Kapitel 23

Er hätte ihre Mutter umbringen sollen.

Das war sein Fehler gewesen.

Genau das wurde ihm klar, während er mit seinem Pick-up vor der Rolling-Hills-Seniorenresidenz stand. Er hatte darauf vertraut, dass Maribelle Collins alles tun würde, um ihr Geheimnis unter Verschluss zu halten, doch als er jetzt Acacia durch die Tore fahren sah, fragte er sich, was sie wusste, welchen Schaden sie anrichten konnte.

Großen Schaden. Zu groß.

Damit hätte er rechnen, einen solchen Fall vorhersehen müssen. War es schon zu spät?

Vielleicht.

Die alte Schachtel musste zum Schweigen gebracht werden.

Das dürfte nicht allzu schwer sein; soweit er wusste, hatte sie Schwierigkeiten mit dem Herzen, weshalb sie Nitroglycerin-Tabletten nahm …

Doch im Augenblick hatte er keine Zeit für sie.

Er musste in Erfahrung bringen, was ihre verfluchte Tochter herausgefunden hatte. Sollte sie die Wahrheit kennen, würde er sie aufhalten müssen, bevor sie irgendwelche Schritte unternahm, die seine Mission gefährden könnten. Er warf einen letzten Blick über die Schulter zu den noch immer offen stehenden Toren zum Gelände der Seniorenresidenz und schwor sich wiederzukommen.

Seine Narbe pulsierte, als er nach seiner Skimaske griff und sie über den Kopf zog. Dann ließ er den Motor an und fuhr aus der Parklücke.

Die Rücklichter von Acacias Ford Edge waren weit vor ihm, doch er hatte keine Sorge, sie aus den Augen zu verlieren. Die magnetische, spritzwassergeschützte GPS-Vorrichtung, die er über ihrem Hinterrad angebracht hatte, würde vor dem nächsten Reifenwechsel nicht entdeckt werden, und vermutlich nicht mal dann.

Und dann wäre es schon zu spät.

Er stellte den kleinen Monitor an und sah, dass sie auf den Highway Richtung Westen bog, nach Grizzly Falls. Genau wie erwartet.

Etwas entspannter begann er, ihr in einem sicheren Abstand hinterherzufahren. Als er in den Rückspiegel schaute, bemerkte er ein Fahrzeug, das plötzlich die Scheinwerfer anstellte und aus einer Zufahrt auf die Straße rollte. Ein ungutes Gefühl überkam ihn.

Das hat nichts zu bedeuten! Nur ein weiterer Wagen, keine große Sache.

Trotzdem warf er immer wieder einen Blick auf die Scheinwerfer hinter ihm; irgendein Sportwagen, nahm er an, der ihm in gleichmäßigem Abstand folgte. Andere Fahrzeuge schoben sich zwischen sie, doch der Sportwagen blieb hinter ihm, ohne direkt aufzuschließen, auch vor der einzigen Ampel nicht.

Jemand fährt in dieselbe Richtung wie du. Mehr nicht.

Trotzdem hatte er ausgerechnet jetzt das Gefühl, er würde beobachtet, er wäre die Beute und nicht der Jäger.

Selbst wenn der Wagen ebenfalls auf den Highway nach Westen fährt, ist das Zufall. Reiner Zufall. Jemand, der nach Missoula oder in die Gegend dahinter möchte.

Entspann dich!

Doch seine Finger hielten das Lenkrad umklammert, als er die Auffahrt nahm und dabei den Verkehr hinter ihm im Auge behielt. Ja, ein grauer Sedan folgte ihm, doch das war nicht das fragliche Fahrzeug … nein, der Wagen, der ihm Sorgen bereitete, war ein schwarzes Sportmodell, vielleicht ein BMW … und der bog nicht auf den Highway.

Gut.

Erleichtert atmete er aus und war augenblicklich wieder entspannt. Nach einem letzten Blick in den Rückspiegel konzentrierte er sich wieder auf sein eigentliches Vorhaben, drückte aufs Gas und peilte Acacia an. Sein raffiniertes kleines Gerät teilte ihm mit, dass sie weniger als zwei Meilen vor ihm war.

Er wollte sie nicht nur einholen, sondern sie auch überholen.

 

Trace hörte ein Stöhnen und rasselnden Husten aus Elis Zimmer.

Zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinauf, knipste oben das Licht an und stieß die Tür auf. Eli saß auf dem Bett, das Haar war verschwitzt, das Gesicht gerötet, die Augen wirkten eingefallen.

