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Lügner … Lügner … Lügner 

Wie in Trance schleppe ich mich durch den Gewitterregen zur U-Bahn-Station, um nach Hause zu fahren. Der Rausschmiss des hinterhältigen Pärchens hat mich meine ganze Kraft gekostet.

Jetzt drückt der Schmerz so schwer auf meinen Brustkorb, dass ich kaum atmen kann. In meinem Zustand kann ich unmöglich Yoga unterrichten. Ich kann mich überhaupt nicht konzentrieren. Nur ein einziger Gedanke kreist durch meinen Kopf: Ben hat mich getäuscht und absichtlich belogen. Er hat mir etwas vorgespielt und mir seine Fitnesskette verschwiegen. Vera hat die Wahrheit gesagt. Er ist der Lügner. Ein hinterhältiger Betrüger. Es ist, als wäre ich in einem Albtraum gefangen. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu weinen. Und mir ist vollkommen egal, ob ich nass werde und morgen todkrank bin und deshalb keine Yogastunden mehr geben kann. Was interessiert mich, ob mein Studio dann endgültig verloren ist? Mich kümmert nichts mehr. Mein Kopf ist leer. Meine Augen brennen. Mein Hals kratzt. Meine Gedanken fahren Achterbahn, und in meinen Ohren dröhnen Veras gemeine Abschiedsworte: Bleib locker, Rotschopf!

Am liebsten würde ich mich vor die U-Bahn werfen. Doch als der Zug kommt, fehlt mir selbst dazu die Kraft. Mit mechanischen Bewegungen steige ich ein, lasse mich auf einen freien Sitz fallen und starre durch die Brandenburger-Tor-Silhouette auf den Fenstern ins Dunkle.

Um den übermächtigen Schmerz zu betäuben, murmle ich die Stationen vor mich hin. Zoologischer Garten Betrüger … Spichernstraße Lügner … Berliner Straße 

Ich muss umsteigen. Mit letzter Kraft zwinge ich mich, den Wagen zu verlassen.

Eine Mutter mit Kind betrachtet mich mitleidig, als wisse sie um meinen Kummer. Soll sie ihre Tochter ruhig vor den Männern warnen! Doch wenn die Kleine dann irgendwann auf einen gemeinen Schuft wie Ben triff, wird sie alle Warnungen vergessen. Genau, wie ich die Bedenken meiner besten Freundin ignoriert habe.

Meine Bahn kommt. Müde raffe ich mich auf, steige ein und starre wieder vor mich hin. Noch vier Stationen, bis ich aussteigen muss. Nur noch wenige Minuten, dann kann ich mich endlich vor dieser gemeinen Welt verkriechen.

 

Als Britta abends nach Hause kommt, hänge ich apathisch auf dem Sofa. Meine Klamotten sind noch feucht vom Gewitterregen, mir ist kalt, aber ich habe einfach nicht die Kraft, mich umzuziehen. Wie an einem tröstenden Stofftier halte ich mich an der Fernbedienung des Fernsehers fest und kann mich nicht entscheiden, ob ich den Kasten einschalten oder mich lieber aus dem Fenster stürzen soll.

«Hallooo!», flötet Britta fröhlich und mustert mich verwundert. «Warst du im Regen spazieren?»

Träge hebe ich den linken Arm. «Fühl mal meinen Puls, ob ich überhaupt noch lebe.»

Bestürzt kommt sie auf mich zu und setzt sich neben mich. «Was ist hier los?»

Ihr Mitgefühl lässt mich erneut zusammenbrechen. «Ben …», presse ich zwischen zwei Weinkrämpfen schließlich hervor. «Er …»

Wortlos zieht Britta die Augenbrauen hoch.

«Sag jetzt nichts», jammere ich. «Dein Blick reicht schon.»

Abwehrend hebt sie die Hände. «Kein Gedanke. Ich wollte dich nur trösten.»

«Aber er …» Ich stocke. Meine Nase läuft.

Schnell zieht Britta ein Taschentuch aus ihrer Jeans. «Hier, für deine Nase. Und dann leg dich erst mal trocken. Deine Klamotten gehören in die Wäsche. Ich organisiere uns in der Zwischenzeit eine Flasche Wein und ’ne Tüte Chips, und dann erzählst du mir, was dir dieser Mistkerl angetan hat.»

 

Trotz der fettigen Paprikachips entfaltet bereits das erste Glas Wein seine volle Wirkung. In Alkohol ertränkter Liebeskummer ergibt einen wirksamen Zungenlöser. Die Worte sprudeln nur so aus mir heraus, als hätte jemand den richtigen Knopf gedrückt.

«Ich dachte wirklich, er wäre mein Traummann», schluchze ich, nachdem ich Britta alle Einzelheiten der grauenvollen Begegnung geschildert habe.

