Durchatmen. Und nicht nervös werden. Es gibt kein Problem.
Schnaufend liege ich ausgestreckt auf einer rosa Matte und versuche mich zu entspannen. Ach, was soll’s, sage ich mir. Ich werde diesen doofen Brief einfach verdrängen und meine Aufmerksamkeit lieber auf den Unterricht richten.
«Atem fließen lassen … Konzentriert euch auf euren Körper … fühlt die Bewegungen …»
Mist.
Es funktioniert nicht. Ich kriege den Schrieb einfach nicht aus dem Kopf. Dabei muss ich mich zusammenreißen! Sonst gefährde ich meine Existenz.
Nein! Das darf nicht passieren. Deshalb sollte ich auch Ellen, die Neue in der Gruppe, genau beobachten. Sie hat zwar angegeben, Yogaerfahrung zu haben, aber manche Anfänger behaupten das nur, um nicht korrigiert zu werden. Im Moment sehen ihre fließenden Bewegungen jedoch tatsächlich so aus, als besuche sie heute nicht zum ersten Mal eine Yogastunde.
«Schulterbrücke … Beckenboden anspannen … Atem fließen lassen … auf eure Mitte konzentrieren … Ausatmen … Einatmen», weise ich meine Schülerinnen mit sanfter Stimme an.
Noch sechs Wochen Zeit. Das sind zweiundvierzig Tage. Eintausendundacht Stunden und … Die Minuten kann ich nicht im Kopf ausrechnen.
Praktisch könnten sich aber in jeder dieser Minuten neue Yogaschüler anmelden. Theoretisch wären das dann … wahrscheinlich viel zu viele. Die hätten gar nicht alle Platz in meinem Trainingsraum. Ich habe ja nur den einen. Und der ist gerade mal fünfzig Quadratmeter groß. Ich müsste Neuanmeldungen auf eine Warteliste setzen.
Na bitte: alles ganz einfach. Ich muss mich nicht unter Druck setzen. Panik ist unnötig.
Jetzt aber Konzentration.
«Knie nach außen sinken lassen … Tief durchatmen … Becken zur Decke strecken … Atem fließen lassen …»
Oder ich könnte etwas erben. Allerdings sind Millionäre in meiner Verwandtschaft eine ausgestorbene Spezies. Ob mir jemand die ausstehenden drei Studiomieten leihen würde? Auf die Schnelle fällt mir nur leider niemand ein, der dreitausend Euro übrig hat. Ich könnte natürlich auch bei der Bank nach einem höheren Dispokredit fragen. Nein, meine Beraterin war beim letzten Termin nicht besonders freundlich. Von der kriege ich keinen Cent mehr. Höchstens, wenn ich sie überfalle. Ich musste ziemlich rumheulen, um wenigstens noch die Wohnungsmiete überweisen zu können. Total negativ die Frau. Um die dreißig, ganz hübsch, aber ständig eine hässliche Zornfalte zwischen den Augenbrauen. Nicht ein einziges Mal hat sie mein Lächeln erwidert. Ich war kurz davor, sie zu fragen, ob sie vielleicht auch Geldsorgen hat. Das wäre zwar höchst eigenartig, wo sie doch direkt an der Quelle sitzt, aber immerhin eine plausible Erklärung für ihre miese Laune. Vielleicht hätte ich ihr auch eine Gratisstunde Relaxyoga anbieten sollen, damit sie ihren Kopf von diesen ewigen Summen und Zahlen frei kriegt.
Mist. Schon wieder abgelenkt.
