Kapitel 7
Du hast Hausarrest.« Pescoli funkelte ihre Tochter an, die soeben zur Vordertür hereingeschlichen kam.
»Warum?«, fragte Bianca auf dem Weg in ihr Zimmer, während Cisco, der auf einem Kissen auf dem Sofa geschlafen hatte, auf den Fußboden sprang und anfing, wie verrückt mit dem Schwanz zu wedeln.
»Machst du Witze?«, schimpfte Regan. »Du hast die Schule geschwänzt.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass ich mich nicht wohl fühle«, erwiderte Bianca und blieb stehen.
»Ach.«
»Wie auch immer.« Regans Tochter streifte sich mit den Zähnen die Handschuhe ab und bückte sich, um dem Hund den Kopf zu streicheln, dann marschierte sie schnurstracks zum Kühlschrank. Sie warf ihre Handschuhe auf den Tisch mit der Post, riss die Tür auf und starrte hinein. »Gibt es hier nichts zu trinken?«
Pescoli, die ihr gefolgt war, knallte die Kühlschranktür mit der flachen Hand zu.
»He! Pass doch auf!«, rief Bianca und sprang rasch zurück. Empört blickte sie ihre Mutter an. Sie war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Mit einer raschen Handbewegung zog sie sich die Mütze vom Kopf und schleuderte sie auf den Tisch zu den Handschuhen. »Was ist dein Problem?«
»Genau das möchte ich von dir wissen.«
»Noch einmal: Es geht mir nicht gut. Kapiert?« Sie starrte ihre Mutter an, als wäre diese schwer von Begriff.
»Du hast mich nicht angerufen, und du bist auch nicht nach Hause gekommen.«
»Ich war bei Chris!«
»Anstatt zum Unterricht zu gehen?« Pescoli trat einen Schritt zurück und gab den Weg zum Kühlschrank frei.
»Mir war nicht gut.« Bianca nahm sich eine Dose Cola light und zog den Verschluss auf.
Knack. Zisch.
»Wenn es dir nicht gutgeht, dann hast du mich anzurufen und mir mitzuteilen, dass du a)« – sie streckte einen Finger in die Höhe – »nach Hause kommst und b)« – ein zweiter Finger folgte – »zum Arzt gehst. Andere Alternativen gibt es nicht.«
»Ich könnte Dad anrufen.« Bianca nahm einen Schluck aus ihrer Dose.
»Hast du?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil es keine richtige Alternative ist, vermute ich.« Ein weiterer Schluck Cola light.
»Genauso wenig, wie zu Chris zu gehen. Waren seine Eltern zu Hause?«
»Nein. Was denkst du denn? Sie arbeiten!«
»Eben.«
»Ich brauche doch keinen Babysitter!«
»Da bin ich mir nicht sicher«, entgegnete Pescoli. »Also, was habt ihr gemacht?«
Ihre Tochter zog die Augenbrauen zusammen. »Rumgehangen. Was denkst du denn? Ach Gott, ich weiß schon. Du denkst, wir hätten Sex gehabt oder so was.«
Pescoli krümmte sich innerlich. »Ja, wenn du stundenlang allein mit deinem Freund zusammen bist und alle um dich herum deswegen belügst, gehe ich schon davon aus, dass du dich in ernsthafte Schwierigkeiten bringst!« Sie bemerkte ihren anklagenden Tonfall und schraubte etwas zurück. »Na schön … also … erzähl mir, was ihr gemacht habt. Ich weiß, ich weiß, ihr habt ›rumgehangen‹, aber ich würde mich freuen, wenn du dich ein wenig genauer ausdrücken könntest.«
»Wir haben ferngesehen, Videospiele gemacht, einen Film ausgeliehen … keine große Sache.«
»Außer dass du in der Schule gefehlt hast«, fügte Pescoli mit ruhiger, ernster Stimme hinzu. »Es war eine große Sache, Bianca. Eine sehr große Sache. Ich weiß nicht, was da zwischen dir und Chris läuft, aber was immer es ist: Es lohnt sich nicht, deswegen blauzumachen und dem Unterrichtsstoff hinterherzuhinken!«
»Du bist so lächerlich! Ich habe doch bloß ein paar Filme angeschaut!« Sie schnaubte beleidigt und stolzierte zur Küchentür. Pescoli hielt sie am Ellbogen fest und drehte sie zu sich herum.
