«Du glaubst nicht, was ich gerade am Himmel gesehen habe.» Ich lasse mich auf einen der Besucherstühle fallen und starre Britta mit weit aufgerissenen Augen an.
Sie sitzt an ihrem Schreibtisch vor dem Computer und trägt immer noch ihr geringeltes Schlafshirt. Auch ihr Haar sieht genauso zottelig aus wie heute Morgen. Dem Drehbuch und den Papierstapeln auf dem Tisch nach zu schließen, ist sie übergangslos vom Bett an den Schreibtisch gewandert.
«Schäfchenwolken?», mutmaßt Britta, ohne vom Monitor aufzusehen.
«Ein kleines Flugzeug …»
«Tatsächlich?» Britta lacht. «Deine Glücksyoga-Stunde scheint ja eine tolle Wirkung zu haben, wenn du dich wie ein Kind über so etwas freust.»
«Nun, das würdest du auch», erkläre ich und fahre erst nach einer kleinen Spannungspause fort. «Wenn am Flieger ein Transparent mit einer Liebeserklärung flattert.»
Überrascht wendet sich Britta mir zu. «Was denn für eine Liebeserklärung?»
Aufgeregt erzähle ich von Bens romantischer Nachricht am Himmel über Moabit.
«Er hat sich nicht gescheut, seine Liebe vor der ganzen Stadt zu verkünden. Ich … Ich weiß gar nicht, was ich davon halten soll.» Diese fliegende Liebeserklärung hat mich total verwirrt.
Während meines Berichts hat sich Britta auf ihrem Stuhl zurückgelehnt. Nun sieht sie mich eindringlich an. «Glaubst du ihm denn?»
Unschlüssig zucke ich die Schultern. «Ich weiß nicht … Ich weiß nur, dass ich es unheimlich romantisch finde. Ich meine, er würde doch nicht so einen Aufwand betreiben und viel Geld investieren, wenn er es nicht ehrlich meinen würde, oder?»
«Vergiss die Kosten», winkt Britta ab. «Männer scheuen keine noch so hohen Ausgaben, wenn sie etwas wollen … Viel wichtiger ist doch, ob du dich davon beeindrucken lässt und ihm wieder vertrauen kannst.»
Ich seufze. Kann ich Ben tatsächlich glauben? Ihm vertrauen?
Vor meinem geistigen Auge erscheint noch einmal der silbrig glänzende Flieger am hellblauen Sommerhimmel, und ich spüre ein heftiges Kribbeln in der Magengegend. Ich kenne niemanden, der schon mal so eine romantische Liebeserklärung bekommen hat. Doch im nächsten Moment überfallen mich wieder Zweifel. Kann ich Ben einfach so verzeihen? Genügt ein flatterndes Transparent, und alles ist wieder gut?
Verdammter Mist! Warum muss Liebe so kompliziert sein?
«Vielleicht solltest du ihm tatsächlich eine Chance geben», schlägt Britta vor.
«Ich weiß nicht.» Ich bin hin und her gerissen. «Ich kann das verhängnisvolle Gespräch in der Praxis einfach nicht vergessen.»
«Aber vielleicht gibt es doch für alles eine plausible Erklärung.» Sie sieht mich aufmunternd an. «Was stand denn eigentlich in seinem Brief?»
«Na, der am Samstag mit der Post kam.» Britta kräuselt die Stirn, dann fügt sie angriffslustig hinzu: «Vermutlich ist er in dem Chaos in deinem Zimmer untergegangen. Da sieht es nämlich aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, Nelly Nitsche.»
Mit hängenden Schultern trolle ich mich in mein Zimmer.
Pah!, denke ich trotzig, das fehlte mir gerade noch, eine Freundin, die sich wie meine Mutter aufführt!
Ich schmeiße meine Yogasachen in eine Ecke und sehe mich im Zimmer um. Tatsächlich herrscht hier das totale Chaos. Auf der Kleiderstange türmen sich die Klamotten. Benutztes Geschirr wartet darauf, in die Küche gebracht zu werden. Im Duschbad liegen die Handtücher auf dem Boden, als hätte ich Personal, das mir hinterherräumt und aus dem Waschbecken auch noch die Haare entfernt.
Beschämend.
Ich habe gehaust wie ein Messie. Britta hat recht. Hier ist nicht mal mehr Platz für einen Kopfstand. Und ich rechne es ihr hoch an, dass sie beim Anblick dieses Saustalls bisher weder den Kammerjäger gerufen noch meine Klamotten einfach aus dem Fenster geworfen hat. Nein, sie hat sich wie eine wahre Freundin benommen und meine Launen ertragen.
Aber jetzt ist Schluss! Eifrig mache ich mich ans Werk, das Chaos zu beseitigen, und nehme mir dabei fest vor, es nie wieder so weit kommen zu lassen.
