Epilog
Nun kommt schon … wir wollen Weihnachtslieder singen!«, rief Joelle, die ein albernes rotes Filz-Rentiergeweih trug und die ganze Mannschaft in den Aufenthaltsraum scheuchte.
Pescoli sah von ihrem Schreibtisch auf, wo sie die Todesanzeigen und Zeitungsartikel über die beiden Schwestern von Cameron Johnson studierte, die so jung gestorben waren … bei Unfällen. »Ich werde keine Weihnachtslieder singen! Ich habe zu arbeiten!«
»Ach komm schon, sei nicht so ein Scrooge!«, tadelte Joelle, zu deren Lieblingslektüre zweifelsohne das Dickens’sche Weihnachtsmärchen zählte, bevor sie auf ihren mörderischen High-Heels davontrippelte. Solche Absätze passten zu Barbie … und zu Michelle. Ja, Luckys junger Ehefrau würden solche Stelzen gefallen!
Bis Weihnachten war es nur noch eine Woche, und Joelle fieberte den Feiertagen entgegen. Weihnachtsmusik, Plätzchen und festlich geschmückte Girlanden, wohin das Auge nur blickte. Was eine einzelne Frau mit einer öffentlichen Behörde alles anstellen konnte!
Nicht dass Pescoli dem allzu viel Aufmerksamkeit schenkte. Sie hatte mehr als genug mit ihrem eigenen Leben zu tun. Santana übte immer mehr Druck auf sie aus. Brady Long, sein Arbeitgeber und reicher Kupfererbe, hatte ihm einen Teil seines riesigen, über zweitausend Morgen großen Anwesens überlassen, und Nate wollte unbedingt, dass sie mit ihren Kindern und dem Hund bei ihm lebte.
Als wäre das so einfach.
Es ging das Gerücht, Kacey Lambert würde bei Trace O’Halleran einziehen, nach so kurzer Zeit, und sie konnte sich nicht mal an einen Mann binden, den sie schon seit über einem Jahr liebte.
Pescoli schloss die Augen und seufzte.
Nein, dachte sie dann und versuchte, sich wieder auf den Fall zu konzentrieren. Abwesend klickte sie sich durch die Berichte auf ihrem Computer.
Sie war sich einfach nicht sicher, wenngleich eine Vaterfigur ihren Kindern nicht schaden würde. Jeremy, der es langsam satthatte, sich zu langweilen und ihr auf die Nerven zu gehen, hatte eingewilligt, ab Januar wieder die Schulbank zu drücken, und Pescoli hielt alle Daumen, dass er seine Meinung nicht wieder änderte. Nach wie vor war er mit Heidi Brewster zusammen, aber die beiden machten jetzt eher ein »großes Geheimnis« daraus, was gut oder auch nicht gut sein mochte, je nachdem, wie man es sah.
Bianca war so weit wiederhergestellt, dass sie in die Schule gehen konnte. In letzter Zeit schien sie sich für einen anderen Jungen zu interessieren, der schon ein paarmal bei ihnen vorbeigekommen war. Er spielte Basketball und sprach Regan mit Ms. Pescoli an, anstatt sie zu ignorieren. Chris hing natürlich auch bei ihnen rum, aber es sah so aus, als würde diese »unsterbliche« Romanze langsam in Vergessenheit geraten.
Was das Weihnachtswichtel-Debakel anbetraf, so hatte Pescoli beschlossen, einfach mitzuspielen und dem stellvertretenden Sheriff eine Flasche Wein mit einer kleinen Weihnachtsmannmütze zu schenken, worüber Joelle mit Sicherheit in Verzückung geraten würde. Sie selbst fand das völlig gaga, aber ihr hatte einfach nichts Besseres einfallen wollen. Der Oregon Pinot Noir war im Angebot gewesen und damit unterhalb des Zehn-Dollar-Limits, außerdem war er in Pescolis Augen so etwas wie ein Friedensangebot. Zumindest hoffte sie das.
Immerhin musste sie für diesen Mistkerl arbeiten.
Es ging also wieder bergauf. Obwohl das nicht auf Alvarez zuzutreffen schien, die von ihrer alljährlichen Weihnachtspanik befallen wurde. Sie fuhr nie über die Feiertage in ihre Heimat Oregon und wollte auch dieses Jahr im Büro verbringen, damit die Leute mit Familie freimachen konnten. Pescoli lud sie zu sich nach Hause ein, aber sie lehnte ab und behauptete, die freie Zeit mit Mrs. Smith, ihrer frisch adoptierten Katze, verbringen zu wollen.
