Kapitel 30
Das Sitzungszimmer war nicht anders ausgestattet als der Rest des Gebäudes. Auf dem grauen Industrieteppich stand ein langer Glastisch, umgeben von zehn schwarzen Lederstühlen. An einer der Wände war ein schmales, niedriges Schränkchen aufgestellt, darüber hing eine Bronzeskulptur mit fliegenden Gänsen. Die anderen beiden Innenwände waren aus Glas, herabgelassene Jalousien verwehrten den Blick ins Innere, während die Außenwand aus einer durchgehenden Glasscheibe bestand, durch die man einen eindrucksvollen Ausblick auf die umliegenden Berge hatte. Dieser Teil des Gebäudes war auf schräg abfallendem Gelände gebaut, so dass man im Sitzungszimmer den Eindruck hatte, sich im oberen Stockwerk zu befinden. Unten lag ein weiterer Teich, Schnee sammelte sich auf der zugefrorenen Wasseroberfläche.
Wenn die gedeckten Farben und die dramatische Aussicht dazu dienen sollten, Ruhe oder Frieden zu suggerieren, so wurde diese Aura gesprengt, als Gerald Johnsons Sprösslinge den Raum betraten und sich zu Kacey, Clarissa und ihrem Vater an den Tisch setzten. Ein paar Blicke gingen in Kaceys Richtung, und obwohl so manch einer davon neugierig wirkte, schien niemand wirklich überrascht zu sein.
Zweifelsohne hatte Clarissa alle vorgewarnt. Sie saß auf dem Stuhl zur Rechten ihres Vaters wie der Apostel Johannes auf Leonardo da Vincis Gemälde »Das Abendmahl«. Gerald Johnsons Älteste öffnete ihre Computertasche und nahm ihren Laptop heraus, ganz so, als wäre das hier ein reguläres Geschäftstreffen und sie wolle sich Notizen machen oder Informationen austauschen.
Sie schaute zu Kacey hinüber, die ihr am Tisch gegenübersaß. In ihrem Blick lag mehr als nur ein Anflug von Verdruss. Clarissa war das klassische Beispiel der bissigen, herrischen Erstgeborenen. Ihr fast schwarzes Haar trug sie kurz geschnitten, mit Strähnchen in einem Farbton irgendwo zwischen blutrot und violett, was ihr schwarzes Kostüm mit dem knielangen Rock ein wenig aufpeppte.
Noch bevor ein Wort gewechselt wurde, betraten nacheinander zwei Männer das Sitzungszimmer: Die Zwillinge, die heute nicht in der Firma gewesen waren, waren eingetroffen. Beide trugen Baumwollhose, Anzughemd und Sakko. Der Erste, das Haar ungekämmt und mit Fünf-Uhr-Bartschatten auf dem kantigen Kinn, trat auf Kacey zu und lächelte sie freundlich an. Seine Nase war nicht ganz gerade, als hätte er sie sich mindestens einmal gebrochen. »Colt Johnson«, stellte er sich vor, als wolle er sie in ein Verkaufsgespräch verwickeln. »Wie ich hörte, bist du unsere lang verschollene Schwester.«
»Das ist so nicht ganz korrekt«, stellte Clarissa klar, aber er ignorierte sie.
Mit den für die Johnsons typischen blauen Augen und dem leicht welligen Haar sah er seinem alten Herrn sehr ähnlich, nur ein wenig feiner: Die scharfgeschnittenen Züge hatte er von seiner Mutter geerbt. »Lass dich nicht von Clarrie verunsichern«, riet er ihr. Clarissa schnaubte, worüber er grinste; kleine Grübchen bildeten sich in seinen Wangen.
»Ich bin Kacey Lambert.« Sie schüttelte seine Hand.
Colt zog eine seiner breiten Augenbrauen in die Höhe. »Nun, Kacey, da hast du dir ja eine höllische Familie ausgesucht.«
»Habe ich das?«
»O ja.« Colt nahm neben Kacey Platz, während sein Zwilling, der ihm auf dem Absatz gefolgt war, sich ihr als Cameron vorstellte. Obwohl er genauso aussah wie Colt, war er frisch rasiert und tadellos frisiert.
»Nur fürs Protokoll: Ich bin der klügere Zwilling«, sagte er, und sein Bruder brach in Gelächter aus.
