Kapitel 2
Ihr Sohn oder Ihre Tochter ist heute einer oder mehreren Unterrichtsstunden ferngeblieben …«
Detective Regan Pescoli spürte, wie ihr Blut anfing zu kochen, als sie auf dem Anrufbeantworter die aufgezeichnete Nachricht von Biancas Highschool abhörte. »Und warum, zum Teufel?«, murmelte sie und drückte die Aus-Taste. Sie hatte ihre Tochter höchstpersönlich vor der Schule abgesetzt. Bianca war noch zu jung, um Auto zu fahren.
Regan wählte die Nummer von Biancas Handy und wurde mit der Mailbox verbunden. Wie sollte es auch anders sein? Keines ihrer Kinder nahm einen ihrer Anrufe direkt entgegen. Sie schrieb eine SMS: Wo bist du? Die Schule hat angerufen, du würdest blaumachen. Melde dich!
»Großartig«, brummte sie und rollte mit ihrem Schreibtischstuhl nach hinten. Nachdem sie einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, stand sie auf und ging zu Selena Alvarez’ Arbeitsplatz im Großraumbüro des Sheriffs von Pinewood County. Ihre Partnerin hockte zusammengekauert vor ihrem Schreibtisch. Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, sah sie die ordentlichen Papierstapel durch, die sich vor ihr auftürmten. Alvarez’ dichtes schwarzes Haar war zu einem dicken Knoten am Hinterkopf zusammengebunden und glänzte bläulich unter der Deckenbeleuchtung.
Als Pescoli näher kam, blickte sie auf und hob einen Finger.
»Ja, ich weiß, aber ich warte jetzt schon seit einigen Wochen auf diese Testergebnisse«, sprach sie mit fester Stimme in den Hörer, einen ungehaltenen Ausdruck im Gesicht. Wenn Alvarez eines nicht ertragen konnte, so war es Inkompetenz. »Hm-hm … ja, nun, wir sind alle unterbesetzt. Ich bekomme die Ergebnisse in … Wie bitte? Wenn das das Beste ist, was Sie tun können … einverstanden … morgen ist in Ordnung.« Sie legte auf, schäumend vor Zorn. »Wollen wir wetten, dass ich auch morgen noch nicht weiß, was in Donna McKinleys Blutkreislauf war?« Regans Partnerin lehnte sich zurück und blickte finster auf ihren Computermonitor, auf dem das Foto einer Frau zu sehen war. »Ich würde das einfach gern vom Schreibtisch haben, verstehst du?«
Pescoli verstand. Sie beide hätten gern bestätigt bekommen, dass es sich bei Donna McKinleys Tod um einen Unfall handelte, dass sie am Steuer eingeschlafen und von der Straße abgekommen war. Dass sie nicht irgendeiner schändlichen Tat ihres Ex-Knackis von Lebensgefährten, Barclay Simms, zum Opfer gefallen war, der vor gerade mal drei Wochen eine Hunderttausend-Dollar-Lebensversicherung auf Donna abgeschlossen hatte. Dabei bezog er Arbeitslosengeld.
Alvarez seufzte laut. »Entschuldige.«
»Kein Problem. Ich wollte dir ohnehin nur sagen, dass ich unterwegs bin. Muss meine Tochter aufspüren.«
»Schwänzt sie die Schule?«
»Sieht ganz danach aus«, erwiderte Pescoli kopfschüttelnd. Bis vor einem Jahr war Bianca eine hervorragende Schülerin gewesen, hatte immer die besten Leistungen erbracht und war stolz darauf gewesen. Doch dann, in ihrem letzten Jahr auf der Junior High, war es mit ihren Noten plötzlich bergab gegangen. Sie hatte versprochen, dass sich das ändern würde, wäre sie erst auf der Highschool, »wo es wirklich drauf ankam«. Doch bislang hielt sie ihr Wort nicht.
»Ich halte die Stellung«, sagte Alvarez, was in der Tat stimmte. Sie war ein echter Workaholic, der sich selten an die normalen Arbeitszeiten hielt. Pescolis Partnerin war alleinstehend und ging völlig in ihrem Job auf. Mitunter hatte Regan den Eindruck, ihre jüngere Kollegin habe keinerlei Sozialleben, was schade war. Doch heute blieb ihr keine Zeit, um darüber nachzudenken.
