«Nelly, meine süße Nelly mit dem krausen Gehirn», flüstert Ben mir immer wieder zärtlich ins Ohr. «Ich kann dir gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, dass ich mich wieder erinnern kann. Der heiße Kaffee … Das Verschütten … Und als ich dich dann beim Haarezwirbeln beobachtet habe … Plötzlich war alles wieder da. Als hättest du mich aus einem schwarzen Loch befreit.»
«Ach, Ben», seufze ich selig, kuschle mich in seine Arme und erkläre Kaffee ab sofort zu meinem Lieblingsgetränk.
Wir liegen auf der roten Couch und blicken uns erschöpft in die Augen, denn das Möbelstück wurde soeben eingeweiht. (Entweiht, würde Mama vermutlich toben, wenn sie davon erführe. Was nie der Fall sein wird. Es sei denn, sie findet heraus, warum eine Flasche Prosecco aus ihrem Kühlschrank fehlt.)
Ben zählt die Sommersprossen in meinem Gesicht und bedeckt alle siebzehn mit einem zärtlichen Kuss. Dann fischt er seine Hose vom Boden, kramt nach seinem iPod und fotografiert uns Wange an Wange.
«Damit ich dich nie mehr vergesse, meine süße Nelly», erklärt er und speichert das Foto als Hintergrundbild.
«Aber eines verstehe ich immer noch nicht», wende ich ein. «Was hat es mit dieser ominösen Kaffeegeschichte auf sich?»
«Nun, ich war bei Vera in der weißen Eishöhle und dachte, wir würden uns endlich aussprechen. Aber sie fing an, von Liebe zu reden und von Hochzeit. Da bin ich irgendwann verzweifelt aufgesprungen und habe dabei aus Versehen Kaffee auf ihr heiliges weißes Sofa verschüttet.» Ben richtet sich auf und fährt sich durchs Haar. «Das war für sie schlimmer als eine Tsunami-Katastrophe. Ihre vorher so sanfte Stimmung wechselte von Weiß auf Schwarz, wenn du so willst. Sie schrie und tobte, und nichts konnte sie beruhigen. Kein versöhnliches Angebot, das Sofa reinigen zu lassen oder zu ersetzen. Und schon gar keine Entschuldigung. Sie hörte einfach nicht auf, zu schreien und zu zetern …» Ben stockt.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie er sich mit der Hand über die Augen fährt, als könne er die scheußliche Erinnerung wegwischen.
«Das war sicher ein traumatisches Erlebnis», stelle ich leise fest und küsse ihn zärtlich auf die Wange.
«Ja, ich wollte nur noch weg und bin völlig panisch aus der Wohnung gerannt.»
«Und dann?»
«Tja, leider endet meine Erinnerung an diesem Punkt. Da klafft immer noch ein großes, dunkles Loch.» Er sieht mich mit großen Augen an. «Vermutlich bin ich auf meiner Flucht gefallen oder habe mir irgendwo den Kopf angeschlagen. Meine Erinnerung setzt jedenfalls erst wieder am nächsten Tag ein, als ich in meinem Bett aufgewacht bin. Es war bereits Mittag, ich hatte grausame Kopfschmerzen und einen riesigen blauen Fleck auf der Stirn.» Erschöpft bricht er ab und reibt sich den Kopf, als könne er den Schmerz immer noch spüren.
Wie im Lehrbuch oder wie in dem Beispiel von Mama, denke ich: ein traumatisches Erlebnis in Verbindung mit einem Unfall.
«Das muss die Amnesie ausgelöst haben», erkläre ich fachmännisch.
«Ja, wahrscheinlich hast du recht.»
«Dann fand dieses Kaffee-Unglück bei Vera also genau an dem Tag statt, als wir zum Mittagessen verabredet waren?»
«Ja. Wie ich nach Hause gekommen bin, ist mir leider immer noch rätselhaft. Könnte sein, dass ich stundenlang durch die Stadt geirrt bin. Jedenfalls hatte ich diese tierischen Kopfschmerzen und keine Ahnung, woher. Außer dem blauen Fleck hatte ich ja keine sichtbaren Verletzungen. Deshalb schien mir als einzige Erklärung ein ausgedehnter Kneipenbummel mit einem totalen Filmriss plausibel.»
«Dabei hättest du gleich zu einem Arzt gehen sollen.» Ich reime mir aus meinem rudimentären Lexikon-Wissen eine Diagnose zusammen. «Veras überzogener Ausraster wegen ein bisschen verschütteten Kaffees im Zusammenhang mit der verhängnisvollen Affäre ergab eine traumatische Situation, die dein Unterbewusstsein nach dem Aufprall in die hinterste Erinnerungsecke verdrängt hat.»
«Aha», murmelt Ben. «Na, du bist die Expertin, Frau Doktor, oder?»
