Kapitel 29
Gerald Johnson und seine Tochter Clarissa schienen Kaceys Anwesenheit vergessen zu haben, so beschäftigt waren sie mit der Einberufung der Familienkonferenz. »Entschuldigung«, sagte Kacey und räusperte sich.
»Der Sitzungsraum ist geradeaus den Gang entlang Richtung Nord-Entree. Wir kommen jetzt zusammen«, machte Clarissa sie aufmerksam.
»Ich habe nicht vor aufzubrechen«, sagte Kacey. Noch nicht. »Ich muss nur noch einen Anruf erledigen.«
Beide sahen ihr mit ernster Miene nach, als sie das Büro verließ. Da hatte sie gedacht, sie sei paranoid, und nun stellte sich heraus, dass das in der Familie lag.
Sie ging in Richtung Sitzungszimmer, rüttelte an den Türen, die, so stellte sie fest, allesamt verschlossen waren, dann wählte sie die Nummer vom Büro des Sheriffs, die sie in ihrer Handy-Adressliste gespeichert hatte.
»Detective Alvarez, bitte«, sagte sie, als der Anruf beim Empfang einging. »Mein Name ist Dr. Lambert, ich hatte schon einmal angerufen.«
Sie wurde sofort durchgestellt. »Alvarez«, meldete sich eine der beiden ermittelnden Detectives.
»Hier Kacey Lambert. Ich weiß, dass Sie mit Trace O’Halleran gesprochen haben. Er hat die Mikrophone entdeckt.«
»Ja. Wir würden gern bei Ihnen vorbeischauen und uns selbst ein Bild machen. Heute Nachmittag?«
»Geht es auch erst am Spätnachmittag?«, fragte Kacey. »Ich habe einen Termin außerhalb der Stadt, und es könnte ein wenig länger dauern. Aber ich bin wirklich sehr daran interessiert, dass die Abhöranlage wieder aus meinem Haus verschwindet.«
»Rufen Sie uns an, sobald Sie auf dem Heimweg sind.«
»Vielen Dank«, sagte Kacey aufrichtig.
Als Nächstes rief sie Trace an, der sich so schnell meldete, als hätte er das Telefon bereits am Ohr gehabt.
»Kacey«, sagte er. Allein die Art und Weise, wie er ihren Namen aussprach, ließ sie dahinschmelzen.
»He. Ich treffe mich später bei mir zu Hause mit der Polizei. Sie wollen die Mikrophone entfernen, denke ich, auf jeden Fall aber einen Blick darauf werfen. Ich bin froh, wenn die Wanzen endlich weg sind.«
»Das kann ich verstehen. Bist du bei der Arbeit?«
»Im Augenblick habe ich einen Termin außerhalb der Klinik«, sagte sie, da sie ihm im Augenblick nicht alles erklären wollte. Sie wusste ja selbst noch nicht, was sie von den Johnsons halten sollte. »Ich habe den Beamtinnen gesagt, dass ich mich bei ihnen melde, sobald ich auf dem Heimweg bin.«
»Ruf mich bitte ebenfalls an.«
»Mache ich.«
»Kacey …«
»Ja?«
»Sei vorsichtig«, bat er. Offensichtlich ahnte er mehr, als sie vermutete.
»Bis heute Abend«, sagte sie, dann steckte sie ihr Handy in das dafür vorgesehene Fach in ihrer Handtasche und sah mit zunehmender Nervosität, wie Gerald und Clarissa aus dem Büro traten und den Gang hinunter auf sie zukamen.
»Nun hau schon ab und sieh nach deinen Kindern«, sagte Alvarez zu Pescoli. »Hier passiert ja doch nichts, bis wir uns an Dr. Lamberts Haus treffen.«
»Ich fahre schnell heim, scheuche Chris aus dem Haus, sollte er da sein, und bin gleich wieder zurück.«
Alvarez winkte ab. Im Augenblick hingen sie in der Warteschleife. Warteten auf die Laborergebnisse. Warteten auf Rückrufe. Warteten, warteten, warteten.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch. Ihr Blick schweifte über ihre Notizen. Noch fehlte das Bindeglied, das alles zu einer sinnvollen Einheit zusammenfügte. Sie blätterte durch die Seiten mit Geistesblitzen, Ideen, Kritzeleien und anschließend durch Akten voller Berichte und kam zu dem Schluss, dass sie nicht mehr tun konnte als das, was sie schon getan hatte: Anrufe tätigen. Druck machen. Immer in der Hoffnung, auf jemanden zu stoßen, der neue Informationen für sie hatte.