»Ich schulde dir was.«
Alvarez schnaubte. »Ich werde dich daran erinnern.«
Genau wie an die anderen hundert Male, dachte Pescoli, während sie sich Jacke, Schal und Mütze schnappte und aus dem Büro hinauseilte. Auf dem Weg nach draußen kam sie am Aufenthaltsraum vorbei, wo Joelle Fisher, die Empfangssekretärin des Dezernats, Schachteln voller Weihnachtsschmuck öffnete. Silberne Sterne, glitzerndes Lametta, künstliche Zuckerstangen, Lichterketten, ein sich drehender Miniaturtannenbaum und sogar ein etwas lüstern dreinblickender Santa Claus, der Pescoli noch nie ganz geheuer gewesen war, sammelten sich auf den leeren Tischen, während Joelle überlegte, wie sie das Department »ein bisschen weihnachtlich« gestalten sollte. Warum Sheriff Dan Grayson diesem Unsinn keinen Riegel vorschob, entzog sich Pescolis Verständnis. Der stets überschäumenden Joelle mit ihren kurzen blonden Locken, den riesigen Ohrringen und den Zehn-Zentimeter-Absätzen schien nicht aufzufallen, dass ihre Kollegen dem Geist der Weihnacht nicht mit derselben Überzeugung und Begeisterung anhingen wie sie.
»He, Regan!«, rief Joelle ihr hinterher. Pescoli blieb stehen, warf einen Blick in den Aufenthaltsraum und stellte fest, dass Joelle bereits eine Rudolph-Brosche mit blinkender roter Nase trug. »Du weißt doch sicher, dass wir Montag früh auslosen, wer wen beim Wichteln beschenkt, oder?«
»Und du weißt sicher, dass es bis Weihnachten noch über sechs Wochen sind.«
»Das geht schneller, als du denkst«, entgegnete Joelle gelassen. »Nächsten Dienstag ist schon Thanksgiving, und warum sollten wir die festliche Zeit nicht so lange genießen wie möglich?«
»Weihnachten im Juli? Ohne mich!«
»Jetzt sei doch nicht so eine Spielverderberin!«, schmollte Joelle, doch ihre Mundwinkel zuckten. »Am Montag um acht. Du kommst, oder?«
»Mit Glöckchenklang, klingelingeling«, brummte Pescoli. Sie konnte wahrhaftig keinerlei wie auch immer geartete weihnachtliche Gefühle aufbringen, solange sie nicht wusste, wo ihre Tochter steckte.
»Schlittenglöckchenklang, wenn ich bitten darf!« Joelle kicherte über ihren eigenen Scherz und wandte sich glücklicherweise wieder dem Aufenthaltsraum und ihrer Weihnachtsdekoration zu.
Verrückt, dachte Pescoli, während sie die Außentüren am Ende des Gangs aufdrückte und einen schmalen Weg entlanghastete, der die spröde Grasfläche durchschnitt. Hätten die vereinzelten kleinen Schneeflächen sie nicht daran erinnert, dass es in West Montana bereits Winter war, dann hätte es mit Sicherheit der eisige Wind getan, der an der Kette der Fahnenstange riss.
Am Jeep angekommen, stieg sie ein und ermahnte sich, nicht nach der Schachtel Marlboro Lights zu suchen, die sie »für den äußersten Notfall« im Handschuhfach versteckte. Offiziell hatte sie im vergangenen Januar mit dem Rauchen aufgehört, nachdem ein gemeingefährlicher Irrer sie beinahe umgebracht hatte, doch ab und zu, wenn es einfach zu hart kam, steckte sie sich heimlich eine an. Und sie hatte sich geschworen, dass sie deswegen kein schlechtes Gewissen haben würde.
Dass ihre Tochter blaumachte, war kein Notfall, der sie zur Zigarette greifen ließ, aber der Tag war noch nicht vorbei. Womöglich steckte Bianca in Schwierigkeiten. Bei ihrer Arbeit bekam Regan genug Schreckliches zu Gesicht – Opfer grauenhafter Unfälle, ausrastende Ehemänner, durchgeknallte Psychopathen –, aber sie verdrängte, was alles passiert sein könnte, stellte die Automatik auf R und wartete, bis Cort Brewster, der stellvertretende Sheriff, hinter ihrem Jeep vorbeigerollt war. Brewster und sie waren sich noch nie ganz grün gewesen, und schon gar nicht, seit Regans Sohn Jeremy mit Brewsters kleiner Prinzessin Heidi zusammen war und Jeremy für jedes noch so kleine Problem verantwortlich machte, das Heidi betraf.