«Na ja … nicht wirklich.» Ich stocke. «Es gibt da etwas, das ich dir unbedingt sagen muss. Also, es ist nicht ganz einfach … und ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.»
«Solange es nichts mit Eishöhlen oder Kaffeeflecken zu tun hat, bin ich gespannt.» Ben grinst breit.
Ich atme mehrfach tief durch und gebe mir schließlich einen Ruck. Nach und nach erkläre ich ihm, wie traurig ich war, dass er zu unserer zweiten Verabredung nicht aufgetaucht ist, und wie überrascht ich war, ihn plötzlich vor der Tür meiner Mutter zu sehen.
Schweigend hört sich Ben die Geschichte an, wie ich zu Ella Nitsche wurde.
«Dann bist du also gar keine Therapeutin?», fragt er schließlich.
«Nein», erwidere ich kleinlaut.
«Aber wieso hast du das Missverständnis nicht sofort aufgeklärt und mir gesagt, wer du wirklich bist?», fragt er, und seine Stimme klingt fast ein wenig vorwurfsvoll. «Möglicherweise hätte das meinem Gedächtnis doch schneller auf die Sprünge geholfen.»
«Ja, vielleicht, aber ich war einfach nur sprachlos, als du plötzlich vor mir standest. Bis zu jenem Tag kannte ich ja nur deinen Vornamen. Im ersten, verwirrenden Moment dachte ich sogar, du hättest mich gesucht … Total abwegig, ich weiß. Aber dann wurde mir klar, dass du der geheimnisvolle Patient «Reuther» bist, unter Amnesie leidest und die Yogalehrerin Nelly sowie unseren gemeinsamen Abend vergessen hast. Ich wollte dir unbedingt helfen. Und auf gar keinen Fall wollte ich dich wieder verlieren.»
«Und darüber bin ich sehr froh», erklärt Ben so nah an meinem Ohr, dass es kitzelt.
«Hast du die Schneekönigin nach diesem Flecken-Drama eigentlich nochmal wiedergesehen?», frage ich ernsthaft besorgt. Ich kann immer noch nicht glauben, dass ich meinen Traummann zurückhabe.
«Bis jetzt nicht. Und ich bin auch nicht besonders scharf darauf», stöhnt Ben gequält. «Meine Geschäftsreisen werde ich vorerst mit der Bahn erledigen, wie du mir geraten hast. Dann kann mir eigentlich nichts passieren.»
«Solange sie nicht auf Zugbegleiterin umschult», flachse ich.
Ben greift meinen launigen Ton auf. «Aha, sonst müsstest du mich noch weiter therapieren?»
«Ach was, du bist doch längst geheilt», verbessere ich mit gespielter Strenge. «Zumindest kannst du dich an uns erinnern, und nur das zählt.»
«Du hast dich als Therapeutin jedenfalls sehr gut gemacht.»
«Tja, weißt du, ich stelle mir ein Gehirn immer als Schachtel vor, in der die Gedanken und Erlebnisse je nach Wichtigkeit geordnet sind.» Keine Ahnung, woher ich diesen Vergleich gerade nehme, aber Ben gegenüber habe ich keine Scheu, meine krausen Ideen auszubreiten. «Alles Unwichtige wird ganz unten einsortiert, also verdrängt und vom Wichtigen überdeckt. Und besonders unangenehme oder eben traumatische Erlebnisse –»
«Ach, Ella, meine Lieblingstherapeutin», seufzt Ben und küsst mich sanft aufs Ohr. «Nelly sollte wirklich umsatteln. Denn von einer rothaarigen Expertin mit krausem Gehirn therapiert zu werden ist wirklich eine First-Class-Seelenmassage mit Spaßeinlagen.»
Ich knuffe ihn liebevoll in die Seite. «Schon möglich», gebe ich geschmeichelt zu. «Aber ich habe bereits einen tollen Beruf, den ich sehr liebe.»
«War ja auch nur so eine Idee …» Ben drückt mich fest an sich. «Du wärst einfach eine hervorragende Therapeutin, dafür verwette ich meine Firma.»
«Den Getränkehandel?»
Ben zieht die Stirn kraus.
«Ach, komm schon», necke ich ihn, «wer seinen Kühlschrank mit Smoothies vollstopft, um das Zeug für die Kundschaft zu testen, der liebt seinen Beruf über alles, wage ich mal zu behaupten.»
«Du glaubst also, dass ich ein leidenschaftlicher Typ bin, der Fruchtsaft verkauft?», fragt er irritiert.
«Ein leidenschaftlicher Getränkehändler», korrigiere ich.
«Auf jeden Fall ein leidenschaftlicher Typ.»
Ben rollt sich auf mich und beendet die Unterhaltung mit einem langen Kuss.