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Heute ist der letzte Sonntag im August. Und es ist mein Geburtstag.

Ja, ich werde heute dreißig!

Die heißen Sommertage sind vorbei. Die Touristen werden weniger. Die Kinder gehen seit einer Woche wieder zur Schule. Paps auch.

Eigentlich haben sich alle Probleme in Luft aufgelöst. Ben und ich haben nochmal ausführlich über alles gesprochen und alle Missverständnisse geklärt. Mittlerweile können wir sogar über die schreckliche Vera Paulsen und ihren amateurhaften Schauspieler-Freund lachen. Ben fand zwar, dass Fritz Möller ihm überhaupt nicht ähnlich sieht, aber er war froh, dass mir die fehlende Narbe auf dessen Stirn aufgefallen war. Mama glaubt nach wie vor, dass ich irgendwann ihre Nachfolge antrete und nennt mich sogar weiterhin Nelly. Phillip hat die Piloten-Prüfung mit Auszeichnung bestanden und fliegt jetzt glücklich mit Carina durch die Weltgeschichte. Ben ist seit kurzem stolzer Besitzer einer roten Couch. Und ich von einer eigenen Homepage!

Ich blicke durch das gläserne Dach von Bens Lofts und genieße das Licht der aufgehenden Sonne, die alles in warmes Licht taucht. Offiziell wohne ich zwar noch bei Britta. Praktisch jedoch nur, wenn Ben auf Reisen ist. Wenn er in Berlin ist, verbringen wir unsere freie Zeit meistens zusammen.

Genau so habe ich mir das Glück mit ihm vorgestellt! Jeder einzelne Tag glitzert wie der protzige Ring am Finger der Eiskönigin.

Ja, manchmal drängt sich diese eiskalte Lügnerin noch in meine Gedanken wie ein blinder Passagier. Bei Ben ist es anders. Er scheint sie bereits vollkommen vergessen zu haben. Und doch gibt es Momente, in denen ich Angst habe, sie könnte wiederauftauchen und unser Glück zerstören. Außerdem schreit ihr dreistes Auftreten nach Rache. Zumindest nach einem Denkzettel. Und eines Tages bekommt sie den auch.

Bis vor einer halben Stunde hatten Ben und ich ’ne Menge Spaß unter seiner Dusche. Danach waren wir hungrig wie Hochleistungssportler, und Ben hat für uns ein Sektfrühstück gemacht. Seine Kochkünste sind zwar ähnlich unperfekt wie meine, aber für ein leckeres Rührei reicht es auch bei ihm. (Hab ich schon erwähnt, dass wir uns sehr ähnlich sind?) Dafür ist sein Kühlschrank immer gut gefüllt. Und zwar nicht nur mit Smoothies.

Wir kuscheln auf Bens neuem Sofa, das nicht nur reichlich Platz für zwei bietet, sondern auch für den Eisbären, unser Maskottchen. In solchen Momenten nehme ich die Umgebung nur durch eine rosa Brille wahr. Mein krauses Gehirn ist entspannt wie auf der höchsten Meditationsebene, und ich bin wunschlos glücklich.

«Hast du heute eigentlich schon was vor, Geburtstagskind?», fragt Ben und knabbert an meinem Ohr.

«Mmm», schnurre ich zufrieden wie eine Katze an ihrem Lieblingsplatz und atme seinen herben Duft ein. «Jede Menge Schülerinnen unterrichten. Du weißt doch, seit die mächtige Turmstraßen-Konkurrenz ihre Yogastunden gestrichen hat, brummt mein Laden. Und an den Sonntagen kann ich bald noch mehr Glücksyoga unterrichten.»

«Noch mehr Stunden?», protestiert Ben in gespielter Entrüstung.

Ich kichere vergnügt. Schließlich ist er für meine zahlreichen neuen Schülerinnen verantwortlich. «Tja, der Andrang ist überwältigend. Da reicht eine Sonntagsstunde eben nicht mehr aus.»

«Was habe ich doch für eine erfolgreiche Freundin!» Er sieht mich stolz an und wuschelt mir durch die Haare. «Aber schon bald wirst du ein zweites, drittes und viertes Yogastudio eröffnen und kaum noch Zeit für mich haben», jammert er. «Kannst du nicht noch eine Lehrerin einstellen? Immer nur Yoga ist doch kein Leben.»

Liebevoll knuffe ich ihn in die Seite. «Hast du dich etwa mit meiner Mutter verschworen?»

«Um Himmels willen!», wehrt er ab. «Um deine Mutter mache ich lieber einen großen Bogen. Sonst findet sie am Ende noch raus, wem ich die Rückkehr meines Erinnerungsvermögens wirklich verdanke. Und das wollen wir doch nicht, oder? Aber mal im Ernst: Was hältst du davon, wenn ich dich nach dem Unterricht abhole und wir raus ins Grüne fahren?»