Nase an Nase mit ihrer fünfzehnjährigen Tochter, sagte sie: »Es geht hier nicht um mich, Bianca. Versuch nicht, abzulenken. Es geht um dich, um dein Verhalten und die Konsequenzen daraus, und ja, in der Tat, um den Rest deines Lebens, den du dir ganz offensichtlich versauen möchtest.«
»Geh mir nicht auf den Wecker!«
»Doch, genau das werde ich tun. Zumindest in den nächsten paar Jahren.«
Bianca riss ihren Arm weg. »Ich könnte das Jugendamt anrufen! Du darfst mich nicht anfassen!«
»Hat Chris dir das erzählt?«
Pescoli griff nach dem Telefon, nahm den Hörer ab und hielt ihn ihrer Tochter vors Gesicht. »Nimm. Ruf an und warte, was passiert. Wenn sie dir glauben, werden sie dich aus diesem Haus holen. Wo willst du hin? Zu deinem Vater? Zu einer Pflegefamilie? Ist es das, was du möchtest?«
»Schon möglich!«
Obwohl es ihr schier das Herz zerriss, sagte Pescoli: »Gut, dann ruf an.«
Bianca beäugte das Telefon, und für eine halbe Sekunde glaubte Regan, sie würde tatsächlich anrufen. Nach einer weiteren halben Sekunde war es ihr schon vollkommen egal. Sie würde sich nicht von einer Fünfzehnjährigen erpressen lassen. Entschlossen drückte sie ihrer Tochter den Hörer in die Hand.
»Sie – sie werden mir nicht glauben«, stammelte Bianca. »Du bist Polizistin! Du wirst doch alles verdrehen!« Sie knallte den Hörer auf den Küchentresen und stapfte zu ihrem Zimmer.
»Wenn du die Tür zuschlägst, nehme ich sie aus den Angeln! Ich meine es ernst, Bianca!«, brüllte Regan hinter ihr her.
Wamm! Das Haus erbebte. Cisco jaulte erschrocken auf.
»Verflucht noch mal!«, murmelte Pescoli, ließ das Telefon auf dem Tresen liegen und machte sich auf den Weg in die Garage, wo sie Joes uralte Werkzeugkiste hervorkramte.
Gerade als sie die Kiste ins Haus geschafft hatte, wurde die Haustür aufgestoßen, und herein marschierte ihr eins neunzig langer Schlaks von Sohn, gefolgt von einem eiskalten Windschwall. Cisco drehte wieder durch und umkreiste ihn kläffend und jaulend.
»He, Cis«, sagte Jeremy, bückte sich und hob den sich windenden Hund mit seinen großen, behandschuhten Händen hoch. Wenngleich er schon elf Jahre alt war, hielt sich Cisco offenbar immer noch für einen Welpen und leckte eifrig Jeremys unrasiertes Gesicht. »Was gibt’s zum Abendessen?«
»So weit war ich noch nicht«, antwortete Pescoli.
»Was hast du mit Dads Werkzeug vor?«
»Ich war gerade dabei, die Zimmertür deiner Schwester aus den Angeln zu heben.«
»Oh, Mom, tu’s nicht.« Er setzte den Hund ab und zog seine Handschuhe aus, die er in die Taschen seiner Daunenweste steckte.
»Warum nicht?«
»Das ist lahm.«
»Die Tür so fest zuzuknallen, dass sie fast den Türpfosten zerschmettert, ist auch nicht besser.«
Jeremy zog sich die Mütze vom Kopf. Seine Haare flogen statisch aufgeladen hoch, was ihn noch größer und irgendwie entsetzt aussehen ließ.
»Du kannst mir helfen«, schlug sie vor.
»Auf keinen Fall … nee, nee, aus dem Zickenkrieg halte ich mich raus.«
»Was machst du hier? Solltest du nicht bei der Arbeit sein?«
Plötzlich blickte er unbehaglich drein, glättete sorgfältig seine Haare und wich genauso sorgfältig ihrem prüfenden Blick aus.
»Was ist passiert?«
Er zögerte. »Okay, ich bin entlassen.«
Ihr Herz setzte zu einem Sturzflug an. »Warum?«
Er zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Aus wirtschaftlichen Gründen, schätze ich.«
»Schätzt du? Du weißt es noch nicht einmal?« So etwas konnte sie jetzt ganz und gar nicht gebrauchen.
Jeremy stieß einen lauten Seufzer aus, dann ging er ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Die alten Federn ächzten. Cisco sprang auf seinen Schoß. Abwesend tätschelte er das Köpfchen des Hundes. »Ich bin gefeuert.«
»Gefeuert«, wiederholte sie vorsichtig.
