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«Und wie sollen wir das herausfinden?» Erwartungsvoll hebt Britta die Augenbrauen.

«Vielleicht sieht dieser Typ neben Vera meinem Ben ja nur ähnlich», mutmaße ich und ernte dafür einen skeptischen Blick. «Also, du bestellst diesen Fritz Möller hierher, und ich verabrede mich mit Ben zur selben Zeit in Mamas Praxis.»

«Und weiter?»

«Wenn es ein und dieselbe Person ist, muss er sich entscheiden: Karriere oder Liebe …»

«Du bist gar nicht so verpennt, wie du immer tust», grinst Britta, während wir die Telefonnummern vergleichen.

Britta hat eine Festnetz- und eine Handynummer, ich nur Bens Handynummer zu bieten. Wie wir feststellen, sind die Mobilnummern zwar nicht identisch. Aber Ben benutzt ja auch zwei Handys.

Britta erreicht Fritz Möller, und als sie von einer großen Rolle spricht, sagt er erfreut zu.

Jetzt bin ich dran.

Um bei diesem heiklen Telefonat ungestört zu sein, verziehe ich mich in mein Zimmer. Auf gar keinen Fall möchte ich von Brittas fragendem Blick gestört werden. Denn wenn ich ehrlich bin, habe ich einen riesigen Bammel vor dem Gespräch.

Als habe Ben nur auf meinen Anruf gewartet, meldet er sich nach dem ersten Klingelzeichen.

«Nelly! Endlich …», haucht er erfreut, noch bevor ich etwas sagen kann. «Wie schön …» Seine Stimme klingt unsicher. Hastig spricht er weiter. «Ich bin so froh, dass du anrufst, Nelly.»

«Ich hab den Brief gelesen», beginne ich unverfänglich.

Er räuspert sich verlegen. «Dann hast du sicher bemerkt, dass ich ein ganz miserabler Schreiber bin. Aber ich war so verzweifelt und wusste nicht, wie ich dich erreichen kann. Na ja … und da schien mir ein Brief die letzte Möglichkeit zu sein.»

Seine Nervosität berührt mich. Und plötzlich ist es gar nicht mehr leicht, cool zu bleiben und ihm nicht sofort zu gestehen, dass es mir im Grunde genauso ergeht.

«Ich hab mir überlegt, ob wir das nicht in einem Gespräch …»

«Wirklich?» Bens Frage folgt ein erleichterter Seufzer.

«Ja, ich meine … Wir sind doch erwachsen, und es ist kindisch, den Kontakt einfach abzubrechen, nur weil … weil vielleicht eine unglückliche Verkettung von Umständen … oder Schicksal … oder wie immer man es nennen möchte …»

Meine Güte, was rede ich denn da für einen Schwachsinn? Ein Glück, dass er mein glühendes Gesicht nicht sehen kann!

«Ähm, würde es dir heute noch passen?», frage ich schnell.

«Jederzeit, Nelly, wann und wo du möchtest.» Bens Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen.

«Auch um fünf?»

Wieder erhalte ich seine Zusage ohne die kleinste Verzögerung. «Um fünf, um sechs, jetzt sofort, wann und wo auch immer.»

«Prima. Wir wäre es dann, wenn wir uns in der Praxis treffen? Also, ähm, wenn du nichts dagegen hast», füge ich noch höflich an.

«Natürlich nicht. Die Praxis ist für mich der … äh, romantischste Ort, den ich kenne … Na ja, du weißt, wie ich das meine.»

Natürlich weiß ich, worauf er anspielt. Aber so leicht will ich es ihm auch nicht machen. «Dann sehen wir uns also um fünf», verabschiede ich mich absichtlich etwas förmlich.

«Ja, bis um fünf», flüstert Ben. «Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen.

 

Bereits eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit betrete ich die Räume von Mamas Praxis und bin einem Nervenzusammenbruch gefährlich nahe. Nur gut, dass Phillip nicht da ist. Der hätte mir gerade noch gefehlt!

Den Kopf auf die Arme gestützt, sitze ich in meinem weißen Kleid am Schreibtisch und versuche, mit geschlossenen Augen meinen flatternden Atem zu normalisieren. Vor Anspannung bestehe ich praktisch nur noch aus wildem Herzklopfen. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Aber ich muss unbedingt verhindern, dass mich Ben in diesem Zustand antrifft.

