Vollkommen aus der Puste erreiche ich das Studio. An der Tür finde ich einen Zettel, auf den jemand mit blutrotem Lippenstift geschrieben hat:
Wann gibt es hier eigentlich mal Unterrichtsstunden?
Mist! Ein Blick auf Mamas Armbanduhr verrät mir, dass ich mich trotz der Hetzerei fünfunddreißig Minuten verspätet habe. Kein Wunder, dass ich allein vor dem Studio stehe.
Bis zur nächsten Stunde bleibt immerhin noch Zeit für einen Kopfstand. Und den habe ich so was von nötig! Denn inzwischen ist nichts mehr so einfach, wie ich mir das anfangs ausgemalt habe. Alles ist total kompliziert und verfahren.
Bens Flugangst und seine Weißphobie sind mir nach wie vor rätselhaft. Und meine vermeintliche Verhaltenstherapie hat uns nicht einen Millimeter weitergebracht. Wirklich schade, dass ich in Bens Wohnung keine persönlichen Dinge entdecken konnte. Na ja, immerhin weiß ich jetzt, dass seine Schultern vom Kistenschleppen und nicht vom Surfen so breit geworden sind.
Nach der letzten Poweryoga-Stunde schlurfe ich so erschöpft nach Hause, als hätte ich selbst den ganzen Tag Getränkekisten verladen. Dass die Stunde nur von drei Schülerinnen besucht war, hebt meine Laune auch nicht gerade.
Ich nehme mir vor, eine Kleinigkeit zu essen, anschließend heiß zu duschen und danach sofort ins Bett zu gehen, um mich mal wieder so richtig auszuschlafen.
Als ich die Tür zu Brittas Wohnung öffne, bleibe ich irritiert in dem großen Vorraum stehen.
Auf allen Besucherstühlen sitzen junge Männer in Jeans und Shirt. Mit ihren breiten Schultern, den kantigen Gesichtern und den ausgebleichten Haarspitzen sehen sie allesamt wie attraktive Surfertypen aus. Ein bisschen so wie Ben. Oder bin ich so verliebt, dass ich überall nur noch ihn sehe?
Aber natürlich ist mir klar, dass hier gerade mal wieder ein Statisten-Casting stattfindet. Also begrüße ich Britta und die Kostümbildnerin Eva Henze, die oft bei solchen Castings dabei ist, nur flüchtig und verziehe mich in mein Zimmer.
Völlig erschöpft schmeiße ich mich aufs Bett und falle wenig später in einen unruhigen Tagtraum.
Es wird bereits dunkel, als ich Brittas Stimme vernehme.
«Hattest du eine Begegnung der dritten Art?», fragt sie heiter. «Oder was war vorhin los? Du bist ja so schnell verschwunden, als wärst du auf der Flucht gewesen.»
«Nee, ich war nur so überrascht, weil da lauter Getränkehändler rumsaßen», murmle ich verschlafen.
Britta starrt mich an, als würde ich Chinesisch sprechen.
«Ähm … ich meine, die sahen alle aus wie Ben», erkläre ich mein verwirrendes Gefasel.
«Ah, der Typ mit der Gedächtnislücke.» Sie setzt sich ans Fußende. «Muss ja ein sehr attraktiver Mann sein. Tja, wenn solche Schönlinge im Rudel daherkommen, sind sie schwer zu ertragen, nicht wahr? Aber was soll ich machen, Job ist Job …» Sie grinst mich übermütig an. «Und wie war dein Tag?»
Mir entschlüpft ein tiefer Seufzer. «Ich bin verliebt.»
«Erzähl», fordert sie mit großen Augen. «Wer ist es?»
«Ich spreche immer noch von Ben», erkläre ich empört.
«Aber der hat doch einen psychischen Knall, oder nicht?»
«Es ist nur eine retrograde Amnesie», korrigiere ich fachkundig. «Ansonsten ist Ben vollkommen normal.»
«Auch wenn du dem Dachschaden einen lateinischen Namen verpasst, weißt du immer noch nicht, was mit dem Kerl los ist. Ich kann dich nur warnen, Nelly, lass die Finger davon. Der Psychokram ist was für Fachleute.»
Ich bleibe unerschütterlich. «Denk doch nicht immer gleich das Schlimmste. Ich weiß, dass Ben der Richtige für mich ist. Wir haben jede Menge Gemeinsamkeiten, und es war Liebe auf den ersten Blick. Bei uns beiden. Er liebt mich … Nur hat er das leider vergessen.»
Britta lacht kurz auf. «Wenn er dich wirklich lieben würde, hätte er sich längst wieder an dich erinnert. Und Gemeinsamkeiten sind vollkommen überbewertet, genauso wie diese angebliche Liebe auf den ersten Blick.» Sie sieht mich streng an. «In der Regel ist das nichts anderes als ein heftiges Aufwallen der Hormone. Ein Urinstinkt, damit die Menschheit nicht ausstirbt. Aber davon abgesehen: Was solltest du mit einem Getränkehändler gemein haben, Nelly?»