Britta öffnet die zweite Flasche Wein und füllt unsere Gläser auf. «Tja, meiner Erfahrung nach haben Traum-Männer einen gravierenden Makel: Sobald man aufwacht, verschwinden sie oder verwandeln sich wieder in hässliche Frösche.»

Wahrscheinlich treffen ihre pessimistischen Ansichten genau ins Schwarze. Aber es schmerzt höllisch, das einsehen zu müssen. Doch allmählich versiegen meine Tränen, und ich verschiebe auch meinen Selbstmord. Zumindest vorerst.

«Vielleicht hat Ben gehofft, dich ausspionieren zu können, als du ihm vor dem Supermarkt von deinem Studio erzählt hast», überlegt Britta. «Er wollte dir die neuesten Yogatrends entlocken und hat dir sein Fitnesscenter natürlich verschwiegen.»

«Möglich.» Grummelnd schiebe ich mir eine Handvoll Chips in den Mund. «Nur eines verwundert mich schon: Das Thema Yoga hat er nie erwähnt.»

«So leid es mir tut, Nelly, aber genau das ist doch der Beweis für seine hinterhältigen Absichten», erklärt Britta. «Vermutlich hat er damit gerechnet, dass du ihm sowieso alles über dein Studio erzählst. Er muss gemerkt haben, wie schnell du Vertrauen zu den Leuten fasst. Und normalerweise tut man das ja auch. Aber eine ganze Fitnesskette zu verheimlichen ist einfach hinterhältig», urteilt sie erbost. «Für mich ist das Beweis genug, dass die Geschichte dieser Paulsen stimmt, so absurd sie sich auch anhört.»

Mir fällt die erste Begegnung mit der Blonden ein. «Ihr Brautkleid hängt auch schon im Schrank», murmele ich, und die Erinnerung treibt mir sofort wieder die Tränen in die Augen.

«Genug geheult, Nelly! Dieser gemeine Schuft ist keine einzige deiner Tränen wert.» Britta nimmt mich tröstend in den Arm. «Du findest einen anderen. Berlin ist doch die Single-Hauptstadt. Hier gibt es massenhaft nette, ehrliche Typen.»

«Ach ja? Und wieso hast du dann noch keinen gefunden?»

«Ich kann mich einfach nie entscheiden, das weißt du doch.» Mit einem Grinsen knufft Britta mich in die Seite.

«Aber keiner ist so … so süß wie Ben», protestiere ich, und wieder füllen sich meine Augen mit Tränen.

«Mmm, ich hätte ihn ja zu gerne mal gesehen, deinen vermeintlichen Traummann.» Britta sieht mich skeptisch an. «Er sieht wahrscheinlich gar nicht so super aus. Du hast ihn dir schöngeredet wie alle Verliebten …»

«Quatsch. Du kannst ihn dir ja auf Facebook anschauen, wenn du mir nicht glaubst», schnaufe ich zwischen Naseputzen und Tränentrocknen. «Vielleicht verstehst du mich dann.»

«Ha!», lacht Britta sarkastisch auf. «Im Netz tummeln sich doch wirklich nur Idioten. Aber das passt zu ihm. Stellt auch noch Bilder von sich ins Netz.»

«Nein, nein», widerspreche ich. «Das war Vera Paulsen. Sie konnte es sich bei unserem Gespräch nicht verkneifen, mir ihr Glück unter die Nase zu reiben. Es gäbe auf ihrer Seite massenhaft Fotos von ihr und Ben zu sehen, hat sie gesagt.»

«Und welche Erklärung hatte Mister Fitnesscenter für diese Geschmacklosigkeit?», fragt Britta neugierig.

Als wäre es mir gleichgültig, zucke ich die Schultern. «Er hat es abgestritten wie alle Behauptungen dieser blöden Schlampe. Aber inzwischen würde ich ihm nicht mal mehr glauben, wenn er mir sagt, dass die Sonne im Osten aufgeht.»

Mitfühlend streicht mir Britta über den Rücken. «Richtig so. Lass deine Wut raus, Nelly, dann ist der Liebeskummer schnell vorbei. Du solltest dir die Fotos auch vielleicht besser nicht ansehen. Das reißt nur die Wunde wieder auf.»

Entsetzt zucke ich zusammen. «Ich wüsste auch nicht, wozu das gut sein sollte.»

«Hast du denn was dagegen, wenn ich mal reinschaue? Ich bin neugierig, wie der Typ aussieht.»

«Tu dir keinen Zwang an … Aber ich will keine Details hören», rufe ich Britta hinterher, als sie sich an ihren Computer begibt. «Wie heißt diese Vera nochmal mit Nachnamen?»

«Paulsen», spucke ich förmlich aus und kippe noch mehr Wein in mich hinein, während Britta sich auf Facebook einloggt. Vielleicht stoppt der Alkohol endlich meine Tränenflut.