»Dass ich nicht lache«, murmelte Pescoli und setzte, ohne Brewster zu grüßen, aus der Parklücke. Ihrer Meinung nach war der Kerl ein arroganter Heuchler, und sie betete inbrünstig, dass sie nicht seinen Namen zog, wenn Joelle am Montag ihre alberne Wichtelauslosung veranstaltete. Loszugehen und nette kleine Geschenke für ihn zu kaufen, die sie dann in seinem Schreibtisch oder Wagen versteckte, war mehr, als sie ertragen konnte.
Oder war sie einfach nur kleinlich? Regan konzentrierte sich auf den Verkehr und versuchte erneut, ihre Tochter anzurufen. Der Anrufbeantworter meldete sich. Natürlich. »Komm schon, Bianca, geh dran«, drängte sie.
Obwohl es nicht mal Abend war, wurde es bereits dunkel.
Sie rief zu Hause an, wo sie immer noch einen Festnetzanschluss hatten. Es klingelte viermal, dann wurde der Hörer abgenommen. »Hallo?«, meldete sich ihr Sohn gleichgültig, und Pescoli, die vor einer roten Ampel abbremste, verspürte für einen kurzen Augenblick Erleichterung. Wenngleich sie sich wunderte, was Jeremy, der im Sommer ausgezogen war, zu Hause machte, doch dafür war jetzt keine Zeit. Noch nicht.
»Hier spricht Mom. Ist Bianca da?«
»Ja.«
Gott sei Dank. »Ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Ähm … ja, ich denke schon.«
»Hol sie ans Telefon.«
»Sie schläft.«
»Das ist mir egal!«
»Verdammt, du musst doch nicht gleich schreien!«
»Und du musst nicht fluchen.«
»Na schön, ich geh ja schon.«
Die Ampel sprang auf Grün. Als sie Richtung Boxer Bluff fuhr, einem ziemlich steilen Berg, auf dem der obere Teil der Stadt lag und an dessen Hängen sich die Besserbetuchten von Grizzly Falls niedergelassen hatten, hörte sie gedämpfte Stimmen, bis sich ihre Tochter endlich mit einem verschlafenen »Ja?« meldete.
»Was ist los?«, fragte Pescoli scharf.
»Was soll schon los sein?«, fragte Bianca zurück.
»Die Schule hat angerufen, um mir mitzuteilen, dass du nicht zum Unterricht erschienen bist.«
»Es ging mir beschissen.«
»Schlecht«, korrigierte Pescoli automatisch, während sie auf die Straße einbog, die aus der Stadt hinausführte. »Es ging dir schlecht.«
»Wie auch immer.«
»Wie bist du nach Hause gekommen?«
»Mit Chris.«
Er war Biancas Immer-mal-wieder-Freund. »Er hat keinen Führerschein.«
»Sein Bruder Gene hat uns gefahren.«
Der Siebzehnjährige war bereits in einen Totalschaden verwickelt gewesen. Pescoli wusste alles darüber, hatte gesehen, was von dem Honda Accord, Baujahr 1990, übrig geblieben war, nachdem dieser zunächst gegen einen Briefkasten, dann gegen einen Baum geprallt war. Es war ein Wunder, dass der Junge überlebt hatte und mit einem gebrochenen Schlüsselbein sowie ein paar Kratzern davongekommen war. »Ich bin auf dem Weg nach Hause. Wir unterhalten uns später.« Sie sah in den Rückspiegel, dann wechselte sie die Spur, um Bauarbeitern auszuweichen, die dabei waren, die Straße aufzureißen.
»Ich habe mich schon mit Dad ›unterhalten‹.«
Noch mehr gute Nachrichten. »Und was hat dein Vater gesagt?«, fragte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Luke »Lucky« Pescoli war kaum der Inbegriff eines elterlichen Vorbilds.
»Ich solle mich ausruhen.«
Wunderbar. »Ich bin in fünfzehn Minuten da. Jetzt hol mir deinen Bruder ans Telefon.«
»Sie will dich sprechen.« Biancas Stimme klang, als sei sie glücklich, den Hörer an Jeremy zurückgeben zu können.
Wieder überlegte Pescoli, ob sie sich doch eine anstecken sollte, aber entschied sich dagegen. Mittlerweile wichen die Geschäfte an der Straße Wohnhäusern.
»Hm?«, meldete sich ihr Sohn.
»Ich frage mich, was du daheim machst?« Als er diesen Sommer ihr kleines Haus in den Hügeln gut fünf Meilen außerhalb von Grizzly Falls verlassen hatte, war sein Auszug sowohl ein Segen als auch ein Fluch gewesen.
