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Nach der letzten Poweryogastunde kann ich es kaum erwarten, Ben wiederzusehen. Unter der Dusche sehe ich ihn vor mir: seine grünen Augen, das Lächeln und wie er «Bis heute Abend, Nelly» zu mir gesagt hat. Trotz des heißen Wassers jagt mir die Erinnerung einen Schauer über den Körper.

Allmählich leert sich auch das Studio, und um zwanzig nach acht bin ich allein. Nervös verschanze ich mich hinter meinem Tresen, schiebe die ungeöffnete Post von einer Ecke in die andere, nestle an den Stundenplänen herum und fixiere die große runde Bahnhofsuhr an der Wand hinter mir. Als die Zeiger auf zwanzig vor acht rücken, fange ich an zu grübeln. Er wird mich doch nicht versetzen?

Als ich zum x-ten Mal vor den Spiegel in der Umkleide laufe, um meine sowieso nicht zu bändigende Frisur zu überprüfen und mir noch einen Tropfen Daisy hinters Ohr zu tupfen, vernehme ich endlich seine Stimme.

«Nelly?»

Er ist da! Ich hab’s gewusst! Ben gehört nicht zu diesen unzuverlässigen Typen, die Frauen nur so aus Jux anmachen, um zu testen, ob sie jede kriegen könnten.

Aufgeregt, wie ich bin, muss ich mich zu einem gemäßigten Schritttempo ermahnen. Ich bin doch keine notgeile Tussi, die einem Mann gleich am ersten Abend ihre Liebe erklärt und eindeutige Zugeständnisse verlangt.

Ein letztes Mal zupfe ich die Spaghettiträger meines geblümten Sommerkleids zurecht, verknote die rosa Strickjacke um die Hüfte und biege langsam von den Duschräumen zum Eingang.

Ben wartet mitten in dem kleinen Vorraum und strahlt, als er mich kommen sieht. Er trägt eine schmalgeschnittene, schwarze Hose, dazu ein schwarzes Hemd mit roten Punkten, dessen Ärmel aufgekrempelt sind, und schwarze Turnschuhe mit roten Schnürsenkeln. Sein Haar ist unverändert wuschelig, wirkt aber frisch gewaschen, und das markante Kinn ist glatt rasiert.

«Hi.» Lächelnd schreite ich auf ihn zu.

«Hi, Nelly.»

Einen sehnsüchtigen Augenblick lang hoffe ich, er würde sich vorbeugen, um mir ein Begrüßungsküsschen zu geben. Doch er streckt mir nur die Hand entgegen.

«Du siehst zauberhaft aus.»

Meine Knie werden weich, als ich die Wärme seiner Hand spüre und seinen herbfrischen Duft einatme.

«Danke», flüstere ich verlegen. «Schickes Hemd.»

Ben scheint meine Nervosität nicht zu bemerken. «Bitte entschuldige die Verspätung. Normalerweise bin ich eher überpünktlich. Aber ich musste noch einen Anruf mit …» Er stockt. «Äh, leider hat das Gespräch länger gedauert.»

Ich ahne sofort, dass Ben mit einer Frau telefoniert hat. Aber wieso habe ich den Eindruck, dass ihm das unangenehm ist?

«Hast du auch ordentlich Hunger?», fragt er.

«Und wie!», platze ich wie ein Kind heraus und spüre, dass ich rot werde. Zu sagen, dass ich abends immer Riesenportionen verdrücke, kann ich mir gerade noch verkneifen.

«Super.» Er sieht tatsächlich begeistert aus. «Ich hatte schon befürchtet, du wärst …» Er stockt erneut.

«Du meinst, weil ich so schlank bin, esse ich nichts?»

Er grinst verlegen. «So ähnlich.»

«Da musst du keine Bedenken haben», erwidere ich. «Diäten sind nichts für mich. Mit Essen kannst du mich immer kriegen … ähm …» Also nicht, dass er das jetzt missversteht! Hastig versuche ich die Situation durch eine Erklärung zu retten. «Wenn ich Yoga unterrichte, bin ich danach immer sehr hungrig. Außerdem esse ich einfach gerne.»