Ihre Augen blieben an der Nummer von Elle Alexanders Eltern in Boise hängen. Sie hatte es schon zweimal probiert und Nachrichten aufs Band gesprochen, aber nie hatte jemand zurückgerufen. Sie waren in Trauer. Das verstand sie. Vielleicht waren sie der Ansicht, dass es genügte, wenn die Behörden mit Tom, Elles Ehemann, sprachen. Die meisten Menschen verabscheuten es, wenn die Polizei in ihre Privatsphäre eindrang, selbst wenn das ein notwendiges Übel war.
Sie wählte und überlegte währenddessen, was sie sagen wollte. Es klingelte und klingelte. Selena glaubte schon, wieder mit dem Anrufbeantworter verbunden zu werden, als sich eine zurückhaltende Frauenstimme meldete. »Hallo?«
»Hier spricht Selena Alvarez. Mrs. Morris?«, fragte die Latina mit einem Blick in ihre Unterlagen. Elles Eltern hießen Brenda und Keane Morris, beide waren bereits im Ruhestand. Er war Pilot, sie Grundschullehrerin gewesen.
»Sie rufen aus Montana an, vom Büro des Sheriffs in Pinewood County, steht auf dem Display. Es geht um Elle, hab ich recht?«
»Ja, Madam. Wir stellen Ermittlungen wegen des Verdachts auf Fremdeinwirkung beim Unfall Ihrer Tochter an.«
»Sie halten das Ganze also nicht nur für einen schrecklichen Unfall?« Ihre Stimme klang kläglich.
»Wir wissen es nicht und möchten gerne auf Nummer sicher gehen.«
Mrs. Morris fing leise an zu schluchzen. Alvarez empfand tiefes Mitleid mit ihr. Das war der schwerste Teil ihres Jobs.
»Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
»Nur zu«, sagte Mrs. Morris und holte zitternd Luft.
»Wir haben Ihren Schwiegersohn, Tom Alexander, vernommen. Elle hat mit ihm telefoniert, als sie von der Straße abgekommen ist.«
»Tom liebt Elle. Er ist am Boden zerstört. Wie wir alle.«
»Tom hat ausgesagt, Ihre Tochter habe ihm erzählt, dass sie von einem anderen Fahrzeug bedrängt wurde. Hat er mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Er sagte, Elle habe gedacht, der Fahrer wolle sie umbringen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Manchmal bildet man sich solche Sachen ein, vor allem beim Autofahren. Wissen Sie, was ich meine?«
»Ja.«
»Er sei ihr hinten aufgefahren, hat sie zu Tom gesagt. Und dass seine Scheinwerfer sehr grell gewesen seien. Doch dann hat sie wohl das Handy fallen lassen … Tom hat die Neun-eins-eins angerufen, wie sie ihn gebeten hat.«
»Wissen Sie, ob Ihre Tochter irgendwelche Feinde hatte?«
»Aber nein! Nicht Elle! Alle mochten Elle. Jayne Drummond, ihre beste Freundin von der Highschool, wohnt noch hier in der Gegend; sie ist vorbeigekommen, und wir haben darüber gesprochen, wie beliebt sie war.« Mrs. Morris schluckte und schien erneut mit den Tränen zu kämpfen. »Sie können gerne mit ihr reden.«
»Sie haben noch einen Sohn.«
»Bruce. Er ist verheiratet und lebt in Florida. Ich kann Ihnen auch seine Telefonnummer geben.«
»Vielen Dank.«
Alvarez schrieb die Nummern mit, die Brenda Morris ihr durchgab. Die nächsten Fragen, die sie Elles Mutter stellen würde, mochten seltsam klingen, und sie war sich nicht sicher, wie sie sie formulieren sollte. »Mrs. Morris«, fing sie leicht zögerlich an, »wir ermitteln in noch einem Todesfall. In Grizzly Falls ist eine weitere junge Frau ums Leben gekommen – entweder ist sie unglücklich gestürzt oder mit Absicht über eine Brüstung gestoßen worden.«
»Das tut mir sehr leid für ihre Familie«, sagte Brenda aufrichtig.
