schwindelei doch noch auf.

«Also da wäre … ähm, da wäre noch ein kleines Problem», beginne ich vage und rutsche unruhig auf meinem Stuhl hin und her, als würde ich auf einem Nadelkissen sitzen. «Es gibt da noch etwas, was du wissen solltest.»

«Oh, verstehe», entgegnet Mama zu meiner größten Überraschung.

Wie? Was versteht sie?

Keine Panik, sage ich mir und besinne mich auf mein Talent als Therapeutin. Ich wiederhole einfach ihre letzten Worte und formuliere sie als Frage: «Du verstehst also?»

«Aber natürlich», versichert sie, «Ben möchte sich nicht von der Mutter seiner Freundin behandeln lassen. Er befürchtet Peinlichkeiten, weil intime Dinge zur Sprache kommen könnten. Das verstehe ich natürlich.»

Sie nickt mir verständnisvoll zu, und ich will schon erleichtert aufatmen, als sie noch hinzufügt: «Ich werde ihn einfach an einen renommierten, männlichen Kollegen verweisen, und schon ist das Problem gelöst.»

Mir entfährt ein langer Seufzer.

«Schon gut, Nelly, ich verstehe die Situation voll und ganz», bestätigt sie erneut. «Deine Sorge ist unnötig. Und auch mein anderes Angebot steht nach wie vor.»

Arrrgh! Was kommt denn jetzt noch? Es ist zum Haareraufen!

Mama blickt mich eindringlich an. «Sobald du dich zu einem Studium einschreibst, begleiche ich deine Schulden.»

«Ähm … danke, Mama. Ja, ich werde darüber nachdenken», verspreche ich und bin heilfroh, dass ich für die ausstehende Miete erst mal den Scheck von Jeanette Krüger habe.

Aber jetzt nichts wie raus hier. Und zu Ben.