«Na, das ist doch ein kreativer Beruf», verteidige ich mich. «Ich meine, nimm zum Beispiel den Typen, der Red Bull erfunden hat. Der ist damit Multimillionär geworden.» Keine Ahnung, woher dieser Geistesblitz eben kam. Vielleicht, weil Phillip diesen Powerdrink so liebt. «Betrachtet man das Ganze mal aus dieser Perspektive, dann bekommt der Beruf des Getränkehändlers doch richtig Glamour. Also, nicht dass ich mir viel aus Geld machen würde. Aber ein Leben ohne Geldsorgen ist zweifellos angenehmer als eines mit leerem Bankkonto. Ich weiß, wovon ich spreche.» Erschöpft lasse ich mich zurück in die Kissen fallen.
«Red Bull!?», wiederholt Britta spöttisch. «Du redest wirres Zeug, Nelly Nitsche. Du willst doch nicht tatsächlich eine Beziehung führen, die auf pappsüßes Zuckerwasser mit Koffein gründet, oder?»
«Natürlich nicht», wehre ich mich entrüstet. «Ben und ich haben wirklich jede Menge gemeinsam. Wir fahren beide sehr ungern mit dem Lift und sind erst vor kurzem umgezogen. Außerdem trinke ich gerne Saft und literweise Wasser.»
«Wie außergewöhnlich», entgegnet Britta ironisch. «Das tun tausend andere Menschen auch. Aber Wassertrinken ist noch lange keine Basis für eine gemeinsame Zukunft, Nelly. Es sei denn, du willst dich ständig über Mineralien und die verschiedenen Inhaltsstoffe von Quellwasser unterhalten.»
«Warum nicht! Ich könnte in meinem Studio doch auch eine kleine Bar einbauen und dort Bens Getränke anbieten», entgegne ich provozierend. «Dann hätten wir schon mal eine berufliche Gemeinsamkeit.»
«Du kannst dich auch in seiner Getränkehandlung an die Kasse stellen und die Einnahmen zählen», schießt Britta zurück.
«Du bist gemein.» Erbost werfe ich ihr ein Kissen an den Kopf. «Und ich dachte, du wärst meine beste Freundin.»
«Das bin ich ja auch», versichert mir Britta und wirft das Kissen zurück. «Genau deshalb muss ich dich ja warnen, denn du hast ganz offensichtlich eine rosarote Brille auf. Und Liebe macht ja bekanntlich blind! Sei vorsichtig, Nelly, du weißt nicht, was hinter dieser Amnesie steckt.»
Ich stopfe mir das Kissen wieder hinter den Kopf. «Aber genau das werde ich herausfinden», erkläre ich bestimmt. «Es hat nämlich etwas zu bedeuten, dass Ben ausgerechnet zu mir kam.»
Kopfschüttelnd sieht mich Britta an. «Nelly Nitsche, die professionelle Träumerin! Der Mann kam zu deiner Mutter und nicht zu dir, vergiss das nicht.»
«Wie könnte ich. Ben nennt mich ja ständig Ella», gestehe ich leise.
«Wieso denn das?» Britta stutzt einen Moment und lacht dann abfällig. «Er hält dich für deine Mutter!? Also wenn das nicht die verrückteste Geschichte ist, die ich in letzter Zeit gehört habe! Ich kenne da einen netten Drehbuchautor, der sucht immer gute Stoffe für seine Bücher. Soll ich dich mal mit dem zusammenbringen? Er sieht übrigens gut aus, der Schreiberling. Und so, wie du rumspinnst, hättest du mit ihm tatsächlich jede Menge gemeinsam. Du könntest sogar noch Kohle mit deinen ausgeflippten Ideen verdienen.»
So leicht lasse ich mich nicht aus der Ruhe bringen. «Quatsch. Ben hält mich doch nicht für meine Mutter. Er kennt sie ja nicht. Er denkt eben nur, ich heiße Ella. Das ist etwas ganz anderes. Und so schlimm finde ich es auch gar nicht», schwindle ich. «Ella ist schließlich ein Teil meines Namens.»
Schulterzuckend erhebt sich Britta. «Wie du meinst, Ella. Aber sei so gut und halte dich mit deinen Gefühlen etwas zurück, solange du nicht weißt, was oder wer ihm das Loch ins Gehirn gebrannt hat.» Sie sieht mich ernst an und verkündet dann, mit Eva noch auf ein Glas Wein ins Florian zu gehen.
An der Tür bleibt sie stehen und dreht sich zu mir um. «Wie geht’s deiner Mutter überhaupt? Statt dich in die Behandlung ihrer Patienten einzumischen, solltest du sie lieber mal besuchen. Oder wenigstens mal anrufen.»
«Mmm … du hast ja recht», grummle ich, aber da hat Britta schon die Tür hinter sich zugezogen.
Da in einem Sanatorium die Lichter sicher schon um acht ausgehen, beschließe ich den Anruf auf morgen zu verschieben. Aber ich nehme mir fest vor, mich in der Mittagspause bei Mama zu melden.
Gerade will ich mein Kopfkissen zurechtknuffen, da schrillt mein Handy.