Es dauert eine Weile, bis der Berg benutzter Klamotten sortiert, das Bett frisch bezogen und der Boden gewischt ist. Und tatsächlich fällt mir beim Aufräumen auch Bens Brief in die Hände. Ich beschließe, die therapeutische Putzorgie für heute zu beenden und endlich seine Zeilen zu lesen.
Nervös öffne ich den weißen, gefütterten Umschlag. Er enthält ein ebenfalls weißes Blatt, auf dem in einer gleichmäßigen, geschwungenen Schrift folgende Worte stehen:
Liebe Nelly,
leider hast du auf keinen meiner Anrufe reagiert, deshalb ist dies ein weiterer, verzweifelter Versuch, deine Verzeihung für mein Verhalten zu erlangen.
Immer mehr wird mir bewusst, wie feige es war, dir nicht sofort die Wahrheit über meine Firma zu gestehen. Es war egoistisch, dich diesem unmöglichen Gespräch mit Vera auszusetzen. Und das nur, weil ich Angst vor einer Szene am Bahnhof hatte. Mir war es schon immer peinlich, in der Öffentlichkeit aufzufallen. Das ist aber auch die einzige Wahrheit, die diese Frau über mich erzählt hat. Alles andere war gelogen, jedes einzelne ihrer abscheulichen Worte.
Ich schwöre dir, Nelly, ich habe keine Gefühle für sie und auch für keine andere Frau. Es gibt weder Zukunftspläne, noch war ich jemals verlobt. Die Sache mit Vera war nichts weiter als eine Affäre, die ich mein Leben lang bereuen werde.
Bitte, Nelly, gib mir eine Chance, dir alles in Ruhe zu erklären und alle Missverständnisse zu beseitigen. Melde dich, oder lass mich wissen, was ich tun kann, damit du mir glaubst!
Ich liebe dich
Ben
Der Brief berührt mich mehr, als ich erwartet habe. Vollkommen überzeugt hat er mich zwar nicht, aber irgendwo in meinem Hinterkopf befindet sich eine zaghafte Stimme, die mir zuflüstert, dass Ben sein Verhalten aus tiefstem Herzen bereut. Aber wieso hat er dann in der Praxis nicht gleich alles aufgeklärt? Warum hat er so verräterisch geschwiegen? Lasse ich mich vielleicht nur von seinem romantischen Werben beeinflussen?
Mist. Ich weißt überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll.
«Willst du auch Tee?» Britta steht in der Tür und sieht mich fragend an. Dann kommt sie auf mich zu und legt mir einen Arm um die Schulter. «Ich hab es eben nicht so gemeint, Nelly. Verzeih mir. Das war unnötig.»
«Nein, du hattest recht.» Nachdenklich falte ich das Blatt zusammen und stecke es zurück ins Kuvert. «Vielleicht sollte ich wirklich erst mal in Ruhe über alles nachdenken und mein Leben sortieren.»
Ich folge ihr ins Arbeitszimmer, wo Britta die Teekanne stehen hat. Ein Blick auf den Computer zeigt mir, dass auch sie sich in der letzten Stunde intensiv mit Ben beschäftigt haben muss. Auf dem Bildschirm ist nämlich wieder die Facebook-Seite zu sehen mit den Bildern von Ben und Vera.
Ich komme nicht umhin, einen Blick daraufzuwerfen. Ben sieht wirklich gut aus, und seine grünen Augen strahlen, als ob –
Moment mal. Irgendetwas lässt mich stutzen.
«Bist du ganz sicher, dass der Typ auf dem Foto Fritz Möller ist?», frage ich Britta, die mir interessiert über die Schulter schaut.
«Hundertpro!»
«Mmm, aber irgendetwas stimmt da nicht. Irgendwie sieht er anders aus als der Ben Reuther, den ich kenne …» Und plötzlich durchfährt es mich wie ein Blitz. «Diesem Ben fehlt nämlich etwas ganz Wesentliches!»
«Was denn?», unterbricht mich Britta. «Das Wort Idiot auf der Stirn?»
«Quatsch. Ben hat eine Narbe rechts auf der Stirn. Aber bei diesem Mann ist nichts davon zu sehen. Er kann also gar nicht mein Ben sein. Möglicherweise hat er mich also doch nicht belogen», erkläre ich mit klopfendem Herzen und ärgere mich, im KaDeWe kein Foto mit meinem eigenen Handy gemacht zu haben.
«Schon mal was von Photoshop gehört?», murmelt Britta und blickt mich fragend an. «Statisten sind wie alle Menschen in dieser Branche sehr eitel. Er könnte die Narbe fürs Foto entfernt haben. Das geht ruck, zuck.»
«Möglich», gebe ich zu, doch mein krauses Gehirn spinnt schon eine neue Idee. «Aber ich weiß, wie wir herausfinden können, ob es tatsächlich mein Ben ist, der hier an Veras Busen klebt.»