«Na, dann los», fordert Ben mich auf und blinzelt mich lächelnd an. «Was hältst du von Mädchen ohne Abitur?»

«Hm … Tja, also, wer einen akademischen Beruf anstrebt, braucht sicher Abitur, aber mit meinen Noten würde ich trotzdem keinen Studienplatz bekommen.»

«Ich spreche von dem Restaurant in Kreuzberg. Das heißt Mädchen ohne Abitur.» Seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, amüsiert Ben sich. «Hat mir ein Freund empfohlen. Soll super sein.»

«Äh, weiß ich doch», behaupte ich grinsend, als wäre das mein Stammlokal. Dabei habe ich in Wahrheit noch nie davon gehört. Irgendwie traue ich mich auch nicht mehr, eine Einladung zu mir nach Hause auszusprechen. Zwar liegen da die leckersten Zutaten bereit, aber eigentlich ist es mir sogar lieber, einen wildfremden Mann nicht beim ersten Date in meinen vier Wänden zu haben – auch wenn er so attraktiv ist wie Ben.

 

Das kleine Lokal gefällt mir auf Anhieb. Dunkle Holztische für zwei oder vier Personen und bequeme Lederstühle vor rottapezierten Wänden. Die verspielten Wandlampen verbreiten gedämpftes Licht, das meine romantische Stimmung verstärkt.

Ich bin erstaunt, dass Ben dieses Lokal ausgesucht hat. Normalerweise bevorzugen Männer doch eher die coolgestylten Läden. Ob er etwas mit Kunst zu tun hat? Künstler tragen doch auch vorwiegend Schwarz, oder ist er etwa 

Huch!

Er wird doch nicht schwul sein?, schießt es durch meine krausen Gehirnwindungen. Das wäre auch eine Erklärung für seine weibliche Ader.

«Ein wirklich schräger Laden, oder?», bemerkt Ben, der meine Verunsicherung offensichtlich gespürt hat.

Ich studiere angestrengt die Speisekarte, auf der zu lesen ist, dass das Mädchen ohne Abitur im Jahr 1956 von der Schauspielerin Rosita di Capri gegründet wurde. Mit bürgerlichem Namen hieß sie Doris Bullenberg. Verständlich also, dass sie sich ein glamouröses Pseudonym verpasste.

Als ich bei den Gerichten angelangt bin und im Stillen die Preise überschlage, bleibt mir die Spucke weg. Der Sparschwein-Fünfziger, den ich zu Hause auf meinem Küchentisch wiedergefunden habe, reicht gerade mal für zwei Hauptgerichte mit Getränken. Sollte Ben aber auch noch eine Vorspeise und ein Dessert bestellen wollen, werde ich wohl Teller spülen müssen.

«Du bist natürlich mein Gast», dringt Bens Stimme in meine panischen Überlegungen.

Er kann wirklich Gedanken lesen! Und so ein Traummann läuft frei rum? Kaum zu glauben. Aber da sich unsere Wege nun mal gekreuzt haben, hoffe ich, dass Fortuna mir auch weiterhin helfen wird.

«Dann lass mich aber wenigstens die Drinks bezahlen», antworte ich. «Irgendwie muss ich mich doch bei dir für deine Spontanhilfe im Supermarkt bedanken.»

«Okay», sagt er schmunzelnd. «Einladung angenommen. Für einen Absacker in einem Club später. Und jetzt verrate mir, worauf du Appetit hast.»

Er sieht nicht nur aus wie ein Traummann, er benimmt sich auch noch so, stöhne ich lustvoll in mich hinein und widme mich schnell wieder der Speisekarte, auf der so exotische Bezeichnungen wie Verschollen in Rio, Flammendes Inferno oder Abends in der Mondscheinallee zu finden sind. Dahinter verbergen sich Fischfilet in Kokosmilch, Thaicurry mit Garnelen und Brotkuchen mit Vanillesauce.