»He, Kumpel«, sagte er und versuchte, einen munteren Tonfall anzuschlagen. »Eli? Wie geht’s dir?«

»Mein Hals tut weh. Sehr weh.« Er blinzelte, um richtig wach zu werden, dann fing er an, heftig zu husten.

»Ich muss noch einmal deine Temperatur messen«, sagte Trace.

Dazu hatte der Junge keine große Lust, aber schließlich konnte er ihn überreden, sich das Thermometer in den Mund zu stecken. Ein paar Minuten später stellte Trace fest, dass Elis Temperatur auf über vierzig angestiegen war. Das war einfach viel zu hoch.

Trace löste ein fiebersenkendes Mittel für Kinder in Wasser auf und bestand darauf, dass sein Sohn das ganze Glas leerte, dann trat er hinaus auf den Flur und zog die Tür fast ganz hinter sich zu. Er nahm sein Handy aus der Tasche, wählte Kaceys Mobilnummer, die sie ihm für den Notfall auf Band gesprochen hatte, und spähte durch den Türspalt zu Eli, während er ungeduldig die Rufzeichen zählte.

Geh dran, beschwor er sie im Stillen. An den Umgang mit verletzten oder kranken Tieren war er gewöhnt, hatte Kälbchen gerettet, die im Geburtskanal feststeckten, Klauenseuche und Lungenentzündungen bekämpft, seine Lieblingsstute war an einer Kolik eingegangen. Hunde und Katzen waren zur Welt gekommen und wieder gestorben, und er hatte akzeptiert, dass Krankheit und Tod zum Leben dazugehörten.

Doch jetzt hatte er große Angst.

Er befürchtete schon, eine Nachricht hinterlassen zu müssen, als sie sich endlich meldete. »Hallo, Trace?«

Er kam sofort zur Sache. »Ich habe Ihren Anruf bekommen. Elis Temperatur ist gestiegen, er hat jetzt über vierzig Fieber, außerdem lässt ihn sein Husten nicht zum Schlafen kommen.«

»Bringen Sie ihn in die Poliklinik«, sagte sie mit entschiedener Stimme. »Ich bin unterwegs und kann in einer halben Stunde da sein. Passt das bei Ihnen?«

»Ja, das schaffe ich.«

»Gut. Bis gleich.«

Sie legte auf. Trace verschwendete keine Zeit. Er eilte ins Zimmer seines Sohnes, schnappte dessen Jacke und hüllte ihn in einen Schlafsack. »Auf geht’s, Kumpel. Ich bringe dich zu Dr. Lambert.«

 

In Gedanken vertieft, fuhr Kacey von Helena zurück nach Grizzly Falls. Es war stockdunkel, die Abendbrotzeit war längst vorbei, doch sie war nicht hungrig. Das Radio lief, ohne dass sie etwas davon mitbekam. Immer wieder spielte sie durch, was ihre Mutter ihr über Gerald Johnson und seine Familie erzählt hatte.

Als ihr ein Wagen entgegenkam, schaltete sie das Fernlicht aus. Sie hatte kaum auf die anderen Fahrzeuge geachtet, hatte die vertraute Strecke automatisch zurückgelegt und nur über die unergründlichen Tiefen ihrer Vergangenheit nachgedacht. Wer waren Gerald Johnson und seine Frau? Welche Rolle hatte Maribelle in ihrem Leben, in ihrer Ehe gespielt? Wer waren die Kinder der beiden, ihre Blutsverwandten, ihre Halbgeschwister?

Es hatte beinahe den Anschein, dass Maribelle noch immer halb in Johnson verliebt war, als hätte sie ihre Affäre zu etwas Tragisch-Romantischem verklärt, dem sie voller Wehmut anhing.

Ganz offenbar machte sie sich etwas vor.

Und was war mit dem Mann, der ihr ein wirklicher Vater gewesen war? Stanley Collins, ein hart arbeitender Schreiner. Sie fragte sich, wie es für ihn gewesen sein mochte, die Wahrheit zu erfahren, denn sie konnte sich nicht auch nur an den kleinsten Hinweis erinnern, dass seine Liebe zu ihr jemals ins Wanken geraten wäre. Das Gleiche galt für ihre Großeltern. Wenn sich Stanley Collins ihnen je anvertraut hatte, dann hatte sich an ihrem Verhalten Kacey gegenüber nicht das kleinste bisschen verändert.