»Wir bemühen uns, auch in ihrem Fall Klarheit zu schaffen«, erklärte Alvarez. »Die Frau, Jocelyn Wallis, weist eine gewisse äußerliche Ähnlichkeit mit Ihrer Tochter auf – so groß, dass sich die Frage stellt, ob die beiden miteinander verwandt sind. Wenngleich ich davon ausgehe, dass es sich um einen seltsamen Zufall handelt, wie er von Zeit zu Zeit vorkommt, muss ich doch die Möglichkeit ausschließen, dass das tatsächlich der Fall ist. Vielleicht kannten die beiden einander?«
Das war in der Tat weit hergeholt, und Alvarez konnte die Verlegenheit in ihrer eigenen Stimme hören, doch die Theorie, die Trace O’Halleran ihnen erläutert hatte, machte Fragen in diese Richtung unumgänglich. Wenn sie nur zwei der Frauen in Zusammenhang bringen könnte, ergäbe sich der Rest vielleicht von selbst.
»Nein …«
»Elle wurde in Boise geboren?«
»Ja.«
»Hatte sie irgendwelche Verbindungen zu Helena?«
Am anderen Ende der Leitung atmete Mrs. Morris scharf ein. »Nein …«
Alvarez’ Puls schnellte in die Höhe. Da war etwas. »Entschuldigen Sie, aber es klingt so, als würden Sie an etwas Bestimmtes denken?«
»Es ist … Ich weiß nicht … Ich verstehe nicht, wie Sie darauf kommen konnten.«
»Verraten Sie mir, was genau Sie meinen?«
»Du liebe Güte! Mein Mann … ach je, ach je.« Sie seufzte. »Wir hatten erfahren, dass mein Mann keine Kinder zeugen kann, also haben wir uns an eine Fertilisationsklinik in Helena gewendet, um einen Spender zu finden. Die Klinik gibt es längst nicht mehr.«
»Einen Samenspender, meinen Sie«, konkretisierte Alvarez vorsichtig.
»Ja. Ja. Meine beiden Kinder stammen von demselben Samenspender.«
»Elle und Bruce.«
»Wir haben nie jemandem etwas davon erzählt. Bruce weiß es noch immer nicht, und auch Elle wusste nichts davon. Mir ist klar, dass ich es meinen Kindern irgendwann sagen sollte, aber es schien nie der richtige Zeitpunkt zu sein, und jetzt ist Elle tot …«
»Diese Klinik. Erinnern Sie sich an den Namen?«
»Lassen Sie mich überlegen. Wir haben sie immer nur ›die Klinik‹ genannt. Aber ich verstehe nicht, warum Sie das wissen müssen, und auch nicht, was das zu bedeuten hat.«
»Vielleicht gar nichts. Ich möchte nur wirklich sichergehen. Können Sie mir noch mehr darüber erzählen?«
Sie atmete tief durch, dann sagte sie: »Ich weiß nicht, ob Sie etwas damit anfangen können: Die Nummer des Samenspenders ist 727. Mein Mann und ich haben das behalten, weil mein Mann Pilot war und damals bei seiner Fluglinie genau den Typ Jet geflogen hat. Wir haben das immer für ein gutes Zeichen gehalten.«
»Nach welchen Kriterien haben Sie den Spender ausgesucht?«
»Er war Medizinstudent, hatte dunkles Haar und blaue Augen. Seine Größe stimmte in etwa mit der von Keane überein, und er war sportlich. Wir wollten, dass unsere Kinder uns beiden ähnlich sehen.«
»Ich verstehe.«
»Diese andere Frau … die, die gestürzt ist …«
Alvarez, die keine Fragen beantworten wollte, von denen sie nicht wusste, wohin sie führten, fiel ihr rasch ins Wort: »Ich habe noch nicht alle Hintergrundinformationen über Miss Wallis, aber ich weiß, dass sie als Lehrerin in Grizzly Falls gearbeitet hat und sehr beliebt war.«
»Genau wie Elle.« Sie seufzte. »Ich war ebenfalls Lehrerin. Es ist alles so schwer, nicht wahr?«
»Ja, Madam. Das ist es.« Alvarez’ Worte waren aufrichtig gemeint, und die ältere Frau hörte ihr unausgesprochenes Mitgefühl.
»Wenn Elle umgebracht worden ist … wenn das tatsächlich der Fall sein sollte, dann werden Sie den Mörder finden und es mich wissen lassen?«
»Ja, das werde ich«, versprach Alvarez.
»Danke«, sagte sie.