«Ausatmen … Einatmen … Rückenlage … Entspannen … Atem fließen lassen …»
Manchmal fällt es mir ziemlich schwer, loszulassen. Einfach mal an gar nichts zu denken. Daran sind meine starken Naturlocken schuld. Krause Haare, krauses Gehirn, hat meine Großmutter immer gesagt. Von ihr habe ich auch die rotblonden, wilden Locken geerbt – und die konfusen Gedankengänge. Wie bei ihr schwirrt auch mir immer unglaublich wirres Zeug im Kopf herum. Wie fleißige Ameisen rennen die Gedanken durch meine Gehirnwindungen. Dagegen hilft nur Schlaf. Viel Schlaf. Und natürlich Yoga. Damit kann jeder lernen, sich zu entspannen. Ich hab’s schließlich auch gelernt. Zugegeben, heute klappt es nicht so richtig. Aber es ist ja auch verdammt schwer, wenn man nicht weiß, wie man auf so einen bescheuerten Mahnbrief des Vermieters reagieren soll. Zu dumm, dass ich das Schreiben überhaupt geöffnet habe. Normalerweise landen meine Briefe nämlich im Post-Karton. Erst am Monatsende bearbeite ich dann alles. Damit diese dröge Arbeit nicht allzu frustrierend ist, verkleide ich mich dann immer mit weißer Bluse und einem spießigen Rock und spiele Buchhalterin. Sie heißt: «Miss Zahlmeister», entstammt einem alten Buchhalter-Geschlecht und kümmert sich einmal im Monat um den Papierkram. Total effektive Methode. Kann ich nur wärmstens empfehlen. Wie ich zu meiner Überraschung nämlich festgestellt habe, erledigen sich manche Schreiben sowieso von selbst oder sind schlicht nicht mehr aktuell. Leider gibt es aber auch diese berühmten Ausnahmen von der Regel, wie ich heute erkannt habe.
Jetzt muss ich mich aber wirklich zusammenreißen! Neun Schülerinnen warten auf mein Kommando.
«Tief ausatmen … langsamer Übergang in den aufrechten Sitz.»
Ein Glück, dass dies hier ein Kurs für Fortgeschrittene ist und ich nur wenig erklären muss. Dennoch, so zerstreut wie heute habe ich schon lange nicht mehr unterrichtet. Nur gut, dass die Stunde gleich vorbei ist. Dann ist sowieso Schluss für heute.
Die letzten Töne der Entspannungsmusik verklingen. Langsam erheben wir uns, ziehen im aufrechten Stand ein Bein an, stützen den Fuß am Oberschenkel ab, nehmen die Arme für eine bessere Balance zur Seite und verweilen in der Baumstellung.
Nach einigen tiefen, gleichmäßigen Atemzügen lege ich die Hände vor der Brust aneinander und beende die Übung. «Namaste.»
Es folgt eine kleine Verbeugung, dann verabschiede ich mich mit einem philosophischen Gedanken für den Tag: «Die Eile ist der Feind der Klugheit.»
Am Ende der Stunde eine Art Botschaft zu formulieren ist ein Ritual, das ich eingeführt habe, um meinen Unterricht von den kommerziellen Studios abzugrenzen. Yoga bedeutet ja nicht nur körperliche Übungen. Es schärft auch den Geist und harmonisiert das Gemüt.
«Namaste», erwidert die Gruppe den Gruß. Zufriedene Gesichter blicken mich an. Dann schnappen sich meine Schüler ihre Handtücher und eilen zu den Duschen.
Auch ich fühle mich ungeachtet meiner wirren Überlegungen entspannt – zumindest körperlich. Mein gedankliches Abschweifen scheint unbemerkt geblieben zu sein.
«Wie hat es dir gefallen, Ellen?», spreche ich die Neue im Rausgehen an.
«Ja … ganz gut», antwortet sie zögernd und streicht sich eine aschblonde Haarsträhne aus der flachen Stirn. «Aber vielleicht brauche ich doch mehr Power, um den Babyspeck loszuwerden. Nach der dritten Geburt ist das Gewebe ziemlich ausgeleiert, und der Speck sitzt wie zementiert auf den Problemzonen. Weißt schon, hier …» Demonstrativ kneift sie sich an Bauch und Po und rollt verzweifelt mit den Augen.