Dennoch hatte sie das ungute Gefühl, soeben in einer nahezu verheilten Wunde zu stochern, die bei erneutem Aufbrechen eitern und vielleicht sogar tödlich sein würde.

Als »Hark! The Herald Angels Sing« in der Version eines ihr völlig unbekannten Countrystars ertönte, stellte sie das Radio ab. Sie musste in Ruhe nachdenken, was genau sie nun tun sollte. Hatten Jocelyn Wallis, Shelly Bonaventure oder Elle Alexander den Verdacht gehegt, von demselben Mann gezeugt worden zu sein? Hatten sich ihre Mütter alle mit ein und demselben Lokal-Romeo eingelassen?

Wie standen die Chancen dafür?

Zutiefst erschöpft versuchte sie, einen klaren Kopf zu bekommen und sich auf die Heimfahrt zu konzentrieren.

Der Verkehr um diese späte Tageszeit war dünn; die Straßen waren beinahe schneefrei, obwohl ab und an ein paar Eiskristalle funkelten, wenn der Mond die dünne Wolkendecke durchbrach. Kacey war immer noch tief in Gedanken versunken, als ihr ein noch geöffneter Coffee-Drive-in, keine zehn Meilen vor dem Stadtrand von Grizzly Falls, ins Auge fiel. Sie fuhr von der Straße ab, hielt an, ließ ihr Fenster herunter und bestellte einen fettarmen, entkoffeinierten Latte macchiato bei einer Frau, die zum Umfallen müde aussah. Der Geist der Weihnacht war an diesem Stand vorbeigezogen, trotz der bunt blinkenden Lichterketten, den Schneeflocken an den Fenstern und dem weihnachtlichen Zimt-Latte aus dem Angebot.

Sie wartete im Wagen auf ihre Bestellung und hoffte, dass die dampfende Milch ihren Magen beruhigen würde. Als ihr Latte macchiato fertig war, nahm sie den heißen Becher dankbar entgegen und gab ein Trinkgeld. Mit der Andeutung eines Lächelns schloss die Barista das Fenster, dann schaltete sie das Neonschild aus.

Kacey kostete und wünschte sich, der Latte würde sie ein wenig von innen her erwärmen. Sie konnte die Heizung in ihrem kleinen Geländewagen noch so hoch stellen: Das Frösteln, das sich in ihrer Seele breitmachte, seit sie die Wahrheit erfahren hatte, ließ sich nicht so leicht vertreiben.

Gerade als sie wieder auf die Straße biegen wollte, sah sie Scheinwerfer auf sich zurasen, hielt den Becher von sich weg und trat auf die Bremse. Der Edge blieb stehen, und ein großer dunkler Pick-up zog mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorbei. Kaffee schwappte gegen den Becherdeckel.

Schlagartig kam ihr der Pick-up mit dem gewaltigen Kühlergrill in den Sinn, der ihr die Beule in den hinteren Kotflügel gefahren hatte. Grace Perchant hatte behauptet, der Fahrer sei »böse«.

Kacey drängte die Erinnerung an jenen Abend beiseite, erwachte aus ihrer Starre und trank den Kaffee ab, der sich im Deckelrand gesammelt hatte.

Grace war nicht unbedingt die glaubwürdigste Person, wenn man bedachte, dass sie behauptete, mit Geistern sprechen zu können.

Außerdem fuhr fast jeder in Montana einen Pick-up.

Für den Bruchteil einer Sekunde überlegte sie, ob sie dem Wagen folgen sollte, um zu sehen, ob er ein Nummernschild aus einem anderen Bundesstaat mit einer Drei oder einer Acht darauf hatte, doch da klingelte ihr Handy. Auf dem Display erschien Trace’ Nummer. Eli ging es schlecht; sein Fieber war auf über vierzig Grad Celsius gestiegen, und sein Husten hatte sich verschlimmert. Augenblicklich konzentrierten sich all ihre Gedanken auf den Jungen.

Kaum zwanzig Minuten später traf sie auf dem leeren Parkplatz der Poliklinik ein. Auf dieser Seite des Gebäudes war es ziemlich dunkel, der einzige Lichtschein kam von einer Straßenlaterne vor dem rückwärtigen Eingang.

Kacey ließ ihren leeren Kaffeebecher im Getränkehalter stehen, sperrte den Wagen ab und ging zur Hintertür. Sie drehte den Schlüssel im Schloss, stieß die Tür auf und drückte auf den Lichtschalter.