«Hm, ich schwanke zwischen Rio und Inferno», erwidere ich und verschweige lieber, dass ich ohne weiteres beides verdrücken könnte. Sonst denkt Ben noch, ich wäre verfressen.

«Also ich würde am liebsten beides essen», erklärt er.

Jetzt entfährt mir doch ein Seufzer. «Ich auch.»

Ben strahlt mich an. «Dann bestelle ich beides, und wir probieren voneinander.»

Wäre ich nicht sowieso schon hin und weg von diesem gutaussehenden Mann, wäre es spätestens jetzt um mich geschehen. Meiner Meinung nach erkennt man einen Traummann nämlich nicht daran, ob er gute Manieren hat, einen schick ausführt oder mit dicken Geschenken überhäuft. Mein Traummann muss meine geheimsten Wünsche erraten – und zwar genau im richtigen Moment.

Wir bestellen die Hauptgerichte und die Getränke beim Kellner. Ben möchte alkoholfreies Bier und ich ein Mineralwasser. Als wir wieder allein sind, wird er plötzlich ungewöhnlich ernst.

«Seit einem alkoholgetränkten Abend, der traumatisch endete, nehme ich Bier nur noch in homöopathischen Dosen zu mir.»

«Und ich muss morgen wieder unterrichten», erkläre ich meine Abstinenz.

Übereinstimmung in den kleinen Dingen des Lebens soll ja angeblich die beste Voraussetzung für eine glückliche Ehe sein … Stopp!, ermahne ich mich. Wir haben uns noch nicht einmal geküsst. Ach was, geküsst, wir kennen uns gerade mal einen halben Tag!

Nachdem die Getränke serviert wurden, erhebt Ben sein Glas. «Auf eine ganz besondere Frau.»

Ich wollte schon immer etwas Besonderes sein. Aber dass mich Ben dafür hält, macht mich nun doch verlegen. Mit hochrotem Kopf sehe ich ihm beim Anstoßen kurz in die Augen.

«Das ist kein hohler Spruch», erklärt Ben. «Die Taxifahrt hierher eingerechnet, haben wir jetzt über eine halbe Stunde miteinander verbracht, und du hast noch immer nicht die Frage gestellt.»

Ratlos blicke ich ihn an und muss dabei wohl ziemlich naiv aussehen, denn Ben lacht herzhaft. «Du ahnst nicht mal, wovon ich spreche, oder?»

«Nein.» Ich zucke die Schultern, als wäre es mir gleichgültig. Aber selbstverständlich brenne ich darauf, zu erfahren, wovon er spricht.

Ben genehmigt sich erst noch einen Schluck Bier. «Ich meine die Frage: Und was machst du beruflich? Alle Frauen fragen das gleich zu Beginn. Sie wollen möglichst schnell abklären, ob man sie angemessen mit Austern, Kaviar und Trüffel füttern kann. Oder ob sie sich auf Dosenfutter einstellen müssen. Aber dich scheint Geld nicht die Bohne zu interessieren, und das finde ich erstaunlich.»

«Stimmt. Ich nehme ja nicht mal welches zum Einkaufen mit», erwidere ich kichernd. «Aber mich interessiert schon, was du machst. Einfach, weil ich gerne alles über dich wissen möchte.» Oje, kam das jetzt zu offenherzig rüber? «Ähm, ich meine, sonst würde ich ja auch nicht hier sitzen … Aber ich bin vielleicht einfach zu schüchtern oder zu gut erzogen, um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen.»

Erstaunt zieht er seine schöngeschwungenen Augenbrauen hoch. «Ein Mädchen aus gutem Haus.»

Mama wäre begeistert, das zu hören. Und von Ben klingt es tatsächlich wie ein Kompliment. Dennoch könnte er es ja auch scherzhaft meinen, und deshalb frage ich etwas provokant: «Mit was für Frauen bist du denn sonst so zusammen?» Darauf kann er jetzt aber nicht ausweichend antworten.

Seine Miene verfinstert sich kurz, und die Narbe auf der Stirn rötet sich. «Ach, das willst du gar nicht wissen», behauptet er ausweichend.