Seltsam. Sie müsste doch während der Stunde gemerkt haben, dass Yoga nicht nur bedeutet, sich auf der Matte herumzurollen. Wenn sie die einzelnen Übungen genau ausgeführt hätte, wäre sie jetzt schweißgebadet. Ich sehe aber nicht das kleinste Schweißtröpfchen auf ihrer hellen Haut. Offensichtlich hat sie sich nicht genügend angestrengt.
«Schon klar», stimme ich ihr sanft lächelnd zu. «Mit drei Kindern bist du ein ganz anderes Tempo gewohnt. Gegen Babyspeck kann ich dir den Rückbildungskurs empfehlen. Der konzentriert sich speziell auf diese Partien. Ich kann dir versprechen, dass du danach außer Atem bist … Draußen im Vorraum am Empfangstresen liegt der neue Stundenplan. Einen Mutter-Kind-Kurs werde ich demnächst übrigens auch abhalten.»
«Mmm», nuschelt Ellen mäßig interessiert und verschwindet Richtung Umkleide. Im Vorraum sehe ich aber, wie sie tatsächlich nach einem Plan greift.
«Hat mich gefreut, dass du mitgemacht hast», rufe ich ihr nach und sehe plötzlich drei imaginäre Babys an ihren wohlgerundeten Hüften hochklettern. Vielleicht sollte sie ihren Speck lieber behalten. Da würden die süßen Kleinen doch viel gemütlicher sitzen als auf knochendürren Modelhüften.
Britta, meine beste Freundin, steht unvermittelt neben mir und sieht mich besorgt an. Sie sorgt sich oft – nicht nur um mich. Meistens sind es hochsensible Schauspieler, um die sie sich als Chefin ihrer erfolgreichen Casting-Agentur kümmert. Das Umsorgen und das Kümmern liegen in ihrer Natur. Sie ist einfach der mütterliche Typ mit großem Herzen und großer Figur. Britta selbst bezeichnet sich gern als XL-Beauty. Und mit ihren halblangen, brünetten Haaren, den blauen Augen, dem vollen Mund und dem ebenmäßigen Gesicht ist sie in meinen Augen tatsächlich eine umwerfendene Schönheit – auch ohne Modelmaße.
«Nee, wieso sollte sie meckern?», frage ich irritiert und zwirble verlegen eine Haarsträhne um meinen Zeigefinger, während wir aus dem Trainingsraum schlendern.
Britta wischt sich den Schweiß aus ihrem üppigen Dekolleté. «Na ja, mir ist aufgefallen, dass du heute nicht ganz bei der Sache warst. Und du zupfst mal wieder an deinen Haaren. Du hast doch was!»
Mist, sie hat’s bemerkt. Leugnen hat keinen Zweck. Britta besitzt nicht nur hypersensible Mutter-Antennen, die jedes noch so schwache Notsignal orten, sie kennt auch alle meine Marotten. Haarezwirbeln ist nur eine davon.
Für mich ist Britta die beste Freundin, die man haben kann. Wir kennen uns schon seit der Kindheit. Sie ist im Nebenhaus aufgewachsen, und obwohl sie älter ist, durfte ich sie zur Schule begleiten. Später half sie mir, meine Pickel zu überschminken und mich für meine ersten Partys zurechtzumachen. Zeitversetzt erlebten wir die erste Liebe, halfen uns über den unvermeidlichen Liebeskummer hinweg und dienten, wenn nötig, der anderen als Alibi. Als Britta dann in die Filmbranche reinrutschte, ging sie für ein paar Jahre nach München, und unser Kontakt schlief vorübergehend etwas ein. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es zum größten Teil meine Schuld war, weil ich immer wieder vergaß, mich zu melden. Doch eines Tages, kurz nach der Eröffnung meines Yogastudios, stand sie plötzlich vor mir. Sie meldete sich für einen Kurs an und schickte mir auch noch jede Menge Bekannte und Freunde. Ohne ihre Unterstützung wäre mein Start in die Selbständigkeit sicher nicht so glatt verlaufen.