Clarissa schob das Kinn vor. »Das ist nicht wirklich komisch.«
»Natürlich ist es das«, widersprach Colt. »Ein kleiner Nebenkriegsschauplatz. Willkommen im Familienzirkus der Johnsons.«
Cameron grinste schief und nickte.
Clarissas Lippen wurden schmal.
»Und, macht’s Spaß?«, fragte Cameron, aber offenbar nicht nur an Kacey, sondern an alle Anwesenden gewandt.
Gerald schüttelte den Kopf. »Setz dich einfach hin«, legte er seinem Sohn nahe. Cameron ließ sich auf einen Stuhl einen Platz von Clarissa entfernt fallen, Colt gegenüber. In dem Augenblick traf der vierte Sprössling der Johnsons ein.
Judd.
Sie erkannte ihn von den Fotos, die sie sich angeschaut hatte.
Bislang war er der Größte und hatte die breitesten Schultern. Während die Zwillinge gebaut waren wie Basketballspieler, hatte er den Körper eines Quarterbacks. Sein glattes Haar war pechschwarz, fast bläulich, sein Gesicht gründlich rasiert. Er trug einen schwarzen Geschäftsanzug, ein gestärktes weißes Hemd und sah aus wie der typische Firmenanwalt, obwohl ihr auffiel, dass er seine Krawatte leicht gelockert hatte. Er sah sie mit verblüffend blauen Augen an, in seinem Blick lag etwas Rastloses, Getriebenes.
»Judd, das ist –«, stellte Gerald vor.
»Acacia«, fiel ihm sein Sohn ins Wort. »Ich weiß.« Er schüttelte ihre Hand. Sehr viel ernster als die Zwillinge sagte er: »Ich vermute, ich sollte dich im Kreise der Familie willkommen heißen, aber ich bin mir nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist.«
»Nicht?«
Einer seiner Mundwinkel zuckte lakonisch in die Höhe. »Du wirst schon sehen«, sagte er und nahm zur Linken seines Vaters Platz.
Gerald blickte auf die Uhr und sah dann seine Tochter an. »Hast du Robert informieren können?«, fragte er, doch noch bevor Clarissa antworten konnte, ging die Tür auf, und ein Mann, den Kacey nicht kannte, kam hereingestürmt.
Offensichtlich der noch fehlende Robert Lindley.
Gerald stellte sie rasch einander vor. »Acacia, das ist mein Sohn Robert, Robert, das ist Acacia Lambert. Sie ist deine Halbschwester.«
»Das habe ich schon gehört.« Robert nickte ihr zu, dann setzte er sich auf den freien Stuhl zwischen Cameron und Clarissa. Obwohl er seinen Halbgeschwistern ähnelte, fehlte seinen Zügen das Geschliffene, das die anderen als Noreen Johnsons Kinder auswies. Roberts Stirn war ausgeprägter, sein Haaransatz ging leicht zurück, doch in seinem kaffeebraunen Haar war keine Spur von Grau zu finden. Auch seine Augen waren blau, das Markenzeichen der Familie, aber seine Nase war breiter als die seiner Halbbrüder, die Augenbrauen buschiger, die Haut ein bisschen blasser. Sein Körperbau ähnelte mehr dem von Judd als dem der Zwillinge. Er war groß und muskelbepackt, als würde er so oft wie möglich trainieren.
»Wo ist Thane?«, erkundigte sich Gerald, darauf bedacht, das Meeting endlich in Gang zu bringen.
»Das weiß ich genauso wenig wie du. Ich hab ihm eine Nachricht auf der Mailbox hinterlassen«, antwortete Robert.