Es dauert eine ganze Weile, bis ich dank Meditationsübungen und leisem Summen endlich ruhiger werde. Mein Atem wird gleichmäßiger.

Plötzlich reißt mich das Klingeln meines Handys aus den Gedanken. Auf dem Display sehe ich Brittas Nummer.

«Fritz … ist hier», erklärt sie stockend.

«Wie spät ist es?», frage ich und schrecke zusammen. War Ben etwa vor mir hier? Oder habe ich sein Klingeln nicht gehört?

«Es ist Viertel nach fünf. Fritz war überpünktlich», entgegnet Britta, und es klingt beinahe entschuldigend.

Mir ist, als würde der Boden unter mir schwanken. Hat Ben sich also doch gegen mich entschieden?

«Hat er eine kleine Narbe auf der Stirn?», frage ich mit dem letzten Funken Hoffnung.

«Ach so, die Narbe … Moment. Da muss ich erst nachsehen.»

Es rauscht und knistert in der Leitung, und ich höre nur undeutlich, wie Britta etwas zu ihrem Besucher sagt. Kurz danach wendet sie sich wieder an mich. «Nee, die ist glatt wie ein Pfirsich.»

«Danke», höre ich eine relativ hohe Männerstimme im Hintergrund antworten. «Da is aber keen Botox drin, wenn de dat denkst.»

Keine Narbe!?

Die Bedeutung dieser Nachricht erreicht mein Bewusstsein erst nach Sekunden.

Tja, da hat die Schlampe also geschlampt. Sie hätte besser mit Photoshop arbeiten sollen, dann wäre ihr Plan vielleicht aufgegangen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich jemals so erleichtert war. Ich könnte jubeln. Aber vorher muss ich noch etwas anderes herausfinden.

«Gib mir den Statisten mal», bitte ich meine Freundin.

«Eine Kollegin möchte dich gerne etwas fragen», höre ich Britta sagen. Dann raschelt es wieder.

«Möller», meldet sich die quäkende Stimme, die überhaupt nicht an die von Ben erinnert.

«Nelly Nitsche hier. Ich hätte da ein paar Fragen zu den Fotos bei Facebook.»

«Jau. Danach hat mich Ihre Kollegin och schon jefragt.»

«Ja, also, wie kommt es denn, dass –»

«Die sind jut, wa?»

Volltreffer! Fritz ist also auf den Fotos und nicht Ben.

«Eigentlich interessiere ich mich aber für Ihre Partnerin, diese Vera», erkläre ich.

«Ach, sooo is det.» Fritz Möller schnauft enttäuscht. Anscheinend glaubt er, ich wolle Vera engagieren. «Sie is aber keene Schauspielerin, wenn Se det wissen wollen.»

«Dann ist sie einfach nur eine Freundin von Ihnen?», hake ich nach und muss mich sehr zusammenreißen, um ihn nicht zu sehr zu bedrängen. Schließlich hat er keinen Grund, Einzelheiten über private Fotos zu verraten.

«Nee. Sie hat mir engagiert und –»

«Engagiert?» Mann, das wird ja immer bunter.

«Also det war so», erklärt er bereitwillig. «Ick hab ihr uff ’ner Fete bei Desiree Engel jetroffen und erzählt, dat ick beim Film arbeite. Weil se mir immer so komisch anjeglotzt hat. Als würde sie mich irgendwoher kennen. Uff einmal wollte se, det ick ihr eenen Jefallen tu. Sie würde och ’ne Kleinigkeit springenlassen.»

Aha! Plötzlich ahne ich, was Vera mit den Fotos beabsichtigte. Ob sie Fritz nur mit Geld geködert oder ihm auch etwas über ihre schändlichen Motive verraten hat?

«Sie hat also Bilder von Ihnen gemacht?», hake ich nach. «Hat sie Ihnen denn auch erklärt, wofür?»

«Nee, aber mein Typ is die sowieso nich. Zu alt und dann … na ja, die ist janz schön bekloppt.»

«Ach, tatsächlich?» Ich unterdrücke ein gehässiges Lachen und versuche, Fritz Möller zum Weiterreden zu motivieren.