Das will ich wohl! Vor allem will ich aber wissen, ob er eine Freundin hat. Doch bevor ich etwas erwidern kann, wird unser Essen serviert. Also zähme ich meine Neugier.

«Das riecht köstlich!»

«Wer bekommt was?» Ungeduldig balanciert der Kellner die Teller vor sich her. Als wir uns ratlos ansehen, stellt er die Gerichte einfach auf den Tisch und schlägt schmunzelnd vor: «Jut, ihr könnt es ja ausknobeln, wa?»

Ben überlässt mir die Auswahl.

Zu meiner Gemütslage passend, entscheide ich mich fürs Inferno. Und nachdem ich die leckeren Garnelen gekostet habe, stelle ich ihm dann noch eine weitere heikle Frage: «Erinnerst du dich eigentlich nicht an mich?»

Irritiert blickt Ben auf. «Wir sind uns heute Mittag im Supermarkt begegnet.»

«Ja, du warst mein Retter in allerhöchster Not.»

«Jederzeit wieder», scherzt Ben, während er vorsichtig sein Fischfilet zerteilt.

«Danke, sehr beruhigend. Ich lasse dich wissen, wenn ich wieder mal ohne Bargeld shoppen möchte … Aber wir sind uns tatsächlich schon vorher über den Weg gelaufen. Gestern Morgen.»

Ben lässt sein Besteck auf den Teller sinken und sieht mich ungläubig an. «Das wüsste ich.»

«Mein Kühlschrank war leer, und ich wollte was Deftiges frühstücken», beginne ich. «Und da –»

«Und da bist du zur Currywurstbude gegangen, richtig?»

Mir wird ganz warm ums Herz. Er erinnert sich also doch. «Genau. Und zwar zum Curry-Eck, und du warst auch da und hast was gegessen.»

«Tut mir leid», unterbricht mich Ben. «Ich versuche gerade … na ja, mit einem unangenehmen Problem fertig zu werden. Deshalb bin ich zurzeit gedanklich oft total abwesend.»

«Entschuldigung angenommen», erwidere ich und schildere ihm die Situation an der Wurstbude.

«Stimmt», erinnert sich Ben nun. «Ich war gerade dabei, zu telefonieren … Nun, wie gesagt, es war ziemlich unangenehm, und da habe ich meine Umgebung wohl total ausgeblendet.»

«Ist doch nicht schlimm», entgegne ich leichthin. «Ich hatte meine Haare ja auch unter einem Käppi versteckt. Und ohne meine rote Mähne erkennt mich nicht mal meine eigene Mutter.»

«Magst du deine Haare denn nicht?» Ben kann es anscheinend nicht fassen.

«Nicht immer, diese Kräuselwolle ist oft nur schwer zu ertragen», erkläre ich schulterzuckend.

«Also ich mag deine Haare. Ganz besonders, wenn du dir eine Strähne um den Finger wickelst und scheinbar vor dich hin träumst.» Ben schaut mir direkt in die Augen und grinst. «Du weißt, was man über Frauen mit roten Haaren sagt?»

«Krauses Haar, krauses Gehirn, hat meine Großmutter immer gesagt», erkläre ich ablenkend. Denn natürlich weiß ich, dass man Rothaarigen nachsagt, sie wären besonders leidenschaftlich im Bett. Aber ich will nicht, dass unser erstes Treffen in eine schlüpfrige Richtung abrutscht. Na ja, jedenfalls nicht gleich. Ich möchte wenigstens noch aufessen. «Von ihr habe ich die Haare geerbt. Genaugenommen bin ich aber rotblond.»

Offensichtlich hat Ben mein Ablenkungsmanöver durchschaut. «Aha, also eigentlich fast blond», entgegnet er augenzwinkernd. «Und deshalb stehst du dann schon mal ohne Geld an der Supermarktkasse …»

Er sieht nicht nur gut aus, er hat auch noch Humor!

«Nein», erkläre ich schlagfertig, «das ist ein uralter Trick, um reiche Männer kennenzulernen. Der funktioniert aber nur bei rothaarigen Frauen.»