»Er war hier«, schaltete sich Judd ein. »Ich habe vor nicht mal zehn Minuten gesehen, wie er auf dem Parkplatz seinen Wagen abgeschlossen hat.«
»Soll er doch kommen, wann er will.« Clarissa hatte offenbar genug von den Sperenzchen ihres jüngeren Bruders. »Kommen wir zur Sache. Wie ihr wisst, ist Acacia Lambert« – sie deutete auf Kacey – »unsere Halbschwester, ihre Mutter ist Maribelle Collins. Acacia behauptet, erst vor kurzem erfahren zu haben, dass sie denselben Vater hat wie wir.«
»Ich denke, an dieser Stelle sollte ich übernehmen, Clarissa«, fiel ihr Gerald ins Wort. Er wandte sich an die Versammelten, räumte ein, mit Kaceys Mutter eine Affäre gehabt und von seiner Tochter gewusst zu haben. Er lobte ihre Entscheidung, Ärztin zu werden, und gab an, ihren Ex-Ehemann, den berühmten Herzchirurgen J. C. Lambert, zu kennen. Kacey krümmte sich innerlich bei seinen Worten. Vor allem die Überraschung, dass er J. C. kannte, traf sie, doch sie zwang sich, sich nichts anmerken zu lassen, obwohl die anderen um sie herum zunehmend angespannter wirkten. Gerald entschuldigte sich bei seinen Kindern und versprach ihnen, mit ihrer Mutter zu sprechen und alles ins Reine zu bringen.
Es war merkwürdig, ihm zuzuhören, und Kacey fragte sich, wie viele seiner Worte wohl von Herzen kamen und wie viele lediglich Show waren. Jeder hier schien seine Gefühle im Zaum zu halten und einen teilnahmslosen Gesichtsausdruck zur Schau zu tragen, Kacey eingeschlossen, obwohl Zorn in ihr hochkochte, Zorn auf den Mann, von dessen Existenz sie erst vor ein paar Tagen erfahren hatte.
»Acacia ist nicht nur hergekommen, um mir mitzuteilen, dass sie mich ausfindig gemacht hat – sie hat noch ein anderes Anliegen.« Sein Gesicht wurde schmal, als er die Fotos der toten Frauen aus seiner ledernen Aktenmappe zog und auf den Tisch legte. »Diese Frauen sehen einander ähnlich. Sie ähneln auch Acacia, und einige ihrer Gesichtsmerkmale gleichen den euren.
Acacia nimmt an, dass diese Frauen ebenfalls eure Halbgeschwister sind, und sie hat vor, das zu beweisen. Ich möchte, dass ihr wisst, dass diese Möglichkeit theoretisch zutreffen könnte, obwohl ich während meiner Ehe mit eurer Mutter keine weiteren Affären hatte. Natürlich hatte ich Freundinnen, bevor ich geheiratet habe, doch das Alter der besagten Frauen deutet eher darauf hin, dass sie – sollte ich tatsächlich der biologische Vater sein – Resultat von Samenspenden sind, die ich während meines Medizinstudiums bei einer Samenspenderbank in Helena abgeliefert habe.«
Seine Kinder, bereits von Clarissa vorbereitet, wirkten nur wenig schockiert über sein Bekenntnis und schienen kaum auf weitere Ausführungen Wert zu legen. Erst als er darauf zu sprechen kam, dass Shelly Bonaventure, Jocelyn Wallis und Elle Alexander einem Mord zum Opfer gefallen sein könnten, merkten sie auf, zogen die Augenbrauen hoch und schoben das Kinn vor.
Kacey beobachtete aufmerksam ihre Reaktionen, doch nichts deutete darauf hin, dass sie bereits davon wussten.
Plötzlich hielt Clarissa eine manikürte Hand in die Höhe, als würde sie den Verkehr anhalten wollen. »Hat sie … hast du«, korrigierte sie sich und richtete ihre blauen Augen auf Kacey, »diesbezüglich irgendeine verquere Theorie? Dass ein bislang unbekannter Killer eine Horde Reagenzglas-Kinder auslöscht? Womöglich genau die meines Vaters?«
»Clarissa!«, sagte Gerald mit zusammengebissenen Zähnen.
Noch bevor Kacey antworten konnte, wurde die Tür zum Sitzungszimmer aufgestoßen, und Thane, der noch fehlende Sohn, kam hereingeschlendert. Er war gebaut wie Judd, nur nicht ganz so groß und, seiner Körpersprache nach zu urteilen, weitaus entspannter. »Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, verkündete er leichthin und setzte sich auf einen Stuhl am Fußende des Tisches, seinem Vater gegenüber. »Du musst Acacia sein«, sagte er, als er Kacey entdeckte.
»Ich werde Kacey genannt«, erwiderte diese.
»Dann eben Kacey.«
»Sie ist die Tochter von Maribelle Collins und Dad«, erklärte Clarissa.