«Na, wer in eener komplett weißen Wohnung lebt, der iss doch och komplett überjeschnappt, oder? So wat hab ick überhaupt noch nie jesehen. Allet weiß und nich ein Staubkorn zu sehen. Ick hab mir jefühlt wie in ’ner antiseptischen Kühltruhe», berichtet er bereitwillig und prustet noch ein «Brrr» in den Hörer.

Nun kann ich ein befreites Lachen nicht mehr unterdrücken. «Danke, Fritz, Sie haben mir wirklich sehr geholfen.»

«Schon jut. Aber wat iss nu mit der Filmrolle?», nörgelt er ungehalten.

«Oh … Darüber weiß meine … ähm, meine Kollegin besser Bescheid», wimmle ich ihn ab und beende das Gespräch. Britta wird sich schon rausreden können.

Puh! Diese Vera muss ja wirklich komplett durchgeknallt sein. Vielleicht sollte sie sich in therapeutische Behandlung begeben. Einen Typen für diese Fotos zu engagieren, um … Ja, warum eigentlich? Sie konnte doch nichts von Bens Amnesie wissen, oder? Ist es also ein Fall von Geltungssucht? Wollte sie mit den Bildern einfach nur angeben? Und als sie gemerkt hat, dass Ben … nun, dass er Probleme mit seiner Erinnerung hat … Wollte sie da die Gelegenheit ergreifen und vortäuschen, sie wären tatsächlich ein Paar?

Ob ich jemals eine Antwort auf diese Frage erhalte?

Hauptsache, Ben hat mich nicht belogen! Na ja, ein kleines bisschen hat er das schon getan. Aber das verzeihe ich ihm. Wahrscheinlich wollte er wirklich auf den richtigen Moment warten, um mir von seiner Fitnesskette zu berichten. Schließlich kannten wir uns ja noch nicht, als er seinen Sportclub in Moabit eröffnet hat.

Aber wo bleibt er denn eigentlich?

Sofort weicht mein Glücksgefühl wieder der bangen Frage, wo er steckt. Es ist bereits halb sechs. Er müsste doch längst hier sein.

Ich versuche, ihn telefonisch zu erreichen. Doch eine Computerstimme verrät mir, dass der Anschluss zurzeit nicht erreichbar sei. Ob ihm etwas zugestoßen ist?

Ungeduldig drücke ich auf Wahlwiederholung.

Nichts.

Nach unzähligen, erfolglosen Versuchen bin ich schweißgebadet. Inzwischen ist es fast sechs, und immer noch gibt es kein Lebenszeichen von Ben. In meiner Panik sehe ich ihn blutend auf der Straße liegen und vergeblich nach Hilfe rufen. Dann taucht vor meinem geistigen Auge eine Szene auf, wie diese Wahnsinnige ihn in ihrer Eiswohnung gefangen hält.

Aus lauter Verzweiflung greife ich nach Mamas Notfall-Scotch, den sie in ihrem Schreibtisch verwahrt. Das erste Glas trinke ich in einem Zug aus. Als ich mir ein zweites genehmige, klingelt es an der Tür.

Ben!

Mit dem Glas in der Hand sause ich den Flur entlang und reiße die Tür auf.

«Endlich!», rufe ich erfreut, doch mein Strahlen erlischt sofort.

«Nelly?» Es ist Tante Tessa, die vor der Tür steht.

«Äh … Was machst du denn hier?», stottere ich verblüfft.

«Ich habe Ella aus dem Sanatorium geholt», erklärt sie verwundert und lässt Mamas Reisetasche fallen.

Mist. Über der ganzen Aufregung hab ich tatsächlich vergessen, dass Mama heute zurückkommt.

«Wo ist sie denn?», frage ich panisch.

«Sie kümmert sich um diesen armen Mann, der im Fahrstuhl eingeschlossen ist.»

Ben!

«Sie versucht, ihn nach allen Regeln der Therapeutenkunst zu beruhigen», fährt Tessa fort. «Sie hat was von einer Notrufnummer erzählt, die in ihrem privaten Telefonbuch verzeichnet ist. Ich geh mal suchen», verkündet sie und will sich an mir vorbei Richtung Sprechzimmer drängen.

Eilig drücke ich ihr mein Glas in die Hand und stürme los. Weitere Erklärungen sind jetzt sowieso unnötig. Ben sitzt gefangen im Aufzug fest.

Viel schlimmer aber ist, dass er von Mama bewacht wird. Eine Katastrophe!