Wir blödeln noch eine Weile so weiter, tauschen irgendwann unsere Teller und unterhalten uns prächtig über dies und das. Zwar verrät Ben im Laufe des Gesprächs tatsächlich kaum etwas über seinen Beruf (nur, dass er für seine Firma geschäftlich viel unterwegs ist und sich ständig auf Flughäfen rumtreiben muss). Aber ich hatte schon lange nicht mehr einen so vergnüglichen Abend. Außerdem ist es ja auch sehr angenehm, dass Ben keiner dieser Typen ist, die den ganzen Abend über sich und ihren ach so wahnsinnig tollen Job monologisieren. Meistens merken die Kerle nicht einmal, dass sie einen mit ihren Vorträgen tödlich langweilen. Noch schlimmer allerdings ist, wenn sie sich die ganze Zeit über die Ex-Freundin auskotzen. Bei Ben bin ich aber so schrecklich neugierig. Ich will unbedingt wissen, ob er Single ist und ich mir Hoffnungen machen darf.

Gerade als ich mir eine entsprechende Fangfrage überlege, piepst sein Handy. Er entschuldigt sich für die Störung, angelt sein iPod aus der Hosentasche und wirft einen kurzen Blick darauf. Wie mir seine zusammengekniffenen Augen verraten, fühlt er sich von der SMS gestört.

Ich weiß, dass Neugier unhöflich ist, aber ich kann mich nicht beherrschen. «Probleme?», frage ich leise.

«Ach», wehrt er unwillig ab und schaltet das Handy aus. «Manche Menschen kapieren einfach nie, wann … äh … wann eine Sache gelaufen ist. Gleich morgen besorge ich mir eine neue Handynummer, dann ist das Problem gelöst.»

Offensichtlich will er nicht darüber sprechen. War das seine Ex? Lange kann ich meine Neugier nicht mehr zügeln. Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass Ben etwas belastet. War mit «Sache gelaufen» eine beendete Beziehung gemeint? Ob er von einer Frau bedrängt wird? Oder hat es vielleicht mit der dicken Geldrolle zu tun, die er im Supermarkt aus der Tasche zog?

Sofort kommt mir ein schrecklicher Gedanke: Er wird doch nicht in irgendwelche krummen Geschäfte verwickelt sein? Drogen?!

Ich spüre, wie mir das Blut in die Wangen schießt und mein krauses Gehirn Purzelbäume schlägt. Drogenhändler sind doch auch viel mit dem Flugzeug unterwegs. Bleibt er deshalb so vage, was seinen Beruf betrifft?

Berlin ist bestimmt ein lukrativer Platz für jegliche Art von Drogen. Wie man inzwischen weiß, dröhnen sich ja nicht nur Künstler und Schauspieler, sondern auch Politiker regelmäßig zu.

Ach du Schreck, bin ich etwa dabei, mich in einen Kriminellen zu verlieben?

«Ist dir nicht gut?» Ben blickt mich aufmerksam an. «Du glühst ja.»

«Ähm … nein», stottere ich. «Das Inferno war wohl doch etwas zu scharf. Aber auch unheimlich lecker», schiebe ich eilig hinterher, damit er nicht denkt, das Essen hätte mir nicht geschmeckt.

«Dann brauchen wir jetzt dringend eine Abkühlung», schlägt er vor und winkt dem Kellner. «In Mitte gibt es ein einen ziemlich coolen Jazz-Club. Da kannst du mir einen Absacker ausgeben.»

Als die Rechnung kommt, zieht Ben wieder einen Packen Scheine aus der Hosentasche.

«Du kannst Kreditkarten wohl nicht leiden?», frage ich und zwirble verträumt eine Haarsträhne um meinen Finger.

Kein Wunder, dass ihn alle Frauen als Erstes fragen, womit er sein Geld verdient. Ist doch eher ungewöhnlich, dass man heutzutage noch so viel Bares mit sich rumschleppt, oder? Und jetzt fallen mir auch seine gepflegten Hände auf. Nach körperlicher Arbeit sehen die jedenfalls nicht aus. Die Chance, dass Ben sein Geld als Surflehrer oder in einem seriösen Beruf wie Schreiner oder Installateur verdient, sind gleich null.