Thane zuckte die Achseln. »Das hast du mir bereits auf Band gesprochen.«
»Nun, da ist noch mehr.« Wieder bedachte Johnsons Erstgeborene Kacey mit einem durchdringenden Blick. »Sie vertritt die aberwitzige Theorie, dass Dad, der – wie sich gerade eben herausgestellt hat – früher als Samenspender tätig war, eine ganze Horde von ›Kindern‹ hat« – ihre manikürten Hände mit den roten Fingernägeln malten Anführungszeichen in die Luft –, »die nach irgendeinem teuflischen Muster ermordet werden. Warum sie, Acacia, sich berufen fühlt, uns diese Theorie zu übermitteln, ist ein großes Geheimnis und gleichzeitig Grund für diese Familienkonferenz.«
»Ach, tatsächlich?« Ein amüsiertes Lächeln umspielte Thanes schmale Lippen. Er trug Jeans und Pullover, sein Haar war nass vom schmelzenden Schnee, und er machte sich nicht die Mühe zu verbergen, dass er die Situation eher lächerlich fand.
»Im Grunde, ja«, schaltete sich Kacey ein. »Die Fotos auf dem Tisch zeigen Frauen, die aller Wahrscheinlichkeit nach von Gerald gezeugt wurden. Sie alle sind kürzlich ums Leben gekommen; vermutlich wurden sie ermordet.«
»Die da kenne ich!«, rief Thane plötzlich und deutete auf Shelly Bonaventure. »Ich hab sie vor Jahren mal in einem Film gesehen.«
»Du und höchstens ein weiterer Mensch auf dieser Erde«, schnappte Clarissa.
Thane runzelte die Stirn. »Ich dachte, sie hätte Selbstmord begangen.«
»So lautet die offizielle Version«, sagte Kacey.
»Dann stimmt die offizielle Version also nicht?«, fragte Judd nach. »Behauptet das die Polizei?«
»Nicht die Polizei von L.A., aber das Büro des Sheriffs von Pinewood County. Diese Frauen« – sie deutete auf die Aufnahmen von Elle Alexander und Jocelyn Wallis – »stammen aus der Gegend. Jocelyn und Shelly sind in Helena geboren worden, bei Elle überprüfe ich das noch.«
»Nur weil sich manche Menschen ähnlich sehen, heißt das noch lange nicht, dass sie miteinander verwandt sind«, gab Cam zu bedenken.
»Hat die Polizei die Todesfälle in Zusammenhang gebracht? Geht man dort von Mord aus?«, wollte Judd wissen.
»Das bezweifle ich«, sagte Robert. »Hätte die Polizei die Schlüsse gezogen, die sie gezogen hat«, er blickte zu Kacey hinüber, »wäre sie längst hier.« Kacey sah den Hass in seinen Augen. Offenbar war sie in ein Terrain eingedrungen, das er für sich beanspruchte, und das gefiel Robert Lindley gar nicht.
Genauso wenig wie den anderen.
Die Diskussion heizte sich auf, Geralds Kinder gaben sich skeptisch. In erster Linie waren sie misstrauisch, nahm sie an, weil sie davon ausgingen, dass Kacey irgendwelche Forderungen an sie stellen würde. Während sich Clarissa offen feindselig zeigte und Cameron beißende Kommentare abgab, wirkte Judd ernst. Er war derjenige, der ihr zuhörte und ihr pointierte Fragen stellte. Wenngleich auch er misstrauisch war, hielt er sich anders als seine Schwester und Robert Lindley mit Vorurteilen zurück.
Thane sagte nicht viel, stattdessen verfolgte er ruhig den mitunter hochexplosiven Schlagabtausch. Ab und zu zuckte einer seiner Mundwinkel in die Höhe, doch auch hinter seiner gelassenen Fassade bemerkte Kacey Zweifel.
Robert machte sich weiterhin Luft. »Das ist eine lächerliche Vorstellung«, sagte er scharf und bedachte sie mit einem eisigen Blick. »Woher sollte der mutmaßliche Mörder wissen, dass diese Frauen mit Geralds Samenspende gezeugt wurden? Ohne ein DNS-Profil oder vertrauliche Informationen aus der Klinik wüsste er doch gar nicht, wen er als Opfer wählen sollte!«
»Viel wichtiger ist doch die Frage: Warum?«, wandte Judd ein.