«Du meinst so einen richtigen Sonntagsausflug zum See? Mit Kartoffelsalat, Buletten und Kaffee aus der Thermoskanne?» Ich liebe Ausflüge. Und ich liebe Picknicks. Und am allermeisten liebe ich diesen Mann mit seinen tollen Ideen!

«Mmm, ob ich bis heute Nachmittag noch Buletten auftreiben werde, kann ich nicht versprechen», erwidert Ben ausweichend und reibt seinen Fuß an meinem. «Jedenfalls solltest du feste Schuhe und eine Jacke mitnehmen.»

Diese seltsame Anweisung und der geheimnisvolle Ton in Bens Stimme machen mich neugierig. Denn so weit kenne ich meinen Traummann inzwischen: Seine Ideen sind nicht weniger ausgefallen als meine.

«Willst du etwa mit mir auf Fontanes Spuren durch Brandenburg wandern?», frage ich neugierig.

«So ähnlich», lacht er. «Einzelheiten werden aber nicht verraten. Freu dich einfach auf eine Sonntagsüberraschung. Ich möchte mich endlich für deine ungewöhnliche Therapie revanchieren.»

 

Nach dem Glücksyoga fühle ich mich wie in rosa Zuckerwatte gehüllt.

Gegen halb zwei lehne ich in Jeans und Trägershirt an der offenen Studiotür und warte auf meinen Traummann. Mein Haar ist mit einem Käppi gebändigt, und meine Füße stecken in Joggingschuhen, für die es eigentlich viel zu warm ist.

Ben erscheint in dunkelblauen Jeans, weißem Hemd und weißen Sportschuhen und eilt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu.

«Nochmal: Happy Birthday, meine Süße.» Er umarmt mich und gibt mir einen Kuss. «Bist du bereit?»

«Ja, zu allen Schandtaten», hauche ich verzückt.

«Also, schließ schnell dein Studio ab. Dein Geschenk wartet nicht ewig.»

Noch mehr als ein Buletten-Picknick im Grünen liebe ich unerwartete Geschenke.

«Wo? Wo ist es denn?», platze ich neugierig heraus, und mein Herz macht einen Freudensprung.

«Auf der Straße», antwortet Ben und lacht. Er scheint sich köstlich über meine Aufregung zu amüsieren.

Eilig schnappe ich meine Jeansjacke und den kleinen Rucksack, in den ich vorsorglich zwei Flaschen Sekt gepackt habe, und versperre die Tür.

Ben nimmt meine Hand und befiehlt: «Augen zu.»

Ich lasse mich von ihm aus dem Hof führen. Wie eine Schar Ameisen krabbelt die Euphorie meinen Rücken hoch.

«Aufmachen», flüstert er kurz darauf.

Vorsichtig öffne ich die Augen und schnappe nach Luft.

«Ben!»

«Gefällt es dir?»

«Wie kannst du das fragen?», quieke ich begeistert.

Vor der Hofeinfahrt parkt das süßeste kleine Cabrio der Welt. Es ist rosa und sieht ein bisschen aus wie ein Spielzeugauto. Nur, dass dieses hier echt ist und genau die Farbe meiner Yogamatten hat. Auf der Fahrertür klebt der schwarze Schattenriss einer schlanken Figur im Schneidersitz. Darüber prangt die Adresse meiner neuen Homepage:

www.Yoga-Oase.de

Ja, ich habe das Studio umbenannt. Die Bezeichnung Oase beinhaltet Ruhe und Entspannung. Und darum geht es schließlich.

Zärtlich legt Ben seinen Arm um meine Schulter. «Dein Firmenwagen! Damit kannst du dann zwischen deinen Filialen hin- und herflitzen und wirbst mit jedem gefahrenen Meter neue Kunden.»

«Ben, das ist …», stottere ich ergriffen. «Das ist … So ein teures Geschenk kann ich nicht annehmen.»

«Nun vergiss mal deine gute Erziehung, Nelly Nitsche», tadelt er mich liebevoll. «Geschenke bewertet man nicht, man freut sich einfach über sie.»

«Wenn du meinst», antworte ich noch etwas unschlüssig und falle ihm dann um den Hals. «Das ist ja wohl das coolste Auto der Welt! Und die absolut gelungenste Geburtstagsüberraschung meines Lebens … Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.»

«Dann sag nichts …» Ben angelt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und hält ihn mir vor die Nase. «Sondern steig ein, zu einer Probefahrt! Der Tank ist voll.»

Per Knopfdruck öffne ich die Tür und lasse mich hinters Steuer gleiten. Das Innere des Wagens duftet berauschend nach Leder und Sauberkeit. Der Sitz ist genau richtig eingestellt und sehr bequem. Zögernd lege ich meine Hände auf das Lenkrad. Ich muss erst mal tief durchatmen.