Als Pescoli sich nach dem Grund für ihre totale Weihnachtsverweigerung erkundigen wollte, schnitt ihre Partnerin wie immer sofort ein anderes Thema an.
Die Feiertage waren für Alvarez offenbar ein absolutes Tabu, wenngleich sie nicht so unter Joelle Fishers Weihnachtswahn zu leiden schien wie sie selbst.
Pescoli schaute aus dem Fenster und stellte fest, dass es schon wieder schneite. Wenigstens hatten sich die Winterstürme gelegt, so dass die Arbeit im Department auf ein normales Level zurückgegangen war. Im Fall des psychopathischen Serienmörders Cameron Johnson hatte sich das FBI eingeschaltet und sämtliche Ordner, Notizen und Recherchen aus der Geheimkammer im Keller seines Hauses an sich genommen. Jetzt brüteten die Feds über der Sache.
Anscheinend war Cameron besessen davon gewesen, sämtliche weiblichen Nachkommen von Samenspender Nummer 727 zu eliminieren. In seinen Aufzeichnungen hatten die Beamten Hinweise auf mehr als vierzig Frauen gefunden, die über die ganzen Staaten, bis hinauf nach Neuengland, verstreut lebten.
DNS-Untersuchungen hatten ergeben, dass die toten Frauen aus dieser Gegend genau wie Shelly Bonaventure tatsächlich von Gerald Johnson abstammten, bei den anderen »Unfallopfern« – »Unwissenden«, um mit Cameron Johnson zu sprechen – musste dies noch geklärt werden, solange sie nicht eingeäschert worden waren.
Auch anderes, handfestes Beweismaterial überführte Johnsons Sprössling seiner grauenvollen Taten. Die schwarze Farbe an Kaceys Ford und Elle Alexanders Minivan stimmte mit der des spezialangefertigten Kühlergrills überein, den man in einem alten Schafstall etwa hundert Meter hügelabwärts von Cameron Johnsons Wohnhaus gefunden hatte und der haargenau auf dessen Pick-up passte. Außerdem hatte man gestohlene Nummernschilder sichergestellt, welche eine Identifikation des Fahrzeugs erschwert hatten.
Pescoli lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück, der ein protestierendes Quietschen von sich gab. Gedämpfte Stimmen drangen durchs Büro zu ihr herüber …
»Kling, Glöckchen, klingelingeling …«
Sie schaute auf die Uhr. Die Vorstellung konnte beginnen, Joelle hatte die Bühne perfekt vorbereitet.
Doch es gab noch ein paar Ungereimtheiten in dem Fall, die Pescoli keine Ruhe ließen. Laut Kacey Lambert war Cameron Johnson der Mann gewesen, der sie vor ein paar Jahren in Seattle in einem Parkhaus überfallen hatte. Unbestreitbar war der Kerl ein Psychopath erster Güte, der immer mehr in einen Blutrausch geraten war und deshalb immer größere Risiken auf sich genommen hatte. Doch das erklärte nicht alles. Woher hatte er all die Informationen über die Klinik und seine Opfer? Hatte er das wirklich alles allein herausgefunden? Sie glaubte das nicht.
Außerdem: In der Nacht, in der es zum tödlichen Showdown gekommen war, war Leanna O’Halleran mit einem gestohlenen Gewehr aufgekreuzt, einem Gewehr, das – so hatte sich später herausgestellt – Clarissa Johnson Werner gehörte.
Pescoli hatte Clarissa und ihren Mann vernommen, die beide behaupteten, Leanna habe die Waffe eigens dafür benutzt, um dem Johnson-Clan zu zeigen, dass sie ihr den Buckel runterrutschen konnten. Dieselbe Ironie zeigte sich auch bei der Wahl ihres Fahrzeugs, eines BMW, dasselbe Modell, das auch Clarissa fuhr – ein weiterer Hinweis in Richtung der Johnsons.
Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Doch da waren noch mehr lose Enden zu verknüpfen …
Wieder sah Pescoli auf die Uhr und schnaubte ungeduldig. Dann stand sie auf und machte sich auf den Weg zu Alvarez’ Arbeitsplatz. Auch sie war dem weihnachtlichen Chorsingen bisher ferngeblieben und blickte nun mit hochgezogenen Augenbrauen von ihrem Schreibtisch auf.