Jetzt ergriff Gerald das Wort. »Die Klinik ist seit Jahren geschlossen. Wer weiß, was mit den Akten geschehen ist?« Obwohl seine Kinder zuhörten, hatten sie sich bereits alle eine Meinung über Kacey gebildet, und die war nicht unbedingt positiv.
Kacey spürte die Ablehnung, die ihr entgegenschlug, und für ein paar Minuten stellte sie ihre eigene Theorie in Frage.
»Was sagen denn die Beamten dazu?«, fragte Cameron. Alle Augen im Sitzungszimmer richteten sich auf Kacey.
»Sie stellen Ermittlungen an. Mehr weiß ich nicht.«
»Dann wird die Polizei also ebenfalls hier auftauchen!« Clarissa schnalzte verächtlich. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Jetzt, da die Patente auslaufen, müssen wir uns dem Wettbewerb stellen; schlechte Publicity können wir uns da nicht leisten, sonst schließen unsere Kunden ihre Geschäfte woanders ab!«
»Hierbei geht es nicht um Geschäfte«, wies Gerald sie zurecht. »Das ist eine Privatangelegenheit.«
»Mach das mal dem Internet mit all seinen Bloggern und der Lokalpresse klar. Das ist ein Publicity-Alptraum!«
»Ich dachte, jede Werbung ist gute Werbung«, bemerkte Cameron.
»Ja, du Schwachkopf.« Clarissa war nicht bereit, einzulenken. Als Geschäftsfrau mit einem Abschluss in Stanford, noch dazu als älteste Tochter in einer Familie mit lauter männlichen Geschwistern, war sie definitiv tough.
Colt setzte sich auf, doch anstatt seinem Zwilling zu Hilfe zu kommen, brachte er das Gespräch zurück auf die toten Frauen. »Gibt es noch weitere Opfer?«
»Ich denke schon«, sagte Kacey, doch sie konnte ihre These nicht untermauern.
»Zunächst einmal müssen DNS-Untersuchungen vorgenommen werden«, schaltete sich Judd ein. »Wir können hier den lieben langen Tag sitzen und diskutieren – aber bringen tut das gar nichts.« Er pochte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. »Solange wir nicht beweisen können, dass diese Frauen tatsächlich biologische Abkömmlinge von Dad sind, ist jede weitere Erörterung überflüssig.«
»Judd hat recht«, pflichtete ihm Colt bei.
Der Rest der Geschwister war nicht geneigt, ihm zuzustimmen, und ließ sich lautstark darüber aus, dass Kacey in Wahrheit gekommen war, um Unruhe zu stiften oder Ansprüche auf die Firma zu erheben – wenn nicht gar beides.
»Warum bist du hier? Um uns unter die Lupe zu nehmen? Um uns zu warnen oder uns zu beschuldigen?«, fragte Cameron. »Ich kapier’s einfach nicht.«
»Da gibt’s nichts zu kapieren«, sagte Clarissa mit gefurchter Stirn. »Es geht ihr um die Firma.«
»Das ist nicht richtig«, stellte Kacey mit deutlicher Stimme klar. »Ich war der Ansicht, ihr alle solltet wissen, dass da draußen womöglich jemand herumläuft, der Menschen mit einer genetischen Verbindung zu euch umbringt.«
»Und wer sollte das sein? Wer würde sich die Mühe machen, Geralds Reagenzglas-Kinder aufzuspüren, nur um sie anschließend bei fingierten Unfällen umzubringen?«, fragte Clarissa und schob ihren Laptop zurück in die Tasche. »Das ist doch verrückt. Du klingst, als müsstest du dringend zum Psychiater.«
»Moment!«, gebot Gerald ihr Einhalt. »Nun werd mal nicht ausfallend.«
»Clarissa kann doch gar nicht anders«, mischte sich Thane ein. »Wir erleben sie nur so!«
»Genug!«, ging Judd dazwischen. Er wirkte beklommen. »Wir sollten uns nicht gegenseitig zerfleischen.« Er setzte sich so hin, dass er Kacey ansehen konnte. »So, du wolltest uns also warnen.«
Der Knoten in ihrem Magen wurde fester, doch sie beherrschte sich. »Ich wollte euch natürlich auch kennenlernen. Ich war neugierig auf den Vater, von dem ich so lange nichts gewusst hatte, und da ich als Einzelkind aufgewachsen bin, hat mich der Gedanke, Geschwister zu haben, fasziniert.«
Clarissa schüttelte den Kopf, als hätte sie wichtigere Dinge zu tun und Kacey würde ihr nur die Zeit stehlen.