»Lou behauptet, ich hätte gestohlen, die Belege hätten nicht gestimmt.« Bedrückt sah er zu ihr hoch. »Ich schwöre bei Gott, Mom, ich habe das nicht getan.« Sein Adamsapfel hüpfte, die großen Hände umklammerten seine Knie.
»Hast du Lou das gesagt?«
»Mindestens hundertmal! Und weißt du, was? Ich glaube, es war entweder Manuel oder sogar Lou selbst, der seinen Hintern retten will. Manuel ist ein guter Kerl. Aufrichtig. Aber das habe ich von Lou auch gedacht! Verdammt!« Er biss die Zähne zusammen. »Wie konnte das bloß passieren?«
Ihr Herz hämmerte, und sie spürte eine Mischung aus Wut und Furcht in sich aufsteigen. »Ich weiß nicht, wie, Jeremy, aber du musst das wieder hinbiegen. Die Sache aufklären. Wenn du es nicht warst –«
»Wenn? Meinst du das ernst? Du glaubst mir nicht?« Ihr Sohn wirkte schockiert und verletzt, seine Lippen zitterten. »Komm schon, Mom!« Er donnerte die Faust auf die Sofalehne und erklärte mit Nachdruck: »Ich bin kein Dieb! Jemand hat mir das angehängt!«
»Du hast mich nicht ausreden lassen, Jeremy. Ich wollte sagen, wenn du es nicht warst, musst du denjenigen finden, der es getan hat. Und du musst es beweisen. Das dürfte nicht allzu schwer sein. Die Tankstelle hat Überwachungskameras und Aufzeichnungen von sämtlichen Geschäftsvorgängen.«
»Bist du wahnsinnig? Glaubst du im Ernst, die rücken einfach so damit raus?«
»Das werden sie müssen, wenn du sie verklagst. Dein Rechtsanwalt wird –«
»Ich habe keinen Rechtsanwalt, und ich kann mir auch keinen leisten. Komm mal zurück auf den Boden!« Er stand auf und ging zur Treppe.
»Wohin gehst du?«
»In mein Zimmer.«
»Du bist ausgezogen, erinnerst du dich?«
»Es ist immer noch mein Zimmer.« Er setzte seine großen Füße auf die Stufen.
»Ich wollte ein Nähzimmer daraus machen.«
»Du nähst doch nicht mal!«, rief er, eilte die Treppe hinunter und schlug die Tür zu, wenn auch nicht mit derselben selbstgerechten Leidenschaft wie Bianca.
»Als Mutter bin ich eine Versagerin«, vertraute Pescoli dem Hund an. »Eine absolute, komplette Versagerin.« Sie öffnete die Werkzeugkiste und suchte nach einem Schraubenzieher, mit dem sie die Tür aus den Angeln hebeln wollte. Nachdem sie sich durch selten benutzte Drahtscheren, Zangen und Schraubenschlüssel gewühlt hatte, fand sie einen langen Schraubenzieher mit Farbtropfen darauf, den sie normalerweise zum Aufstemmen widerspenstiger Farbeimer verwendete. Gerade wollte sie sich an Biancas Tür zu schaffen machen, als ihr Handy klingelte.
Sie drückte auf »Gespräch annehmen«. »Pescoli?«
»Alvarez«, meldete sich ihre Partnerin. »Ich denke, du solltest zu dem Felsvorsprung bei den Wasserfällen kommen. Hinter dem Wandererparkplatz, an der Straße, die den Boxer Bluff hinaufführt. Sieht so aus, als wäre eine Joggerin auf dem Gipfelweg ausgerutscht und über die Brüstung in die Tiefe gestürzt. Hatte keinen Ausweis bei sich.«
»Tot?«
»Fast. Die Rettungssanitäter geben ihr Bestes. Vermutlich ein Unfall. Es ist höllisch glatt da draußen.«
»Reichen dir nicht die Fälle, die wir schon bearbeiten?«, fragte Pescoli. »Noch haben wir nicht mal einen Todesfall, geschweige denn einen Mord.«
»Hmmm … ja.«
»Nun, zumindest übertrifft es das, was sich im Augenblick hier abspielt«, befand Pescoli. »Ich mache mich gleich auf den Weg.« Sie warf den Schraubenzieher zurück in die offene Werkzeugkiste, dann rief sie in Richtung der geschlossenen Zimmertür ihrer Tochter: »Gnadenfrist, Bianca, aber nur eine kurze. Ich bin bald wieder da.« Ausnahmsweise verzichtete sie darauf, ihre Stimme klingen zu lassen wie die von Arnold Schwarzenegger.