»Ähm … ich bin hier doch zu Hause?«
»Du bist ausgezogen. Ich hatte dich nicht darum gebeten, du selbst hast darauf bestanden«, erinnerte sie ihn. »Ich dachte, du wärst bei der Arbeit.«
»Sie haben das Gas in meiner Wohnung abgestellt. Die Heizung funktioniert nicht. Ich schätze, der Scheck ist nicht rechtzeitig angekommen, dabei hab ich ihn gestern abgeschickt. Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass einer meiner Mitbewohner das Geld nicht rausgerückt hat.«
»Und dein Job?«, fragte sie geduldig.
Zögern. »Lou braucht mich heute nicht an der Tankstelle.«
»Tatsächlich?« Seit neun Monaten arbeitete Jeremy als Tankwart bei Corky’s Gas and Go, während er überlegte, ob er doch noch weiter zur Schule gehen sollte. »Jeremy?«, hakte Regan nach, als er nicht gleich antwortete. »Sag mir einfach, dass du deinen Job nicht los bist.«
»Okay.« Er klang abwehrend. Kurz angebunden.
Verdammt noch mal. Wenn nur Joe noch am Leben wäre! Jeremys Vater, ebenfalls ein Cop, hatte in Krisensituationen stets großartig reagiert. Bis er während des Dienstes ums Leben gekommen war. Sein Sohn war noch zu jung gewesen, um sich wirklich an seinen Vater zu erinnern. Also war Pescoli dem Jungen Mutter und Vater zugleich gewesen, doch dann hatte sie den Fehler gemacht, Luke zu heiraten, der zwar versucht hatte, Joe zu vertreten, was aber komplett schiefgegangen war.
»Warte auf mich. Ich bin gleich zu Hause. Und würdest du vorher bitte dafür sorgen, dass Cisco sein Abendessen bekommt?«
»Wir haben kein Hundefutter mehr.«
»Dann kauf welches.«
»Ich, ähm, ich habe kein Geld.«
»Na fabelhaft.«
»Ich muss auflegen. Heidi hat mir gerade eine SMS geschickt.«
»Jeremy! Warte –« Doch die Verbindung war schon abgebrochen. Sie hatte nicht einmal die Chance gehabt, ihn vor Heidi Brewster zu warnen – mal wieder. Wie sehr hatte sie doch gehofft, diese Teenagerliebe wäre letztes Jahr zu Ende gegangen!
Offenbar wurden ihre Gebete niemals erhört. Aber das war ja nichts Neues. Vielleicht hatte sie einen Fehler gemacht, als sie nicht bei ihrem Freund eingezogen war, aber sie hatte diesen Schritt für unklug gehalten. Nur weil ein Mann sie im Schlafzimmer in Ekstase versetzen konnte, musste das nicht auch heißen, dass sie ihm das Etikett STIEFVATER aufkleben konnte. Sosehr sie auch meinte, in ihn verliebt zu sein – auf diese nächste Stufe wollte sie sich nicht wagen. Noch nicht.
Vielleicht war sie bindungsunfähig oder wie immer man es nennen wollte, doch sie war immerhin zweimal verheiratet gewesen, und das dürfte reichen.
Zumindest eine Zeitlang. Bis ihre Kinder erwachsen waren. Oder bis sie sich mit der Situation wohler fühlte.
Du könntest ihn verlieren, warnte sie ihre innere Stimme, die immer alles schlechtmachte. Nun, dann sollte es eben nicht sein.
Nach der nächsten Kreuzung hielt sie an einem Mini-Markt an und kaufte einen kleinen Sack Hundefutter, eine große Flasche Milch und zwei Snickers, die zu ihrer Schachtel Marlboro Lights ins Handschuhfach wandern würden.
Nur für alle Fälle. Dann fuhr sie weiter. Zwanzig Minuten später betrat sie ihr Häuschen durch die Garagentür. Cisco, ihr Terrier unbestimmbarer Abstammung, schoss von der Couch, sauste über den Wohnzimmerfußboden und bellte aufgeregt, dann fing er an, Pirouetten um ihre Füße zu drehen.