Das wird Phillip sein, der sich alleine nicht zurechtfindet, vermute ich und brumme ein schläfriges «Mmm» ins Telefon.
«Ella? Hier ist Ben.»
Erschrocken fahre ich hoch. «Ben? Geht’s dir gut?», frage ich besorgt. «Hattest du einen Rückfall?»
«Nein, nein, keine Sorge», beruhigt er mich. «Ich muss nur leider unsere morgige Sitzung absagen. Mir ist ein dringender Termin in München dazwischengekommen.»
Ich schlucke meine Enttäuschung runter und gebe mich gelassen. «Kein Problem. Wirst du denn nach München fliegen?»
«Ja, das bleibt mir wohl nicht erspart.» Ein verzweifelter Seufzer dringt an mein Ohr. «Und das macht mir Sorgen …»
Sofort bin ich hellwach. Ach du meine Güte, Bens Flugangst!
«Mir ist auch noch etwas wieder eingefallen», erklärt er, und seine Stimme klingt schon etwas positiver.
Ben kann sich erinnern!?
«Was?», dränge ich ungeduldig. «Was ist dir eingefallen?»
«Es hat mit diesem kleinen Taschen-Fiffi im Aufzug zu tun», beginnt er. «Also, ich bin mal von einem Hund gebissen worden. Und der war weiß!»
Ach du großer Sigmund Freud! Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt? Oder sollte es da tatsächlich eine Verbindung geben? Puh! Mir schwirrt der Kopf. Ich eigne mich einfach nicht für diesen Beruf.
«Die Wunde hat ziemlich geblutet», erzählt Ben wie berauscht weiter, «und ich bekam eine Tetanusspritze, die ganz schrecklich wehtat. Also, ich würde das als traumatisches Erlebnis bezeichnen. Was meinst du?»
«Wann war das denn?»
«Ich glaube, da war ich ungefähr … drei», antwortet Ben zögernd. «Ja, genau, ich bin schon in den Kindergarten gegangen.»
Mmm … dieser Hundebiss liegt schon sehr weit zurück, aber Bens Gedächtnislücke umfasst nur zwei, drei Wochen. Das hat also vermutlich überhaupt nichts mit seiner Amnesie zu tun, geschweige denn mit den fehlenden drei Wochen in seiner Erinnerung. Solange wir dieses Geheimnis nicht gelüftet haben, kommen wir nicht weiter. Nicht einen Millimeter.
«Also, wir werden das beim nächsten Mal ausführlich besprechen», beginne ich vorsichtig. «Es könnte aber sein, dass es auf dem Flug zu einem … ähm, zu einem weiteren Rückfall kommt. Du solltest dann unbedingt deine Gedanken fokussieren. Denk vielleicht einfach an das Plüschtier für deinen Neffen. Oder an einen rosaroten Elefanten oder so.»
Ach du Schande! Was rede ich denn da für einen Müll? Ben wird sicher gleich in schallendes Gelächter ausbrechen!
«Deine Therapiemethoden sind wirklich ungewöhnlich, Ella», sagt er nach einer Pause, aber seine Stimme klingt nicht sehr überzeugt. «Ich werde es versuchen. Danke jedenfalls, dass du dich so intensiv um mich kümmerst.»
«Schon gut», wehre ich ab. «Das ist doch nur … mein Job.»
«Ja, schon, aber ich würde dich gerne mal als Dank zum Essen einladen, wenn ich darf.»
«Oh, sehr gerne», hauche ich gerührt, und im selben Augenblick meldet sich mein schlechtes Gewissen. So eine Einladung würde eine echte Therapeutin vermutlich nie annehmen!
«Wie wär es mit Samstagabend, wenn ich zurück bin?»
«Samstag …», wiederhole ich zögernd. «Ja, also … samstags gebe ich immer Yogastunden … ähm, ich meine, samstags gehe ich immer zum Yoga.» Puh! Beinahe hätte ich mich verraten. «Deshalb kann ich leider erst nach acht, denn das Studio ist in –»
Moment mal! Mir kommt eine geniale Idee.
«Hättest du vielleicht Lust, mich dort abzuholen?», frage ich euphorisch. «Es ist ein kleines Studio in Moabit, und ich wüsste auch ein tolles Lokal.» Als ich mit piepsiger Stimme das Mädchen ohne Abitur vorschlage, schlägt mein Herz so laut, dass Ben es eigentlich hören müsste.
«Mädchen ohne was?», fragt er lachend.
«Mädchen ohne Abitur. Das ist ein Restaurant in Kreuzberg. Man kann dort sehr gut essen», erkläre ich und kann meine Aufregung kaum noch zurückhalten.
Wenn mich Ben vom Yoga abholt und wir dasselbe Restaurant wie vor knapp drei Wochen besuchen, könnte der Abend ein Déjà-vu-Erlebnis für ihn werden. Ich ziehe einfach das Kleid mit den Spaghettiträgern an, trage meine Haare offen und bin einfach wieder Nelly.
Dann muss er sich doch erinnern!