Klick.

Nichts geschah.

Sie versuchte es noch einmal, doch es blieb dunkel, nicht einmal die Sicherheitsbeleuchtung ging an. In den Räumen war es kälter als sonst.

Dieser verdammte Sicherungsschalter!

Am liebsten hätte sie diesem zwielichtigen Geizkragen von Vermieter den Hals umgedreht! Wie oft hatte sie sich schon beschwert? Einmal hatte sie sogar selbst den Elektriker gerufen.

»Na großartig«, murmelte sie.

Natürlich kannte sie sich im Gebäude aus, und natürlich bewahrte sie seit diesen Vorkommnissen eine Taschenlampe in ihrer Schreibtischschublade auf, also tastete sie sich durch den hinteren Gang, an den Behandlungszimmern vorbei, die ihr heute irgendwie bedrohlich vorkamen mit ihren seltsam geformten Instrumenten und Gerätschaften und ihre ohnehin lebhafte Phantasie auf Hochtouren brachten.

Das sind doch bloß die Lichter über dem Untersuchungstisch!

Mit den Fingern an der Wand tastend ging sie weiter und bog um die Ecke zu den Büros. Sie stieß sich den Zeh an der Kante einer Waage und biss sich auf die Zunge, um nicht vor Schmerz laut aufzuheulen.

Normalerweise brannten an sämtlichen Elektrogeräten, den Telefonen, Faxen und Computern, kleine Stand-by-Lämpchen, doch jetzt leuchtete kein einziges grünes, rotes oder blaues Licht. Sämtliche Räume waren komplett dunkel, nur durch die wenigen Fenster warfen die Straßenlaternen einen trüben Schein, der Wände und Fußböden mit wabernden Lichtstreifen überzog.

Zu ihrer Erleichterung fand sie mühelos die Tür zu ihrem Büro und öffnete sie. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Schnurstracks ging sie auf ihren Schreibtisch zu und öffnete die zweite Schublade auf der rechten Seite, wo sie ihre Taschenlampe aufbewahrte.

Ihre Fingerspitzen ertasteten den Griff, und sie hoffte, dass die Batterien nicht völlig leer waren. Der schwache Strahl reichte gerade, sie zum Betriebsraum mit dem Sicherungskasten zu leiten, wo sie den Hauptschalter umlegte.

Merkwürdig.

Normalerweise flogen nur die Sicherungen im Rezeptionsbereich heraus, die übrigen Räume waren nicht betroffen.

Sobald die Hauptsicherung wieder drin war, schaltete sich die Sicherheitsbeleuchtung ein, die Heizung erwachte rumpelnd zum Leben.

Wusch! Wusch! Wusch!, hallte es von Zimmer zu Zimmer.

Sie knallte die Tür des Sicherungskastens zu und verließ den Betriebsraum. Trace O’Halleran und Eli waren schon da, sie hörte es an der Eingangstür klopfen. »Dr. Lambert? Kacey?«, rief Trace.

»Ich komme!« Sie eilte bereits durch den Gang zum Empfangsbereich und schaltete unterwegs die Neonlichter ein. »Entschuldigung«, sagte sie ein wenig atemlos, nachdem sie die Eingangstür aufgeschlossen hatte. »Wir haben hier ein Problem mit den Sicherungen. Der Hauptschalter springt andauernd raus. Das ist wirklich lästig.« Sie winkte die beiden herein und schloss die Tür hinter ihnen ab, dann wandte sie sich an den Jungen. »He, Eli. Wie geht es dir?«

Er antwortete nicht. Sie konnte sehen, dass er fieberte. Als er husten musste, zuckte er zusammen. »Er klagt über Halsschmerzen«, erklärte Trace.

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte Kacey. »Komm, Eli.« Der Junge trug einen Schlafanzug und seine Jacke. Trace hatte ihm einen Schlafsack über die Schultern gelegt.

Im Behandlungszimmer maß Kacey seine Temperatur und seinen Blutdruck, dann sah sie ihm in Hals und Ohren und hörte seine Lungen ab. Die ganze Zeit über lehnte Trace an der Utensilienablage, die Finger fest um deren Rand geschlossen.

Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich denke, wir sollten dich ins Krankenhaus bringen«, sagte sie und versuchte, aufmunternd zu klingen.

»Ins Krankenhaus?«, wiederholte Trace.