»He, ich freue mich auch, dich zu sehen.« Sie legte die Lebensmittel auf dem Küchentresen ab, beugte sich hinunter, tätschelte Ciscos struppiges Köpfchen und kraulte ihn hinter den Ohren. Dann richtete sie sich wieder auf und ging durch den Essbereich ins Wohnzimmer, wo ihr Sohn in seiner ganzen Länge von knapp eins neunzig auf dem Sofa lag, die Füße über dem Boden baumelnd. »Ich bin mir nicht sicher, ob das Gleiche auch für dich gilt.«
»Nette Begrüßung, Mom«, sagte er, wobei er sich nicht die Mühe machte aufzusehen, sondern weiter auf den Fernseher starrte, wo irgendeine Realityshow lief.
»Erzähl mir, was bei deiner Arbeit passiert ist.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen.«
Mein Gott, er sah aus wie sein Vater. Dunkles Haar, durchdringende Augen, markante Wangenknochen und ein Zwei-Tage-Bartschatten auf dem männlichen Kinn, dazu ein dunklerer Fleck, wo es ihm gelungen war, sich ein Unterlippenbärtchen zu züchten. »Hat man dich gefeuert?«
Endlich sah er auf und starrte sie an, als wäre sie begriffsstutzig. »Sie haben mir nur meine Stunden gekürzt, das ist alles.«
»Das wird es schwierig machen, die Miete oder die Gasrechnung zu bezahlen.«
Er zuckte die Achseln. Wie gerne hätte sie ihm erklärt, welche Konsequenzen sein nachlässiger Lebensstil nach sich ziehen würde, doch Jerry hatte schon immer zu der Sorte Kinder gezählt, die am ehesten aus Erfahrung lernte. Dass man ihm das Gas abgestellt hatte, würde ihm eine Lektion sein.
Sie klopfte ihm auf die Schulter. »Ich bin froh, dass du da bist; ich wünschte mir nur, du wärst hergekommen, um mich zu sehen und nicht, weil du dir in deinem Apartment den Hintern abfrierst.«
»Ja«, sagte er schließlich. »Ich weiß.«
»Ich werde mal nach deiner Schwester schauen.« Noch ein Schulterklopfen. »Könntest du bitte Cisco etwas zu fressen geben? Das Hundefutter ist in der Einkaufstüte.«
»Ja.« Er rührte sich nicht.
»Wenn es geht, noch in diesem Jahrhundert.«
»Sehr komisch«, erwiderte er, doch immerhin brachte er ein schiefes Grinsen zustande, das einen umwerfen konnte. Genau wie sein Vater. Kein Wunder, dass Heidi Brewster außer Rand und Band war.
Endlich rappelte sich Jeremy hoch. »Dann komm schon, du Winzling«, sagte er, an den Hund gewandt, während Pescoli den kurzen Flur hinunterging und an Biancas Zimmertür klopfte, bevor sie das Chaos betrat. Während in Jeremys ehemaligem Schlafzimmer im Untergeschoss Poster von Basketballspielern und Rockbands hingen, war Biancas Reich der Inbegriff eines Mädchentraums, angefangen bei einem Himmelbett, das sie mit Weihnachtslichtern dekoriert hatte, bis hin zu einem Schminktisch mit beleuchtetem Spiegel, auf dem mindestens zehn Bürsten und Pinsel in einem Behälter neben Körben voller Lippenstift, Lidschatten und Gott weiß was standen. Die Wände waren knallpink gestrichen – ihre Lieblingsfarbe.
Bianca hatte sich im Bett zusammengerollt, eine silberglänzende Bettdecke über sich, eine Flasche kalorienarme Pepsi auf dem Nachttisch, daneben ein Stapel Teeny- und Modemagazine, einige davon aufgeschlagen auf dem Bett verstreut. Sie tippte Textnachrichten in ihr Handy, während auf ihrem Laptop irgendein Film lief.
»Also, was war los?«, fragte Pescoli, als ihre Tochter kurz aufblickte und ihr ein süßes, unschuldiges Lächeln schenkte. Rotblonde Locken umrahmten ihr Gesicht mit den kaum sichtbaren Sommersprossen auf dem Nasenrücken und den großen, haselnussbraunen Augen. Während ihr Bruder das Ebenbild von Joe Strand war, ähnelte Bianca ihrem eigenen Vater, Luke Pescoli. Zum Glück schien Bianca sehr viel intelligenter als dieser zu sein – nun, zumindest hatte sie das bis zum letzten Jahr angenommen.
»Wie meinst du das?«, fragte Bianca unschuldig.