Seufzend zeige ich ihr den Brief des Vermieters, den ich unter dem Tresen deponiert habe. Britta liest mit hochgezogenen Brauen.
«Nelly, ich weiß ja, wie vergesslich du bist.» In ihrem Blick liegt etwas Amüsiertes. «Hat nicht auch Sven deshalb mit dir Schluss gemacht? Du vergisst ja sogar deinen eigenen Geburtstag.»
«Ach, Geburtstage», winke ich ab. «Daran erinnert mich meine Mutter. Und Sven ist ein spießiger Pünktlichkeits-Freak. Der flippt schon wegen lächerlicher fünf Minuten aus. Sein Leben verläuft genauso langweilig und schnurgerade wie sein exakter Scheitel. Wir wären niemals glücklich miteinander geworden. Wir konnten uns ja nicht mal über die Farbe der Wände einigen.»
«Aber die Miete nicht zu bezahlen!», fährt Britta vorwurfsvoll fort. «Dafür gibt es doch Daueraufträge, du Träumerin.»
«So weltfremd, wie du glaubst, bin ich auch wieder nicht. Natürlich werden Miete, Strom und so normalerweise per Einzugsauftrag abgebucht. Der blöde Überziehungskredit ist aber leider am Limit. Die Bank zahlt nicht mehr.»
Britta ist entsetzt. «Du bist bei deiner Bank so hoch verschuldet?»
«Das sind doch keine Schulden», beruhige ich sie, «ich habe nur mein Konto etwas überzogen. Das ist völlig normal.»
«Sobald man das Konto überzieht, nimmt man einen Kredit in Anspruch, und das nennt man dann Schulden, Nelly», klärt mich Britta kopfschüttelnd auf. «Die Banken berechnen ziemlich hohe Zinsen dafür. Und eh du dichs versiehst, wachsen sie dir über den Kopf. Du solltest überlegen, wo du sparen und Kosten reduzieren kannst.»
«Hab ich doch längst», verkünde ich nicht ohne Stolz. «Valerie, die bis vor kurzem den Vormittagsunterricht gab, habe ich bereits entlassen. Ich gebe jetzt alle fünf Stunden selbst. Einschließlich der ersten, um zehn Uhr morgens. Und da ich ja wieder Single bin, kann ich mich jetzt voll und ganz auf meine Karriere konzentrieren. Es wird schon wieder. Und wegen der Bank … Na ja … Sobald sich ein paar neue Mitglieder angemeldet haben, ist dieses alberne Problemchen von der Matte.»
«Ach ja?» Britta scheint nicht überzeugt. «Mir kamen die Kurse in letzter Zeit eher leer vor.»
«Ja, leider», stimme ich ihr schwermütig zu. «Seit ein, zwei Monaten flattern mehr Kündigungen als Neuanmeldungen ins Haus. Allein die beiden Vormittagskurse zwischen zehn und zwölf Uhr sind noch gut besucht, von Müttern, deren Kinder in dieser Zeit in der Schule sind. Es darf nur nicht so weitergehen, sonst bin ich …» Ich beende den Satz nicht, um nichts heraufzubeschwören.
Erschrocken sieht Britta mich an und lässt sich auf einen der weißen Stühle fallen, die im Vorraum um drei kleine Tische stehen. In ihrem pflaumenblauen Outfit passt sie perfekt vor die weiß-lila gestreifte Wand mit der überdimensionalen Hibiskusblüte direkt hinter ihr. Nur dass ihr gerade die gesamte Lebensenergie ausgegangen zu sein scheint.