Nachdem Brenda Morris aufgelegt hatte, verharrte Alvarez ein paar Minuten reglos vor ihrem Schreibtisch.
Ein Samenspender.
Konnte das sein?
Waren diese Frauen tatsächlich miteinander verwandt? Genau das war die Theorie von Trace O’Halleran und Dr. Lambert, die Theorie, die niemand wirklich für möglich halten wollte. Hatten Elle Alexander, Shelly Bonaventure, Jocelyn Wallis, Leanna O’Halleran, Kacey Lambert und wer weiß wie viele andere ein und denselben Vater? War das das fehlende Bindeglied?
Plötzlich wurde sie aktiv, schnappte sich ihr Handy und drückte die Kurzwahltaste für Pescoli, die sich nach dem fünften Klingeln meldete.
»Ja?« Sie klang zutiefst genervt.
»Ich hab was.«
»Hm.«
»Nein, ich bin wirklich auf etwas gestoßen. Kannst du zurück ins Department kommen?«
»Erst muss ich hier noch rumschreien«, teilte Pescoli ihr unvermittelt mit. »Und zwar jede Menge!«, brüllte sie eine oder mehrere Personen im Hintergrund an.
»Beeil dich mit der Schreierei«, riet Alvarez ihr und legte auf. Ihre Gedanken rasten.
War es möglich, dass die betroffenen Frauen – die Opfer – in derselben Fertilisationsklinik gezeugt worden waren? Hatten ihre Mütter alle ein und denselben Spender ausgewählt? Samenspender Nummer 727?
Doch selbst wenn das zutraf, welche Bedeutung hatte es? Warum starben die Töchter? Warum wurden sie umgebracht?
Wenn …
Wenn sie denn tatsächlich umgebracht wurden.
Doch genau davon gehst du aus, nicht wahr? Sie sind ermordet worden, egal, ob Pescoli deiner Ansicht ist oder nicht.
Sie griff erneut zum Hörer und rief das Labor an, frustriert, dass man sie weiter hinhielt. Nachdem sie aufgelegt hatte, wählte sie Ashley Tangs Durchwahl und sagte: »Ich brauche die Ergebnisse der DNS-Untersuchung, und zwar gestern. Gibt es denn niemanden im Labor, den du unter Druck setzen könntest?«
»Sie arbeiten dran. Du weißt doch, wie das ist«, erwiderte die forensische Assistentin.
»Es ist mir so was von egal, wie das ist! Ich brauche Antworten!«
»Nun, eine habe ich für dich. Zwar nicht, was die DNS angeht, aber etwas anderes.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Das Gift, das wir bei der chemisch-toxikologischen Untersuchung von Jocelyn Wallis gefunden haben – wir glauben, dass es ins Kaffeepulver gemischt wurde.«
»Mit Absicht?«
»Vermutlich schon. So etwas passiert nicht versehentlich.«
»Um sie umzubringen?«
»Das nun wiederum nicht. Dafür war die Dosis zu gering, aber vielleicht finden wir ja noch mehr.«
Alvarez’ Gedanken sprangen zu Kacey Lambert. Die Mikrophone. War auch Jocelyn Wallis verwanzt gewesen, und der Killer hatte die Abhöranlage entfernt, bevor sie ihre Wohnung untersuchten?
»Ich werde noch mehr Kaffeepulver untersuchen lassen«, sagte Alvarez. »Danke. Ich bring’s dir dann vorbei.«
Als sie auflegte, raste ihr Puls; ihr Atem ging schnell. War Dr. Lambert im Visier eines Killers?
Es sah ganz danach aus.
»Pescoli! Beweg deinen Hintern hierher!«, dachte sie laut.
»Ständig flippst du aus«, erklärte Jeremy und funkelte sie vom Sofa aus an. Er hielt sein Handy in die Höhe. »Das ist doch nur ein Foto! Was ist denn schon dabei?«
»Wenn Heidis Vater das in die Finger kriegt, ist er sicher ganz anderer Meinung«, erwiderte Pescoli.