Cisco trottete ihr hinterher, als sie zur Hintertür eilte. »Diesmal nicht«, teilte sie dem Hund mit, zog den Reißverschluss ihrer Iso-Jacke hoch und schlüpfte in ihre Stiefel, dann tätschelte sie sein struppiges Köpfchen. »Heute hast du hier die Aufsicht.« Sein Schwänzchen wedelte so heftig, dass sein ganzes Hinterteil in Schwung geriet.
Regan ging durch die Hintertür zur Garage. Von ihrem Jeep tropfte noch immer der schmelzende Schnee.
Sie kletterte hinters Steuer und setzte zurück. Jeremys Wagen stand auf seinem üblichen Parkplatz, als wäre er nie ausgezogen. Ein Teil von ihr wollte zwar, dass er nach Hause zurückkehrte, aber das war reiner Mutterinstinkt. Es wäre falsch, das wusste sie, ein solches Hin und Her hatte sie bei mehreren ihrer Freundinnen und deren Kindern mitverfolgen können.
Ein Jugendlicher musste irgendwann damit anfangen, verantwortungsvolle Entscheidungen zu treffen.
Sie stellte die Automatik auf R und setzte zurück, dann drückte sie auf die Fernbedienung an der Sonnenblende und vergewisserte sich, dass sich das Garagentor hinter ihr schloss.
Wie war es nur dazu gekommen; würden sie und ihre Kinder einander ewig auf die Probe stellen? Als sie vergangenes Jahr in die Fänge eines Irren geraten war und gedacht hatte, sie würde die beiden nie wiedersehen, hatte sie sich geschworen, alles wiedergutzumachen, sich mit ihnen auszusöhnen, entweder ihre Dienstmarke abzugeben oder andere Möglichkeiten zu finden, nur noch vierzig Stunden die Woche zu arbeiten, die Familie über alles zu stellen. Auch Jeremy und Bianca hatten versprochen, ihre selbstsüchtigen Gewohnheiten abzulegen, auf dem rechten Weg zu bleiben, sich um gute Noten und die richtigen Entscheidungen zu bemühen und ihr keine Minute Kummer zu bereiten.
Doch schon am Valentinstag waren all die guten Neujahrsvorsätze längst gebrochen, und sie waren allesamt in ihre alte Routine zurückgefallen.
Vielleicht war es ein Fehler, dass sie nicht bei Santana einzog. Möglicherweise war eine starke Vaterfigur tatsächlich genau das, was Jeremy und Bianca brauchten.
»Es ist nie zu spät«, sagte sie laut zu sich selbst.
Ihre Rolle als alleinerziehende Mutter erfüllte sie so jedenfalls nicht.
Als sie den Stadtrand erreichte, zwang sie sich, die Sorgen um ihre Kinder und die damit einhergehenden Probleme zurückzustellen und sich auf das zu konzentrieren, was vor ihr lag.
Sie fuhr den Boxer Bluff hinauf und sah schon bald die Lichter der Polizei- und Rettungsfahrzeuge durch die Dunkelheit zucken, rote und blaue Blitze im Schnee. Feuerwehrleute, Rettungskräfte sowie mehrere Polizeibeamte waren am Unfallort beschäftigt.
Pescoli parkte ihren Jeep in einer freien Lücke am Straßenrand, gerade als zwei Sanitäter die verunglückte Frau auf einer Trage in den wartenden Rettungswagen schoben. Etwa fünfzehn Schaulustige hatten sich hinter der Polizeiabsperrung versammelt, reckten ihre Hälse und tuschelten aufgeregt. Ein Nachrichten-Van war bereits vor Ort, ein Kamerateam verfolgte jede Bewegung der Sanitäter.
Pescoli stieg aus und hielt Ausschau nach Alvarez. Schließlich entdeckte sie ihre Partnerin. Bekleidet mit Polizeijacke und -hut, stand diese ganz in der Nähe auf einem Felsvorsprung neben einer niedrigen, bröckelnden Brüstung, die auf die Wasserfälle hinausführte, und sprach mit einem Beamten.
Pescoli zeigte ihre Dienstmarke einem der Cops, der offenbar die Aufgabe hatte, allzu neugierige Zuschauer in die Schranken zu weisen.
»Was gibt’s?«, fragte sie ihre Partnerin, nachdem er das Polizeiband angehoben und sie durchgewinkt hatte.