Als sie sich zuvor bei ihrem Lieblingsdeli einen Kaffee geholt hatten, hatte sie ihre Partnerin gefragt: »Du gibst dich doch nicht wirklich damit zufrieden, oder?«
»Nein«, hatte Pescoli kurz und knapp erwidert und sich einen dreifachen Schoko-Mochaccino mit einem Hauch Pfefferminz gegönnt, weil Weihnachten war.
Alvarez bestellte einen grünen Tee.
Wie eklig!
Jetzt hakte ihre Partnerin erneut nach. »Was hast du vor?«
»Ich habe Gerald Johnson einbestellt, er müsste in fünfzehn Minuten da sein. Ich gehe mal davon aus, dass er seinen Lieblingsanwalt mitbringt.«
»Judd?«
»Hm, hm. Und ich habe eine Überraschung für ihn.«
»Ich kann’s gar nicht abwarten!«
»Dann komm«, sagte Pescoli, und Alvarez folgte ihr nach vorne zum Empfang. Wie aufs Stichwort betraten Gerald und Judd Johnson das Department. Judd war gekleidet wie für einen Fall vor Gericht, Gerald trug einen Pullover, Skijacke, Jeans. Er wirkte abgespannt und erschöpft.
»Ich verstehe nicht, warum du herkommen wolltest«, sagte Judd zu seinem Vater. Dann blickte er Pescoli an und fügte hinzu: »Ich habe Ihnen doch schon alles über meinen Bruder gesagt.«
Pescoli führte die beiden in ein Vernehmungszimmer. Judd versteifte sich.
»Worum geht es hier eigentlich?«, fragte er.
»Um die Wahrheit«, erwiderte Pescoli und stellte den Rekorder auf Aufnahme. »Ich habe ein paar Nachforschungen angestellt. Einiges will sich nicht ganz zusammenfügen lassen. Vielleicht können Sie für Klarheit sorgen.«
»Das wäre ganz in meinem Sinne«, sagte Gerald.
Judd zeigte sich weniger hilfsbereit. »Dad«, sagte er warnend zu seinem Vater, »ich glaube, das ist keine gute Idee.«
Pescoli ignorierte ihn und bedeutete Vater und Sohn, Platz zu nehmen, während Alvarez die Tür hinter ihnen schloss. »Als wir über Agatha-Raes Unfall gesprochen haben, waren Sie sich nicht ganz einig«, begann Pescoli, an Gerald gewandt. »Sie sagten, sie habe sich in ihrer Kuscheldecke verwickelt, sei gestolpert und die Treppe hinuntergestürzt.«
»Nein«, widersprach Judd. »Ich weiß noch, dass Cameron sie umgerannt hat. Keiner hat es mehr geschafft, sie aufzufangen.«
»Sie sagten auch, er habe sie gestoßen«, erinnerte ihn Pescoli, die auf der anderen Seite des zerschrammten Vernehmungstisches Platz genommen hatte.
»Nun, ich denke, es war ein bisschen was von beidem.« Judd kniff die Augen zusammen und straffte die Schultern. »Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«
»Ich aber«, schaltete sich Gerald ein. »Als ich an jenem Abend nach Hause gekommen bin, war Cameron vollkommen außer sich. Er stammelte immer wieder, er habe das nicht gewollt, habe Aggie nicht stoßen wollen, aber es sei nicht anders gegangen, was ich nicht verstand. Thanes Version lautete etwas anders. Er sagte, du, Judd, seist in Cameron hineingerannt, so dass er gegen Aggie stürzte. Colt wiederum behauptete, du habest Cam gegen Aggie geschubst. Cam konnte sich offenbar am Treppengeländer festhalten, Aggie nicht.«
»Wir waren Kinder …«, wehrte Judd achselzuckend ab. »Das alles ist lange her. Du erwartest doch wohl nicht, dass sich jeder von uns haargenau daran erinnert, was passiert ist.«
Pescoli ging zur Tür und öffnete sie. Herein kam Clarissa Johnson Werner. »Sie haben mich herbestellt«, sagte sie entschuldigend zu ihrem Bruder. »Du hast übrigens unrecht«, fuhr sie dann mit fester Stimme fort. »Ich erinnere mich. Ich war da.«
»Was soll das?«, fragte Judd. »Hast du mich etwa belauscht?«
»Ich habe die Befragung auf dem Monitor verfolgt«, erklärte sie kurz angebunden. »Du hast gelogen. Ich habe mit angesehen, was an jenem Tag passiert ist. Du steckst hinter alldem, Judd. Vermutlich hast du nicht gewollt, dass Aggie die Treppe hinunterfiel, aber du warst es, der Cameron so fest geschubst hat, dass er gegen sie prallte. Ich hatte telefoniert und kam gerade herein, um nach euch zu sehen … da hast du ihn gestoßen.«
»Wohin soll das Ganze hier führen?«, fragte Judd gereizt. »Es war ein Unfall. Raufende Kinder.« Doch Pescoli bemerkte, dass er anfing zu schwitzen, ein kleiner Schweißtropfen rann ihm die Schläfe hinab.