»Neieiein!« Wie aufs Stichwort fing Eli an zu protestieren, doch er wurde unterbrochen von einem weiteren Hustenanfall, der ihm die Tränen in die Augen trieb.

»Ich denke, ja.« Sie blickte zu Trace hinüber und bat ihn stumm um Unterstützung. »Wir wollen doch sichergehen, dass du so rasch wie möglich wieder auf die Beine kommst.«

»Das klingt überzeugend«, pflichtete ihr Trace bei.

Elis Gesicht verzog sich. Er hustete erneut.

»Es tut weh, hab ich recht?«, sagte sie zu dem Jungen. »Ich weiß. Aber es wird dir bald bessergehen.«

»Kommst du mit mir?«, fragte Eli, an Kacey gewandt.

»Aber gewiss doch«, versicherte Kacey dem Jungen.

»Ich muss aber doch nicht dableiben?«

»Nur eine kleine Weile«, antwortete Kacey, »aber darüber reden wir, wenn wir da sind, einverstanden?« An Trace gewandt, fügte sie hinzu: »Ich treffe Sie in der Notaufnahme von St. Bart und lasse ihn einweisen.«

»Okay. Wir sind schon unterwegs.«

 

Zwei Stunden später lag Eli in einem Krankenhausbett; an einen Tropf angeschlossen und für »stabil« erklärt, schlief er tief und fest. Das Pflegepersonal kümmerte sich um ihn und hatte versprochen, Trace am Morgen anzurufen und auch Dr. Lambert auf dem Laufenden zu halten. Soweit Trace verstanden hatte, war die Bronchitis seines Sohnes nicht ausgeheilt und hatte sich eventuell zu einer Lungenentzündung ausgeweitet, außerdem hatte sich der Verdacht auf Streptokokken bestätigt. Kacey hatte darauf bestanden, dass der Junge über Nacht im Krankenhaus blieb, damit man ihn am Monitor überwachen konnte; sein Fieber war gesunken, und Trace war doch erleichtert, obwohl er am liebsten auf dem unbequemen Stuhl am Bett seines Sohnes kampiert hätte.

»Ich werde nach ihm sehen, bevor ich morgen in die Poliklinik gehe«, versprach Kacey, als sie aus dem Eingangsbereich des Krankenhauses hinaus auf den Parkplatz gingen, auf dem verstreut ein paar Autos standen. Der nächtliche Himmel war dicht bewölkt. Eine kalte Brise wehte vom Fluss herauf, in dem sich die blinkenden Lichter der Stadt spiegelten.

»Es wird ihm gar nicht gefallen, im Krankenhaus zu sein.«

»Wem gefällt das schon?« Sie drehte sich um und warf einen Blick zurück auf das Gebäude mit seinen hell erleuchteten Fenstern. Eine frische Girlande aus Zedernzweigen war über dem Eingang drapiert. »Morgen sollte er wieder entlassen werden.«

Trace brachte sie zu ihrem Auto, das noch auf dem Parkplatz vor dem Hintereingang der Poliklinik stand, und als sie die Tür öffnete, fasste er sie am Ellbogen und hielt sie einen Moment zurück. »Danke, Kacey«, sagte er.

»Keine Ursache.«

»Im Ernst.«

Sie sah ihn erwartungsvoll an und wandte ihr Gesicht zu ihm, wobei sich die Schneeflocken, die eben wieder vom Himmel fielen, in ihren Augenwimpern fingen und auf ihren Wangen schmolzen.

Im bläulichen Licht der einzelnen Straßenlaterne sah sie fast ein wenig gespenstisch aus; ihre Haut wirkte blass, die Augen eine Spur dunkler als bei Tageslicht. Einen kurzen Augenblick meinte er, Leanna vor sich zu sehen.

Oder Jocelyn?

Er fröstelte. »Ich hab’s gern getan, Trace«, sagte Kacey mit einem Lächeln. »Ich bin froh, dass Sie angerufen haben. Es war wichtig für Eli.«

»Sie hätten mir nur sagen müssen, dass ich ihn ins Krankenhaus bringen soll, doch Sie haben noch mehr getan.«

»Ja, nun, vielleicht wollte ich ihn einfach sehen«, sagte sie schlicht, was sein Herz berührte.

In dieser Sekunde verspürte er den Drang, sie zu küssen.

Es schneite jetzt stärker, dicke Flocken tanzten um sie herum. Am liebsten hätte er sie hier und jetzt in seine Arme gezogen, seine Lippen auf ihre gepresst und einfach abgewartet, was dann passierte.