Colt und Judd hörten schweigend zu.
Cam wirkte gelangweilt, Robert hatte die Kiefer fest aufeinandergepresst. Auch Gerald blieb die Anspannung nicht verborgen, doch er hielt seine ruhige, gelassene Fassade aufrecht, wenngleich er eine Hand zur Faust geballt hatte.
»Und jetzt?«, fragte Clarissa, an Kacey gewandt. »Du bist hergekommen. Du hast Dad kennengelernt, hast uns kennengelernt. Hast unserer Mutter einen Schlag versetzt, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie Robert nie wirklich als unseren Halbbruder akzeptiert hat.«
Robert funkelte sie an, doch er widersprach nicht.
»Ich vermute, du willst bei uns in der Firma anfangen, wie wir anderen auch. Oder möchtest du mit uns Weihnachten verbringen? Das wäre auf eine absurde Art und Weise bestimmt interessant.«
»Das denke ich auch«, stimmte Cameron zu.
Kacey stand auf. »Alles, was ich wollte, war eine Bestätigung, denke ich. Ich wollte ein bisschen mehr über mich selbst erfahren und euch über die mysteriösen Todesfälle und die mögliche Verbindung zu eurer Familie in Kenntnis setzen.«
»Was nicht mehr ist als eine Theorie«, versetzte Robert.
Sie wandte sich ihm zu, demjenigen ihrer Halbgeschwister, der ihr am ähnlichsten war – ebenfalls ein Außenseiter, nicht wirklich Teil der Familie. »Ich habe dem nichts mehr hinzuzufügen. Anders als du mir unterstellst, habe ich tatsächlich ein Leben. Mein eigenes Leben, das mir sehr gut gefällt. Genauso soll es bleiben.«
Sie wollte gerade gehen, als es klopfte und die Tür aufging. Ein großer Mann, vermutlich über eins neunzig, steckte den Kopf herein. Er war attraktiv mit seinen markanten Gesichtszügen und den knallblauen Augen, die er durch das Sitzungszimmer schweifen ließ, bis sie auf Clarissa liegen blieben.
»Ich dachte, wir würden uns heute Nachmittag mit dem Bauleiter treffen«, sagte er, offensichtlich verstimmt.
»Familiennotfall.« Clarissa hatte die Lippen zusammengepresst, doch sie sammelte bereits ihre Sachen zusammen und schloss den Reißverschluss ihrer Laptoptasche.
»Es dauert nur noch eine Minute, Lance«, sagte Gerald.
Lance? Der Ehemann, den Clarissa »in Stücke schneiden« würde, sollte sie ihn je bei einem Seitensprung erwischen? Vorzugsweise mit einem Buttermesser? Das wäre wahrhaftig eine Meisterleistung, dachte Kacey, zumal der Kerl stahlhart aussah. Wie jemand, der Bogenschießen und Felsklettern als Hobby hatte und nur so zum Spaß an Ironman-Wettkämpfen teilnahm. An seinem kräftigen Körper saß nicht ein Gramm Fett, und »lächeln« war offenbar ein Fremdwort für ihn.
Kacey ging zur Garderobe des Sitzungszimmers, wo sie ihren Mantel aufgehängt hatte. »Ich bin fertig«, sagte sie zu niemand Speziellem und fuhr in die Ärmel. »Ihr könnt die Fotos behalten.« Lance, der sie fragend anblickte, gab die Tür frei, und sie marschierte an ihm vorbei und durch das Labyrinth von Gängen, welche die Räume und Gebäude von Gerald Johnsons Imperium miteinander verbanden.
Es war doch bloß eine ganz normale Firma, dachte sie, aber ihre Geschwister hatten sich aufgeführt, als handelte es sich um das Heilige Römische Reich und nicht um die G. Johnson GmbH.
Kacey fühlte sich erschöpft. Sie hatte heute nicht wirklich etwas erreicht, außer dass Gerald und seine Kinder für sie jetzt nicht mehr nur zweidimensionale Fotos im Internet waren, sondern reale Menschen, von denen sie jetzt einen persönlichen Eindruck hatte, auch wenn der nicht unbedingt positiv war.