»Jetzt stell dich nicht dumm. Du weißt genau, wovon ich rede. Warum hast du den Unterricht geschwänzt? Wenn du krank gewesen wärst, hättest du zum Sekretariat gehen und darum bitten können, dass man mich anruft.«
Bianca verdrehte die Augen. »Du kannst doch nicht immer gleich kommen, schließlich hast du einen Job. Und Chris hat angeboten, mich nach Hause zu bringen.«
»Du meinst, sein Bruder Gene.«
»Macht das einen Unterschied?«
»Ja, einen ganz gewaltigen. Chris hat keinen Führerschein, und es ist ein Wunder, dass sein Bruder seinen nicht abgeben musste.« Sie kniff die Augen zusammen. »Vielleicht hat er gar keinen mehr.«
Bianca wich ihrem Blick aus und schwieg. Was alles sagte.
»Komm schon, Bianca, nun sei doch nicht so dumm. Wenn Gene Schultz in einen weiteren Unfall verwickelt wurde oder –«
»Wurde er nicht, klar?«, blaffte Bianca.
Pescoli schob ein paar Zeitschriften zur Seite und setzte sich seitlich ans Fußende. »Du darfst nicht einfach die Schule schwänzen.«
»Jeremy hat ständig blaugemacht.«
»Tolles Beispiel.« Sie schüttelte den Kopf. »Wie du siehst, sind die Möglichkeiten deines Bruders deswegen sehr eingeschränkt. Mach bitte nicht denselben Fehler.« Als sie sah, dass ihre Worte zu nichts führten, fragte sie: »Also, warum bist du nach Hause gekommen?«
Bianca seufzte. »Ich war einfach müde.«
»Das ist keine Entschuldigung –«
»Und ich habe mich irgendwie seltsam gefühlt. Ich weiß auch nicht. Als würde ich die Grippe kriegen. Kara White und Shannon Anderssen sind beide krank, Monty Elvstead auch, glaube ich, und sie sind alle in meinem Spanischkurs. Deshalb bin ich nach Hause gekommen. Das ist doch keine große Sache!« Sie funkelte ihre Mutter an. »Ich konnte dich nicht anrufen. Du arbeitest doch immer, und ich wollte nicht in diesem Vorzimmer sitzen, wo mich Mrs. Compton, diese verschrobene Konrektorin, die ganze Zeit anstarrt.«
»Gibt es denn kein Krankenzimmer?«
»Doch, aber da ist es echt übel! Ich wollte einfach nur nach Hause kommen, mein Gott noch mal. Du tust ja gerade so, als hätte ich gegen irgendein Gesetz verstoßen!«
»Hast du Fieber gemessen?«
»Nein, und das werde ich auch nicht tun.«
»Was hast du dann? Bauchweh? Krämpfe? Halsschmerzen?«
»Alles, okay?« Sie kroch tiefer unter die Decke. Die Zeitschriften rutschten zu Boden. »Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
»In den nächsten Jahren nicht. Das gehört zu meinen Pflichten.«
»Im Ernst? Zu deinen Pflichten? Meine Güte, Mom, du bist so …« Der Rest der Tirade wurde glücklicherweise von der Bettdecke verschluckt, die sie sich über den Kopf zog. Ein dünner Arm schlängelte sich darunter hervor. Biancas Finger glitten suchend übers Laken, doch bevor sie das Handy ertasten konnten, griff Pescoli danach.
»Das wirst du nicht brauchen«, sagte sie, steckte das Mobiltelefon ihrer Tochter in die Tasche und sammelte die heruntergefallenen Magazine von dem abgewetzten Flauschteppich.
Eins davon weckte ihre Aufmerksamkeit. SHELLY BONAVENTURES TOD – SELBSTMORD stand auf der Titelseite. Unter der fett gedruckten Schlagzeile war das Foto einer hübschen Frau mit einem breiten Lächeln und schalkhaft blitzenden Augen abgebildet. Sie hatte einen ebenmäßigen Teint und unbändige kastanienbraune Locken. Sie sah so aus, als hätte sie alles im Griff.
Dennoch war Shelly Bonaventure – eine Schauspielerin, so fiel Pescoli jetzt ein, die bei einer von diesen Vampirserien mitgewirkte hatte, nach denen Bianca vor ein paar Jahren süchtig gewesen war – zu einer weiteren Nummer in der Statistik geworden, war einen weiteren, sinnlosen Tod in der Traumfabrik gestorben.
Offenbar lief es nirgendwo gut.
Regan Pescoli klemmte sich die Zeitschriften unter den Arm, marschierte aus dem Zimmer und ließ ihre Tochter schmollend zurück.