«Du meinst … sonst bist du pleite?», flüstert sie fassungslos und schüttelt ihr weißes Handtuch, als könne sie die benötigten Scheinchen damit hervorzaubern. «Hast du denn keine Rücklagen?»
Zum Glück ist niemand in der Nähe. So eine peinliche Unterhaltung könnte auch noch die letzten Schülerinnen verschrecken. Dann wäre ich tatsächlich ruiniert.
«Rücklagen? Machst du Witze?», entrüste ich mich und zeige mit ausgestreckten Armen in die Runde. «Alles, was ich hatte, steckt hier drin.»
«Du meinst, die gesamte Erbschaft deiner Großmutter?» Britta starrt mich mit weitaufgerissenen Augen an und scheint es nicht glauben zu können.
Seufzend bestätige ich ihre Vermutung. «Du hast doch gesehen, wie diese marode Hinterhofklitsche vorher aussah. Eine heruntergekommene Schusterwerkstatt, die einige Jahre leerstand und vor sich hin gammelte. Fünfzigtausend Euro reichten da gerade mal für die nötigsten Umbauten. Und ich habe weder geprotzt noch teure Materialien verwendet.» Mit einem gewissen Besitzerstolz blicke ich mich um. «Für weniger wäre mein Traum aber nicht zu verwirklichen gewesen. Die beiden Stützsäulen waren kostspielig, aber unbedingt notwendig, um aus zwei kleinen Räumen einen großen Trainingsraum zu machen. Parkett musste wegen der Hygiene sein. Umkleideraum und Duschen sowieso. Der einzige wirkliche Luxus ist die exotische Wandgestaltung. Aber du musst zugeben, dass sie dem Vorraum eine besondere Note verleiht. Jedenfalls machst du dich ausgesprochen gut vor dem farbenfrohen Kunstwerk.»
Kaum habe ich meinen kleinen Vortrag beendet, atme ich tief durch und straffe meine Schultern. Mit neunundzwanzig Jahren seinen Traumjob gefunden zu haben und selbständig zu sein ist kein Grund, depressiv zu werden. Schon eher einer, sich zu freuen.
Aufmunternd lächle ich sie an. «Zerbrich dir nicht meinen Kopf. Eine Nacht drüber schlafen, und schon sieht die Welt wieder ganz anders aus.»
Britta schüttelt den Kopf und schweigt.
«Ich war übrigens nur deshalb etwas unkonzentriert», fahre ich in meiner Verteidigungsrede fort, «weil ich nachgerechnet habe, wie viele Neuanmeldungen nötig wären, um aus den roten Zahlen rauszukommen. Ich bin da sehr zuversichtlich. Yoga ist doch total angesagt. Und so ein Mahnbrief ist noch keine Kündigung. Vermutlich meint Jacobi es nicht so ernst. Vergiss den doofen Schrieb einfach! Ich denk schon gar nicht mehr daran.»
Seufzend gibt mir Britta den Brief zurück. «Wäre Probleme verdrängen eine Kunst, wärst du eine begnadete Künstlerin, Nelly. Entweder, du rechnest dir die Angelegenheit schön, oder du spielst Dornröschen: Legst dich schlafen und hoffst, dass sich alle Widrigkeiten über Nacht in Luft auflösen. Aber sag mir Bescheid, bevor dir das Wasser bis zum Hals steht. Ich bin zwar selber ziemlich knapp bei Kasse, seitdem ich meine Wohnung gekauft habe, doch du kannst immer auf mich zählen.»
Spontan umarme ich Britta. «Mir wird schon was einfallen.»
Gegen halb neun verlassen wir geduscht und umgezogen das Studio. Ich trage wie üblich eine bequeme Jeans, darüber ein hellblaues Schlabbershirt und ein Käppi auf dem Kopf, um meine nervigen Haare zu bändigen. Meine Füße stecken in schlichten, blauen Flipflops, und über den Schultern baumelt ein hellbrauner Rucksack, in dem ich meine Trainingsklamotten transportiere. Alles in allem ein vollkommen unspektakulärer Look. Als Yogalehrerin muss ich ja nicht jedem Modetrend hinterherlaufen. Auch deshalb ist es mein Traumjob: Ich mach mir nämlich nichts aus Trends, und Eitelkeit ist eine Eigenschaft, die mir gänzlich fehlt.