«Aha, du stehst also auf Kreditkarten», stellt Ben scherzhaft fest, bezahlt die Rechnung in bar und legt noch zehn Euro Trinkgeld drauf.

Puh! Das nenne ich großzügig. Oder ist das schon großkotzig? Ich spüre einen Stich in der Herzgegend. Nur eine Idiotin würde nicht merken, dass dieser Mann etwas verheimlicht.

Durchatmen und keine Panik!, ermahne ich mich. Es muss doch eine Möglichkeit geben, ihn ein bisschen auszufragen.

 

Als wir wenig später, jeder mit einer Flasche Bier in der Hand, im b-flat der Jazzmusik lauschen, beginne ich mit der dümmsten Frage aller Zeiten.

«Kommst du oft hierher?»

«Seit einiger Zeit nicht mehr», erwidert Ben knapp. Mehr will er offensichtlich nicht verraten.

«Dabei ist es doch ganz cool hier», werfe ich ein.

«Na ja, um ehrlich zu sein, ist die Musik hier immer ziemlich laut. Wirklich unterhalten kann man sich dabei natürlich nicht.»

Tja, unglücklicherweise ist es hier nicht so voll, dass man zwangsläufig auch miteinander kuschelt, denke ich und nehme noch einen Schluck Bier.

Also bleibt es beim Austausch von Blicken und bei verlegenem Lächeln. Nach einer Weile spielt die Band einen melodischen Blues, und schon bei den ersten Klängen würde ich mich gerne an Bens Schulter schmiegen. Aber ich kann mich ihm ja wohl schlecht so einfach an den Hals werfen. Und ich bin auch keine dieser tollpatschigen Filmdarsteller, die in solchen Momenten grundlos taumeln. Ich werde einen anderen Weg finden müssen.

Vorsichtig trete ich von einem Bein aufs andere und rücke unauffällig näher, bis ich Bens Hemdsärmel auf meiner Haut spüren kann. Als ich gerade überlege, ob ich nicht doch mal eben über meine eigenen Füße stolpern sollte, legt Ben plötzlich seinen Arm um mich und beugt sich zu mir. Sein Gesicht ist ganz nah an meinem Ohr.

«Lass uns abhauen, ja?», flüstert er.

Das tiefe Timbre seiner Stimme kribbelt so sehr in meinem Kopf, dass ich mich beherrschen muss, um nicht zu erwidern: Zu dir oder zu mir?

«Ähm, ja, gern», höre ich mich stattdessen sagen. «Ist sowieso schon spät.»

Auf dem Weg nach draußen dreht sich Ben mehrmals nervös um.

Merkwürdig. Fühlt er sich etwa verfolgt? Wird er beschattet? Von der Drogenmafia? Ist das der Grund, warum er die Kneipe so unvermittelt verlassen will? Oder hat er womöglich genug von mir?

Auf der Straße steht die unausgesprochene Frage nach dem Was-jetzt-und-Wohin? zwischen uns wie eine unüberwindbare Mauer. Und ehe sich mein Traummann von mir verabschieden kann, komme ich ihm zuvor.

«Danke, Ben, das war wirklich ein wunderbarer Abend.»

«Willst du etwa schon nach Hause, Nelly?»

Verwundert sehe ich ihn an. «Ähm, eigentlich nicht, aber ich muss leider.» Irgendwie werde ich nicht schlau aus ihm. «Also wenn ich nicht ausreichend schlafe, fallen mir morgen im Unterricht die Augen zu, sobald ich ein paarmal tief durchatme.»

«Das leuchtet mir ein.» Ben nickt verständnisvoll. Er winkt einem vorbeifahrenden Taxi und besteht darauf, mich nach Hause zu bringen.

Ich lächle ihn verzückt an und sage wohlerzogen: «Danke, gern.»