»Du warst auch dabei, als Kathleen gestorben ist«, fuhr Clarissa nachdrücklich fort. »Du bist mit Cam und Kathy Ski gelaufen, und zwar bei deren letzter Abfahrt. Ich habe gesehen, wie du mit ihnen geredet hast. Hinterher hat Cam mir erzählt, du hättest ihn dazu aufgefordert, ein Wettrennen mit Kathy zu machen, und zwar abseits der präparierten Piste. Du hast ihm erzählt, dass Kathy, genau wie Aggie, nicht ganz normal sei. Verrückt sei sie, hast du behauptet, dabei war Cam derjenige, der psychische Probleme hatte.«
»Wovon redest du?«, fragte Judd. Mittlerweile sammelte sich der Schweiß auch auf seiner Oberlippe. »Das ist doch völlig absurd. Absoluter Wahnsinn. Das werde ich mir nicht länger anhören.«
Mit dieser Reaktion hatte Pescoli gerechnet, deshalb sagte sie ruhig: »Meine Partnerin und ich haben vor, der Sache auf den Grund zu gehen. Wir wissen, dass Cameron der Mörder war, und vielleicht war er ein Einzeltäter, auch wenn ich mich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass er Hilfe hatte. Zunächst dachte ich an Colt, seinen Zwillingsbruder, doch dann fand ich heraus, dass die Firma Ihres Vaters unter dem Deckmäntelchen verschiedener Gesellschaften die alte Fertilisationsklinik aufgekauft hat. Und nun raten Sie mal, wessen Name unter all den Dokumenten steht?«
Judd zuckte nicht mit der Wimper. »Wir kaufen viele Einrichtungen auf. Vor allem medizinische.«
Pescoli lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Wie war Ihre Beziehung zu Ihrem Bruder Cameron?«
»Mein Bruder war verrückt.«
»Und eine Ihrer Schwestern war zurückgeblieben, eine andere litt unter einer bipolaren Störung. Hm. Sieht so aus, als seien geistige Probleme nicht allein auf die weiblichen Nachkommen Ihres Vaters beschränkt. Ich denke, da ist es nur logisch, dass Cameron jemanden hatte, der ihm bei seinem teuflischen Vorhaben behilflich war, ihm einen kleinen geistigen … ›Schubs‹ gab, wie Sie es formulieren würden.«
»Sie sind doch hier diejenige, die geisteskrank ist, Detective!«, tobte Judd mit zorngerötetem Gesicht, eine Hand zur Faust geballt. Er schob seinen Stuhl zurück und marschierte zur Tür. »Die Befragung ist vorbei!«
»Wir sehen uns, Mr. Johnson!«, rief Pescoli ihm hinterher.
»Den Teufel werden wir!«, gab er über die Schulter zurück und knallte die Tür hinter sich zu. Gerald, einen zutiefst besorgten Ausdruck im Gesicht, folgte ihm, Clarissa im Schlepptau.
Als sie allein waren, drehte sich Pescoli zu Alvarez um und sagte: »Nun?«
Alvarez grinste schief. »Wir werden ihn schon noch festnageln, hab ich recht?«
»Darauf kannst du dich verlassen.«
Zusammen verließen sie das Vernehmungszimmer und gingen in Richtung Aufenthaltsraum, aus dem immer noch vereinzelt festliche Gesangsfetzen tönten. Alvarez blieb stehen und sah Pescoli an. »Und wieder einmal: ein frohes Weihnachtsfest, Partnerin.«
»Ein frohes Weihnachtsfest.«