Im Unterschied zu meiner Nichtfrisur glänzt Brittas dunkles, halblanges Haar frisch gewaschen. Und ihr Outfit ist wie immer sehr modisch. Heute trägt sie eine helle Hose mit einer taillierten, dunkelgrünen Jacke im trendigen Knitterlook, dazu helle Leinenstiefel. Brittas Garderobe setzt sich zum großen Teil aus Berliner Mode-Labels zusammen, die für meinen Geldbeutel sowieso zu teuer wären. Ein flüchtiger Beobachter hält uns sicher nicht für enge Freundinnen. Aber uns ist das egal.
Gemeinsam schlendern wir Richtung Turmstraße, wo Britta ihren Wagen geparkt hat. Es ist einer dieser milden Juliabende, an denen die Luft nach Lindenblüten riecht und keiner nach Hause will.
«Sollen wir noch einen Stopp einlegen?», fragt Britta, als wir Beim ollen Wilhelm, einer Urberliner Kneipe, vorbeikommen.
«Gerne, nach drei Unterrichtsstunden habe ich immer einen Bärenhunger.»
«Zu Hause ist dein Kühlschrank aber sicher leer, weil du mal wieder vergessen hast, ihn aufzufüllen, richtig?» Britta sieht mich grinsend an. «Kein Wunder, dass du nicht dick wirst. Vermutlich wiegst du keine fünfzig Kilo.»
«Keine Ahnung, ich hab doch keine Waage. Aber ich bin ja auch viel kleiner als du und trainiere …» Ich beende den Satz nicht, sonst denkt Britta noch, es wäre eine Anspielung auf ihre Figur.
Aber es ist schon geschehen. «Ach ja», stöhnt sie genervt. «Ich wünschte, mein Job würde mir mehr Zeit für Sport lassen, dann würde mich die neue Hose nicht schon wieder am Bauch zwicken.»
Und ich wünsche mir insgeheim, lediglich ein Figurproblem zu haben, denke ich und hake mich bei meiner Freundin unter. «Was hältst du von ein paar privaten Trainingsstunden? Du hast mich mit so vielen Empfehlungen unterstützt, dass ich mich gern revanchieren möchte», sage ich und biete ihr spontan den Sonntag an. «Da hab ich immer frei, und bei dir könnte es auch klappen.»
Überrascht blickt Britta mich an. «Nelly, was für eine phantastische Idee! Dafür lade ich dich zu einer Bulette ein.»
Wie gesagt: Meine Freundin hat ein großes Herz.
Unsere Stammkneipe ist ein uriges Lokal aus der Gründerzeit mit dunkel gewordener Holztäfelung an Wänden und Decke. Hier werden aber noch keine Busladungen mit Touristen vor der Tür ausgekippt, die Berliner Kneipenluft schnuppern wollen. Hier sind Krethi und Plethi noch unter sich.
Wir finden zwei freie Plätze in einer gemütlichen Ecke und bestellen Bier und Buletten bei Rudi. Für seine berühmten Fleischklopse verwendet der immer gutgelaunte Wirt ausschließlich Fleisch von garantiert freilaufenden bayerischen Glückskühen, die auf saftigen Bergwiesen nur pestizidfreies Gras gefressen haben.
«Hast du eine Ahnung, warum die Mitgliedschaften im Einzelnen gekündigt wurden?», erkundigt sich Britta, als wenig später unser Essen kommt. «Ich meine: Sind das faule, übergewichtige Couchpotatos, die lieber auf dem Sofa abhängen? Oder eher diese athletischen Fitnessfreaks, die unbedingt an coolen High-Tech-Geräten trainieren wollen?»