Auf der Fahrt von Mitte nach Moabit sitzen wir schweigend im Fond. Vielleicht war ich doch zu spröde und zugeknöpft?, überlege ich. Ben sieht ständig aus dem Fenster, beugt sich vor und zurück, als wären wir auf einer Stadtrundfahrt. Ob er enttäuscht ist von mir? Vielleicht hat er sich den Abend ganz anders vorgestellt. Wir leben schließlich in raketenschnellen Zeiten, wo man einen Traummann nicht so einfach von der Bettkante schubsen sollte – wenn er sich überhaupt darauf setzen möchte. Ich kann schließlich nicht behaupten, dass mich die Männer umschwärmen, als wäre ich Germanys next Topmodel. Ich ärgere mich schon, weil ich es vermasselt habe, als Ben plötzlich nach meiner Hand greift und sie liebevoll drückt.

Augenblicklich lasse ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken und seufze. Nicht zu dramatisch, es ist mehr ein sanftes Durchatmen, aber intensiv genug, damit er merkt, wie wohl ich mich neben ihm fühle.

Als der Wagen vor meinem Haus anhält, bittet Ben den Fahrer, er möge noch einen Moment warten. Zuvorkommend steigt er mit mir aus und begleitet mich zur Haustür.

Gibt es einen schlimmeren Moment als das Ende eines Rendezvous, wenn man sich gar nicht verabschieden möchte? Wenn man fürchtet, den anderen vielleicht nie wiederzusehen? Wenn man lieber die ganze Nacht auf Zehenspitzen vor der Haustür balancieren würde, als den Traummann im Taxi davonfahren zu lassen? Wenn einem die richtigen Worte fehlen? Was sagt man in solchen Situationen, ohne sich zu blamieren oder preiszugeben, dass man bereits hemmungslos verliebt ist?

«Sehen wir uns wieder, Nelly?» Mitten in meinen konfusen Ängsten dringt Bens Stimme zu mir.

Mein Herz schlägt mit einem Mal so heftig, dass es noch drei Häuser weiter zu hören sein muss. Verunsichert krame ich in meiner Handtasche nach dem Hausschlüssel. Ich versuche, klar zu denken und mich so normal wie möglich zu verhalten.

«Warum nicht.» Ich unterbreche meine Schlüsselsuche und könnte mich im gleichen Moment selbst ohrfeigen. Was rede ich denn da für einen hirnverbrannten Blödsinn? Ben hat mich doch nicht gefragt, ob ich eine Zeitung abonnieren möchte! «Ähm … ich meine … Ja, sehr gerne.»

Wortlos nimmt Ben meinen Kopf in seine Hände und sieht mich schmunzelnd an. «Gut, dann wäre das ja geklärt.»

Ich komme nicht dazu, etwas zu erwidern, denn er zieht mich an sich und küsst mich. Erst nur ganz zart, dann immer drängender. Sein Mund ist weich und warm, und ich lasse mich einfach in dieses berauschende Gefühl der Begierde fallen. Ich wünsche mir, für immer in seinen Armen liegen zu können – oder wenigstens für ein paar Stunden mit ihm in einem altmodischen Lift stecken zu bleiben. Ungewollt sehe ich mich in einem weißen Traumkleid mit Krönchen und Schleier zum Altar schreiten, als mich plötzlich eine Hupe aus meinen Träumen reißt.

Dieser verdammte Taxifahrer!

Ben löst sich von mir, hält mich aber immer noch fest in seinen Armen. «Ich ruf dich an.»

«Ist das nicht der Spruch, den man zu einer Frau sagt, wenn man sie garantiert nicht wiedersehen will?», frage ich amüsiert.

Ben lacht direkt an meinem Ohr leise auf und flüstert: «Du bist nicht nur die schönste Frau, die ich je getroffen habe, sondern auch die außergewöhnlichste. Schon allein deshalb kannst du sicher sein, dass ich dich garantiert anrufen werde. Oder nein! Wir müssen gar nicht erst lange telefonieren … Wie wär’s mit einem kleinen Mittagessen morgen? Du machst doch eine Pause?»

«Ja», hauche ich verzückt.