»Du hast es ihm gezeigt!«
»Wie hätte ich es ihm zeigen können? Es ist auf deinem Handy. Aber er weiß davon, sieh dich also vor. Solche Bilder übers Internet zu verschicken, ist keine gute Idee.«
»Daran ist nichts Illegales! Absolut nicht!«
»Nun verdreh mir mal nicht das Wort im Mund. Ich sagte, das ist keine gute Idee. Punkt.«
»Es ist doch bloß auf meinem Telefon. Auf meinem. Das du ohne zu fragen kontrolliert hast. Das nenne ich Verletzung der Privatsphäre!«
»Verletzung der Privatsphäre?« Pescoli machte eine weit ausholende Armbewegung, um auf das Chaos um sie herum zu verweisen, die Überbleibsel von Jeremys Computerspielerei: leere Limobecher, ein Teller mit den Resten seines oder Biancas Käsesandwiches – das würde noch geklärt werden müssen. Mehrere Paar Schuhe lagen kreuz und quer auf dem Fußboden verstreut. »Alles, was du in letzter Zeit tust, ist eine Verletzung meiner Privatsphäre.«
»Na schön. Dann gehe ich eben.« Er stapfte durchs Wohnzimmer und die Treppe zu seinem Zimmer hinunter.
»Gottlob. Er hat mich erhört.«
»Mom …?«, ertönte Biancas Stimme vom Ende des Flurs. Pescoli eilte zum Zimmer ihrer Tochter und steckte den Kopf zur Tür hinein. Bianca lag auf dem Bett, die Augen weit aufgerissen, den Tränen nahe. »Warum kann Chris nicht zu uns kommen?«
»Weil ich gleich weg muss. Er darf nur kommen, wenn ich da bin.«
»Ich wünschte, er wäre hier. Er bringt mir immer was zu trinken.«
»Ich kann dir gern ein Glas Wasser holen. Hast du dein Käsesandwich gegessen?«
»Was für ein Käsesandwich?«
»Jeremy!«, brüllte Pescoli und schoss aus Biancas Zimmer zur Treppe.
»Ich hab sie gefragt! Sie hat gesagt, sie will nichts!«, schrie er zurück.
Pescoli kehrte zu Bianca zurück und sah ihre Tochter an, die sich unter der Bettdecke vergraben hatte. »Gibt es etwas, worauf du Lust hast?«, fragte sie.
»Suppe.«
»Tut’s auch eine aus der Dose?«
Bianca nickte. »Hühnersuppe mit Nudeln.«
Als Regan in die Küche eilte, um diese kulinarische Köstlichkeit aufzuwärmen, hörte sie ein leises »Danke, Mom«. Sie atmete auf und hätte beinahe gelächelt. Manchmal war es doch schön, Kinder zu haben, selbst wenn es kleine Ungeheuer wie Jeremy und Bianca waren.
Dreißig Minuten später war sie zurück im Department. Als sie das Büro betrat und zu Alvarez’ Schreibtisch hinüberging, legte diese gerade den Telefonhörer auf. »Was gibt’s denn?«, fragte sie, und ihre Partnerin erzählte ihr ausführlichst von der Samenspendertheorie.
»Was sagst du nun?«, fragte sie, als sie geendet hatte.
Pescoli nickte nachdenklich. »Wow«, sagte sie. »Und was hat das zu bedeuten?«
»Das versuche ich noch herauszufinden. Aber das ist das fehlende Bindeglied. Der gemeinsame Nenner.«
»Vorausgesetzt –«
»Pescoli«, bellte Cort Brewster, als würde ihm das Aussprechen ihres Namens einen üblen Nachgeschmack bereiten.
»Kommen Sie in mein Büro.« Dann, als hätte er noch einmal nachgedacht, fügte er hinzu: »Bitte.«
»Verflucht«, murmelte sie und folgte dem stellvertretenden Sheriff.
Brewster machte sich nicht die Mühe, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Auch Pescoli setzte sich nicht, sondern blieb lieber stehen.
»Ich habe mit Heidi gesprochen. Sie behauptet, es gibt keine solchen Fotos.«
»Nun, dann …«
»Ich denke, sie sagt womöglich nicht die Wahrheit«, räumte er ein. Pescoli zog die Augenbrauen hoch. Das war eine Überraschung. »Es ist kein Geheimnis, dass es mir gar nicht gefällt, dass Ihr Sohn mit meiner Tochter geht. Er ist ein Windhund, und wenn ich könnte, würde ich ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern verpassen.«
»Das haben Sie schon einmal versucht«, erinnerte ihn Pescoli.