»Sie lebt, aber es sieht nicht danach aus, dass sie durchkommt. Offenbar ist sie joggen gewesen und entweder gestolpert oder ausgerutscht und über die Brüstung gestürzt.« Alvarez deutete auf eine Stelle, wo die gleichmäßige Schneeschicht auf der alten, bröckelnden, nur etwas über einen halben Meter hohen Steinmauer durchbrochen war.
Sie ließ ihre Taschenlampe darübergleiten, dann schwenkte sie über den Felsvorsprung in die Tiefe. »Sie ist auf das schmale Plateau dort unten geprallt, ein Stück abwärtsgerutscht und dann liegen geblieben. Ein paar Meter weiter und sie wäre im Fluss gelandet. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt.« Der Strahl ihrer Taschenlampe glitt über die aufgewühlte Schneedecke.
»Ist sie bei Bewusstsein?«
»Nein. Keine Ahnung, wie lange sie da unten gelegen hat, wie schwer ihre Verletzungen sind und ob sie es überhaupt schaffen wird.« Stirnrunzelnd richtete Alvarez die Taschenlampe wieder auf den Weg. »Zu viele Fußabdrücke und zu viel Schnee, um festzustellen, ob jemand bei ihr war.«
»Und kein Ausweis, kein Auto?«
»Offensichtlich hat ihr Lauftraining nicht hier begonnen, sondern lediglich ein abruptes Ende genommen.«
»Und du nimmst an, dahinter steckt mehr als ein Unfall?«
»Ich weiß es nicht.« Ratlos betrachtete Alvarez den verschneiten Gipfelpfad, auf dem unzählige Schritte zu erkennen waren. »Die Jungs von der Kriminaltechnik tun, was sie können, filtern die Fußabdrücke heraus, die zu ihren Schuhen passen, und suchen nach jedem noch so kleinen Detail, das uns weiterhelfen könnte.«
»Hatte sie denn gar nichts bei sich, womit wir sie identifizieren könnten?«
»Nur einen Schlüssel. Kein Handy, keinen iPod, nichts.«
»Es ist gut möglich, dass sie einfach nur gestolpert oder ausgeglitten ist.«
»Ja.« Alvarez’ Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft.
»Keine Zeugen?«
Ihre Partnerin schüttelte den Kopf.
»Wer hat sie gefunden? Und jetzt sag bitte nicht, Ivor Hicks und Grace Perchant.« Sie bezog sich auf zwei Einheimische, über die man sich recht kuriose Geschichten erzählte. Ivor Hicks behauptete steif und fest, er sei vor Jahren von Außerirdischen entführt worden, und Grace Perchant stand laut eigenen Angaben mit Geistern in Kontakt. Pescoli hielt beide für nicht ganz dicht und schon gar nicht für zuverlässige Zeugen.
»Nein«, sagte Alvarez glücklicherweise. »Iris Fenton hat einen Spaziergang gemacht.« Sie deutete auf eine Frau, eingemummelt in einen dicken Daunenmantel. Sie trug Handschuhe und eine rote Mütze, unter der silberne Löckchen hervorschauten. »Sie wohnt zusammen mit ihrem invaliden Mann auf der gegenüberliegenden Seite des Parks. Ich habe sie bereits überprüft.«
Pescoli nickte.
Alvarez blickte dem abfahrenden Rettungswagen hinterher. »Hoffentlich kommt sie wieder zu Bewusstsein und erzählt uns, das Ganze sei ein übles Missgeschick gewesen.« Dann betrachtete sie die steile Böschung, die tiefe Klamm und den Fluss, der wild schäumend über die Felsen stürzte. »Höllischer Ort, um so heftig ins Schleudern zu geraten, dass es einen über die Brüstung katapultiert, ausgerechnet an der steilsten Stelle. Das nenne ich echtes Pech.«
»Die Kriminaltechniker sind also da, weil wir nicht wissen, wer sie ist?«
Selena nickte. »Ich habe bereits in der Vermisstenabteilung angerufen. Mal sehen, ob wir sie identifizieren können. Unterdessen möchte ich ins Krankenhaus fahren und mit den Ärzten sprechen, um herauszufinden, ob ihre Verletzungen alle von dem Unfall stammen.«
»An den du nicht glaubst.«
»Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen«, sagte Alvarez, griff in ihre Tasche und zog ihre Autoschlüssel heraus. »Kommst du mit?«
»Ich treffe dich dort.«