Doch zumindest kannten sie sie nun und wussten von ihrem Vorhaben. Sie hatte sie gewarnt, auch wenn sie sich nicht sicher war, ob auch sie im Visier des Killers standen. Kurz hatte sie sich gefragt, ob einer von ihnen ihr Haus verwanzt haben oder sogar der Mörder sein könne, aber das erschien ihr doch zu weit hergeholt. Auch wenn Gerald Johnson der Kern des Rätsels war.
»Was hattest du erwartet?«, fragte sie sich, als sie den Fußweg zu ihrem Wagen entlangging. Ihre Stiefel versanken in zentimetertiefem Neuschnee. Hatte sie wirklich geglaubt, sie würde mit offenen Armen empfangen werden? Oder dass sie unter Gerald Johnsons ehelichen Kindern eines herauspicken könnte, das sie für durchgeknallt genug hielt, um es der Morde zu verdächtigen?
Konnte tatsächlich ein Mörder unter ihnen sein? Oder standen die Personen, die sie im Sitzungszimmer zurückgelassen hatte, selbst auf der Liste?
Sie kletterte in ihren SUV und setzte rückwärts aus der Parklücke. Ein paar Minuten später rief sie Detective Alvarez an und hinterließ ihr die Nachricht, dass sie auf dem Heimweg sei. Dann wählte sie Trace’ Nummer, teilte ihm dasselbe mit und erkundigte sich nach Eli. Trace sagte, er würde noch husten und fühle sich ein wenig schwach, aber es gehe definitiv bergauf. Die Nachbarin war gekommen und »leistete dem Jungen Gesellschaft«, während Trace die täglichen Arbeiten auf der Ranch erledigte. Als Kacey sicher war, dass es Eli besserging, berichtete sie ihm, wo sie gewesen war und wen sie getroffen hatte.
Als sie geendet hatte, sagte Trace: »Ich wünschte, du hättest mir erzählt, wo du hinfährst. Klingt wie ein Schlangennest.«
»Vipern«, korrigierte sie ihn, und er kicherte. Sie spürte, wie ihr warm wurde. »Ich musste ihn einfach persönlich kennenlernen.« Nachdem sie den Großteil des Nachmittags unter den eisigen Blicken ihrer Halbgeschwister verbracht hatte, war es eine Wohltat, mit einem Mann zu reden, der ihr zu vertrauen schien und dem sie ganz offenbar etwas bedeutete.
»Soll ich heute Abend zu dir kommen?«
»Nein, ich überlasse das Entfernen der Wanzen Detective Alvarez und ihrem Team.«
»Ich könnte das einrichten. Wenn Tilly bei Eli bleibt, komme ich zu dir rüber. Vorausgesetzt, du möchtest das.«
Aus dem Hintergrund ertönte die Stimme einer älteren Frau: »Du brauchst mich gar nicht lange zu bitten, Trace! Es wird Zeit, dass mal jemand diesem jungen Mann hier zeigt, wie man Dame spielt!«
»Ich würde mich freuen«, sagte Kacey.
»Bis später«, erwiderte er.
»Schön.« Wieder fing ihr albernes Herz an, schneller zu schlagen, und wieder ermahnte sich Kacey, auf dem Boden zu bleiben. Es war zu früh für Wolke Nummer sieben. Vor zwei Wochen hatte sie Trace O’Halleran und seinen liebenswerten Sohn nicht mal gekannt.
Vor zwei Wochen war ihr Leben noch normal gewesen. Immer gleicher Klinikalltag, kein sexy Rancher, kein neuer biologischer Vater, keine Schar von Halbgeschwistern, keine toten Doppelgängerinnen.
Nun, mit Trace an ihrer Seite musste sie diesen Wahnsinn wenigstens nicht allein durchstehen.
Sie bog vom Highway nach Grizzly Falls ab und warf einen Blick in den Rückspiegel. Erleichtert stellte sie fest, dass ihr niemand durch die verschneiten Hügel zu folgen schien. Sie schaltete das Radio ein, froh, diese abstoßende Meute, als die sich ihre neuentdeckte Familie entpuppt hatte, weit hinter sich zu lassen.