»Ich brauche keinen arbeitslosen Loser, der bei uns rumhängt, und Heidi auch nicht. Er hat einen schlechten Einfluss auf das Mädchen. Sie und ich, wir sind zwar nicht immer einer Meinung, aber wir müssen miteinander arbeiten. Ich tue mein Möglichstes, professionelle Distanz zu wahren. Dasselbe erwarte ich von Ihnen.« Er zögerte, und als Pescoli nichts darauf erwiderte, fügte er hinzu: »Das ist alles.«
Regan machte auf dem Absatz kehrt und marschierte aus seinem Büro, genervt, frustriert. Sie fühlte sich überfordert, aber das würde sie Cort Brewster gegenüber niemals eingestehen. Mistkerl.
Plötzlich sehnte sie sich schmerzlich nach Joe. Wie wunderbar wäre es, wenn er noch da wäre. Ihre Ehe war nicht perfekt gewesen, doch jetzt hätte sie seinen kühlen Kopf gut gebrauchen können, wenn es darum ging, ihren Sohn zur Vernunft zu bringen.
Ihre Gedanken wanderten zu Santana. Zu dem Mann, den sie liebte. Vielleicht sollte sie doch bei ihm einziehen. Worauf wartete sie eigentlich? Dass ihre Kinder ihn akzeptierten? Ha, da würde eher die Hölle zu Eis gefrieren.
Pescoli versuchte, die Unterhaltung mit Brewster aus ihren Gedanken zu verbannen, und kehrte an Alvarez’ Schreibtisch zurück. »Soll ich Jocelyn Wallis’ Eltern anrufen und sie fragen, ob ihr Dad Samenspender war?«
»Ich habe ihnen bereits eine Nachricht auf Band gesprochen und sie um Rückruf gebeten«, sagte Alvarez. »Aber ich glaube, es ist jetzt wirklich an der Zeit, dass wir uns mit der Sache an Grayson wenden.«
In Alvarez’ Stimme schwang ein merkwürdiger Unterton mit, den Pescoli offenbar nicht hören sollte. »Was ist mit dir und dem Sheriff?«, fragte sie ihre Partnerin rundheraus.
»Gar nichts, ich bitte dich!«, erwiderte diese ungewohnt scharf.
Grayson, der gerade aus seinem Büro trat, sah, dass Alvarez und Pescoli direkt in seine Richtung marschierten, machte kehrt, winkte sie hinein und fragte: »Was gibt’s?«
»Wir glauben, dass der Tod von Elle Alexander mit dem von Jocelyn Wallis in Zusammenhang steht«, sagte Alvarez. »Und womöglich mit dem von anderen Frauen.«
»Sollte ich mich besser setzen?«
»Ich würde Ihnen schon dazu raten«, erwiderte Pescoli trocken.
Zwanzig Minuten später beendete Alvarez ihren Bericht mit: »Es gibt eine Menge offene Fragen, und wir sind noch dabei, uns mit den Angehörigen der Opfer zu befassen. Doch eines steht fest: Die Opfer sind allesamt weiblich. Brenda Morris, die Mutter von Elle Alexander, hat angegeben, dass ihre Kinder beide mit dem Samen von Spender Nummer 727 gezeugt wurden. Ihr Sohn Bruce lebt in Florida und ist offensichtlich gesund und munter. Steht er ebenfalls auf der Liste? Oder geht es nur um Frauen?«
»Eine Liste …«, wiederholte Grayson matt. »Das setzt voraus, dass es tatsächlich weitere Opfer gibt.«
»Vielleicht sehr viele«, mutmaßte Alvarez.
»Jedes Jahr an Weihnachten«, brummte Pescoli. »Hochsaison für durchgeknallte Killer.«
Graysons Augen begegneten denen von Alvarez. Pescoli blickte von dem einen zum anderen. Sturgis, Graysons schwarzer Labrador, kroch unter dem Schreibtisch seines Herrchens hervor, streckte sich und gähnte.
»Üble Geschichte«, murmelte Grayson. »Besorgen Sie mir weitere Informationen. Wenn da draußen ein Serienmörder durch die Gegend läuft, werde ich das FBI einschalten müssen.«
»Wir treffen uns später mit einer der Doppelgängerinnen.« Alvarez wandte die Augen ab und schaute aus dem Fenster.
»Glauben Sie, sie steht ebenfalls auf dieser Liste?«, fragte Grayson.
Alvarez sah Pescoli an. Pescoli erwiderte ihren Blick.
»Ja«, sagte sie dann. »Davon gehe ich aus.«