Wie konnte ich nur auf Ben hereinfallen? Wie konnte ich mich nur so in ihm täuschen? Seine Behauptung, ich sei etwas Besonderes: gelogen. Seine Liebesschwüre: gelogen. Die Amnesie, die Flugangst, die Weiß-Phobie: alles gelogen.

Lügen.

Lügen.

Lügen.

«Nelly, Nelly!» Britta ist ganz aufgeregt. «Ich kenne den Typ! Deinen Ben.»

«Was?» Unwillig stelle ich das Weinglas ab und kehre zurück ins Arbeitszimmer.

«Aber der heißt nicht Ben, sondern …» Sie überlegt fieberhaft.

«Was meinst du?», frage ich irritiert.

«Ist er das, dein Ben?» Sie zeigt auf den Bildschirm.

«Ja, ich glaube schon.» Die Fotos sind zwar teilweise etwas verschwommen, aber ich erkenne ihn eindeutig wieder. Auf einem Bild ist eine Großaufnahme seines Gesichts zu sehen. Seine hellgrünen Augen strahlen in die Kamera 

«Zugegeben, er sieht echt super aus. Aber er ist ein ganz mieser Aufschneider und Sprücheklopfer. Mit dem wärst du nur unglücklich geworden.»

Entrüstet stemme ich die Hände in die Hüften. «Was heißt hier wäre? Ich bin unglücklich, todunglücklich, falls dir das entgangen sein sollte», klage ich vorwurfsvoll.

«Ich weiß, Süße, so war es auch nicht gemeint. Aber ich kenne den Typen. Er ist in meiner Casting-Kartei. Moment mal.» Sie öffnet schnell ein anderes Programm und klickt sich durch verschiedene Verzeichnisse. «Hier, er ist bei mir unter dem Namen Fritz Möller gelistet. Und wenn der Besitzer einer Fitnesskette ist, bin ich Astronautin. Das saubere Pärchen hat dich rundum belogen.»

Plötzlich bin ich hellwach. «Er ist Schauspieler?»

«Na ja, ich würde sagen, Fritz Möller ist allerhöchstens Statist. Nichts weiter. Ein kleiner Statist auf der Suche nach einer reichen Braut. Bei mir hat er es nämlich auch versucht, als er mal zum Casting hier war und spitzbekommen hat, dass diese Wohnung mir gehört.»

«Aber …» Brittas Erklärungen verwirren mich. «Warum sollte Ben das alles vortäuschen: die Amnesie, die Flugangst und die Weiß-Phobie? Und wieso sollte er sich zu einer Therapie anmelden und mich dann auch noch mit dieser Schlampe konfrontieren? Das ergibt einfach keinen Sinn.»

Nachdenklich mustert mich Britta eine Weile. «Wer weiß schon, was im Kopf solcher Kleinkriminellen vor sich geht und mit welchen Methoden sie arbeiten», sagt sie schließlich und dreht sich wieder zum Computer. «Mir kommt da so eine Idee. Ich schau jetzt mal auf der Homepage des Fitnessstudios in der Turmstraße nach –»

«Wozu?»

«Na, mal sehen, ob wir hier einen Ben Reuther finden. Oder vielleicht eher einen Fritz Möller.» Britta ist jetzt ganz euphorisch. «Also, hier sind jede Menge Fotos von den Lehrern, aber keines vom Besitzer. Allerdings taucht hier tatsächlich der Name Ben Reuther auf … Es wäre doch interessant, herauszufinden, was für ein Schurkenstück Fritz Möller plant», fährt sie neugierig fort. «Ich glaube nämlich nicht, dass er sich rein zufällig für diesen Ben ausgibt.»

Obwohl Brittas Argumente ziemlich logisch klingen, bin ich von Bens Doppelidentität noch nicht vollkommen überzeugt.

«Wie erklärt sich dann dieses dicke Geldbündel, das Ben oder Fritz oder wie er eigentlich heißt ständig bei sich trägt? Einen mittellosen Statisten stelle ich mir anders vor.»

«Ach, so eine dicke Geldrolle zeugt einfach nur von Großkotzigkeit», winkt Britta ab. «Und in Zeiten von Online-Banking riecht das für mich eher nach Halbwelt. Vielleicht waren ja auch nur die äußeren Scheine echt, und die restliche Rolle bestand aus zurechtgeschnittenem Papier. So machen wir das beim Film auch. Dieser Fritze kennt diesen Trick bestimmt!»

«Wenn das stimmt, ist deine Phantasie nicht weniger durchtrieben als die von Ben und seiner Vera», antworte ich und schlurfe zurück ins Wohnzimmer, um wieder unter die Decke zu kriechen. Mir reicht’s für heute.