«Wenn ich das wüsste, Britta», seufze ich deprimiert und stippe die köstlich duftende Bulette in den Mostrich.
Verwundert blickt sie mich an. «Willst du mir weismachen, dass du deine Kunden nicht kennst? Es muss dir doch auffallen, wer nicht mehr zu den Stunden erscheint.»
«Ja, das schon», räume ich ein. «Aber den tatsächlichen Grund kenne ich leider nicht. Kündigungen kommen doch schriftlich, und jemanden direkt darauf anzusprechen wäre taktlos. Außerdem hätte da bestimmt jeder eine Ausrede parat.»
«Mmm», stimmt Britta mir kauend zu. «Dennoch würde ich mir an deiner Stelle mal die Konkurrenz in der Nähe ansehen.»
Selbstbewusst straffe ich meine Schultern. «Ach, da gibt es nur dieses Sportzentrum in der Turmstraße. Und die bieten kein Yoga an.»
«Sicher?», fragt meine besorgte Freundin.
«Ja. Deshalb war Moabit ja so ideal für mich. Der Kiez ist eben noch nicht so ’ne In-Gegend wie Mitte, wo alle naslang ein neues Studio eröffnet. Ich habe die Nebenstraßen rund um die Bremer Straße gründlich gecheckt, bevor ich den Mietvertrag unterschrieben habe. Das kannst du mir glauben. Mein Laden liegt in einer 1-a-Lage mit direktem U-Bahn-Anschluss.»
Andächtig wischt Britta den Mostrichklecks auf dem Teller mit einem Stück Schrippe zusammen. «Glaub ich dir ja alles, Nelly. Aber das war vor einer Ewigkeit, oder?»
«Zwei Jahre, beinahe auf den Tag genau», relativiere ich.
Energisch schiebt Britta ihren Teller zur Seite und mustert mich mit gerunzelter Stirn. «Aufwachen, Nelly! In zwei Jahren kann viel passieren. Man kann heiraten, ein bis zwei Kinder kriegen und sich wieder scheiden lassen. Oder eben mit einem kleinen Yogastudio Pleite machen, weil man immer noch keine eigene Website hat, ausgerechnet sonntags einen Ruhetag einschiebt und den neuen Fitnessclub in der Nachbarschaft ignoriert.» Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll. «Moabit wird langsam, aber sicher auch hip. Ist dir nicht aufgefallen, wie in deiner Nachbarschaft immer mehr Häuser renoviert werden? Der Laden in der Turmstraße zieht die Leute magisch an wie ein Millionär arme Mädchen. Und wer auf der Suche nach einem Typen mit dicker Brieftasche ist, lernt ihn dort vermutlich eher kennen als nachts in irgendwelchen Clubs.»
«Echt?», huste ich ungläubig, weil ich mich bei dieser Hiobsbotschaft glatt an meiner Bulette verschluckt hab.
«Ja, echt, Miss-Augen-zu-und-schlafen-legen. Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Fitnessclub nicht ganz unschuldig an deinem Mitgliederschwund ist. So leid es mir tut, dir das sagen zu müssen, Nelly: Der Laden ist nicht übel. Alles auf dem neuesten Stand. Jede Menge Geräte, dazu Sauna, Massagen und –»
«Trainierst du etwa fremd?», fahre ich sie ungewollt heftig an.
«Quatsch. Ich würde dir nie untreu werden. Vorletzte Woche wurde dort für eine Telenovela gedreht. Ich hab nur die Schauspieler abgeliefert und mich ein wenig umgesehen. Und, Nelly …» Britta beugt sich ganz dicht zu mir. «Sie bieten auch Yoga an.»
Mist!
Habe ich die Konkurrenz wirklich unterschätzt? Na, die werden sich noch wundern!