«Alles okay?», fragt Ben und öffnet das Verdeck.

«Ja, lass uns rausfahren!», erkläre ich glücklich und reiße mir das Käppi vom Kopf. «Ich würde zu gerne Gas geben und mein Haar im Wind flattern lassen.»

Nachdem Ben auf der Beifahrerseite eingestiegen ist, starte ich den Wagen – und los geht’s.

Ben lotst mich durch die Stadt, Richtung Autobahn. «Ich sag dir Bescheid, an welcher Ausfahrt wir rausmüssen.»

«Wo ist eigentlich der Picknickkorb?», frage ich neugierig. Denn auf dem Rücksitz liegt nur mein Rucksack mit den Sektflaschen.

Doch Ben sitzt schmunzelnd neben mir und starrt nur geradeaus. «Vorerst verrate ich nur so viel», erklärt er. «Es gibt keine Buletten – sondern noch eine Überraschung!»

 

Nach etwa zwanzig Minuten auf der A9 nehmen wir die Ausfahrt «Linthe» und gelangen kurz darauf zu einem Landgasthaus, wo mich Ben auf den Parklatz fahren lässt und ich ein schattiges Plätzchen unter einem Baum finde.

Als wir aussteigen, winkt uns ein dunkelhaariger Typ in Jeans, Lederjacke und Sonnenbrille zu, der an einem Kombi lehnt und auf jemanden zu warten scheint.

«Einer deiner Club-Mitglieder?», frage ich beiläufig, während ich das Verdeck des Wagens schließe und nochmal zärtlich über das Dach streichle.

Ben ergreift meine Hand und zieht mich direkt zu dem Lederjacken-Typ. Das kenne ich schon. Egal, wo man mit ihm hinkommt, er trifft überall Bekannte.

«Nelly, das ist Freddie, ein guter Bekannter», stellt mir Ben den Mann vor. «Freddie, das ist meine süße Nelly.»

Mir schießt das Blut ins Gesicht, wie immer, wenn mir Ben im Beisein von Fremden Komplimente macht. Meine finanziellen Probleme konnte ich allein bewältigen, meine Schüchternheit nicht. Und in Situationen wie dieser weiß ich nicht mal, was ich sagen soll.

Freddie scheint weniger verlegen zu sein. Er streckt mir die Hand entgegen. «Herzlichen Glückwunsch, Nelly.»

«Ähm … danke», antworte ich irritiert. Ich kenn den Typ doch gar nicht. Woher weiß er, dass ich heute Geburtstag habe?»

Plötzlich dämmert es mir.

«Den Wagen könnt ihr hier stehenlassen», sagt Freddie und bittet uns, in seinen Kombi einzusteigen.

Die Fahrt dauert keine drei Minuten und endet auf einer großen, waldumsäumten Wiese. Nach dem Aussteigen bleibt mir vor Staunen die Spucke weg. Unfassbar, was ich da sehe: einen Heißluftballon, rot wie die Liebe, der anscheinend gleich abheben wird.

Ben legt seinen Arm um mich und flüstert mir ins Ohr: «Na los! Unser Picknick wartet.»

«Du meinst, wir …» Zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich kurz davor, in Freudentränen auszubrechen.

«Genau, wir fliegen mit», vollendet Ben mein Gestotter.

«Oh, Ben», sage ich ergriffen. «Was für eine … Mist! Ich hab den Rucksack mit dem Sekt im Wagen vergessen!»

Lachend drückt mich Ben und zieht mich hinter sich her auf die Wiese. «Hab ich dir schon gesagt, wie außergewöhnlich du bist?»

Unter dem Ballon ist Freddie zusammen mit zwei Männern bereits damit beschäftigt, den Weidenkorb aufzurichten. Es dauert noch einige Minuten, dann hilft er uns beim Einsteigen und klettert danach selbst in den Korb. Er ist ganz offensichtlich der Pilot, und ich hoffe inbrünstig, dass er weiß, was er tut.

Während ich mich in Bens Arme kuschle und Freddies Anweisungen und Erklärungen zu den technischen Details lausche, kann ich es kaum erwarten abzuheben. Langsam, Millimeter für Millimeter, löst sich der Korb vom Boden und schwebt nach oben. Ich sehe Ben an. Und für einen kurzen Moment wirkt er so, als wäre ihm mulmig. Ob das die Erinnerung an seine Flugangst ist?

«Durchatmen und keine Panik», spreche ich ihm Mut zu und küsse ihn. «Halt dich an mir fest.»

Ben sieht mir tief in die Augen. «Meine süße Nelly, mit dir an meiner Seite kann mir doch nichts mehr passieren.»