Sie schien dasselbe zu empfinden, das sah er in ihren Augen, und beinahe hätte er das Atmen vergessen.

Tu’s nicht! Es verkompliziert die Dinge nur, wenn du diese Frau küsst!

Und trotzdem war es da, das Knistern zwischen ihnen.

»Ich rufe Sie an, wenn ich morgen früh nach ihm gesehen habe.« Dann, noch bevor er reagieren konnte, stellte sie sich auf die Zehen, umarmte ihn und streifte mit den Lippen seine Wange. Sie fühlte sich stoppelig an.

Als sie ihm ihren Arm entziehen und ins Auto steigen wollte, sagte er: »Nein. Warte.« Sein Griff wurde fester, und sie zögerte und blickte ihn erstaunt über die Schulter an. Hatte er sie gerade geduzt?

»Was denn?«

»Ich muss dir etwas zeigen.«

Tatsächlich. »Jetzt?«

»Ja, aber bei mir zu Hause.«

»Ich soll zu dir fahren?«

Er sah den Zweifel in ihren Augen. Ja, sie hatte ihn umarmt und seine Wange geküsst, aber vermutlich hatte sie ihn nur trösten wollen, und er hatte sie mit seiner Bitte verwirrt.

»Ich habe einen neuen Hund, den ich schon viel zu lange allein gelassen habe«, gab sie zu bedenken.

»Dann werde ich zu dir kommen. Ich muss nur schnell etwas von zu Hause holen.« Als er sah, dass sie erneut Einwände erheben wollte, fügte er rasch hinzu: »Ich glaube nicht, dass das warten kann. Ich bin in ungefähr vierzig Minuten bei dir. Es wird nicht lange dauern, versprochen. Wirklich, du solltest dir das ansehen.«

»Kannst du mir nicht einfach jetzt sagen, was es ist?«

Er spürte, wie einer seiner Mundwinkel nach oben zuckte. »Nein.«

»Du weißt, wo ich wohne?«

Er nickte. »Ich habe ein wenig recherchiert. Aber das erzähle ich dir gleich. Vertrau mir.«

Sie kniff misstrauisch die Augen zusammen, doch schließlich nickte sie. »Einverstanden.«

»Gut.« Die Wagentür schlug zu, sie ließ den Motor an, im Wageninnern ertönte »Carol of the Bells«.

Eine Hand zum Abschied erhoben, fuhr sie davon. Eilig lief er zu seinem Pick-up. Er wusste nicht, warum, doch plötzlich hatte er den Drang verspürt, sich ihr anzuvertrauen. Vielleicht war es die Art und Weise, wie sie ihm in die Augen gesehen oder sich um seinen Sohn gekümmert hatte, vielleicht dachte er auch einfach nur, dass sie die Wahrheit kennen sollte, doch er wollte seine Beweggründe nicht weiter hinterfragen. Also hastete er, so schnell er konnte, zum Parkplatz des St. Bart Hospital, kletterte hinters Steuer seines Pick-ups und drehte den Zündschlüssel.

Gerade als er auf die Hauptstraße biegen wollte, hörte er eine Sirene gellen. Die roten Lichter eines Ambulanzfahrzeugs zuckten durch die Nacht. Vor den Toren zur Notaufnahme blieb der Wagen stehen. Ein Rettungssanitäter sprang heraus und schob eilig eine Rolltrage, auf der ein älterer Mann mit Sauerstoffmaske und Tropf lag, durch die automatischen Schiebetüren.

Wieder dachte Trace an seinen Sohn, der im zweiten Stock schlief. Eli war dort oben in Sicherheit. Konzentriert fuhr er durch den Schnee zur Ranch. Er ließ den Motor laufen, rannte die Hintertreppe hinauf ins Haus, wo er kurz nach Sarge sah. Der Hund lag zusammengerollt auf seinem Lager im Wohnzimmer und schlief. Als Trace hereingestürmt kam, hob er den Kopf und brachte sogar ein Schwanzwedeln zustande. »Ruh dich schön aus«, sagte Trace zu dem Schäferhundmischling, dann raffte er die Papiere zusammen, die auf seinem Schreibtisch lagen, schnappte sich seinen Laptop und war schon wieder zur Tür hinaus.

In der Fahrerkabine war es warm. Er stellte die Automatik auf R und gab Gas, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was zur Hölle er da eigentlich tat.