Kapitel 11

Kacey gefiel es hier gar nicht.

Egal, wie viele »Sterne« oder »Diamanten« oder was auch immer die Klassifizierung für Seniorenresidenzen ausmachte – Rolling Hills entsprach einfach nicht ihrer Vorstellung von einem unabhängigen Leben. Doch im Grunde spielte das keine Rolle. Ihre Mutter liebte dieses noble, hundert Jahre alte ehemalige Hotel, das man zu individuellen Wohneinheiten umgestaltet hatte.

Maribelle Collins bewohnte ein Drei-Zimmer-Apartment im obersten Stock, von dem aus man einen unglaublichen Blick über die Dächer von Helena bis zu den Bergen am Horizont genoss.

Es gab einen Pool und einen Wellnessbereich, einen Fitnessraum, einen Autoverleih und Fahrservice für diejenigen, die nicht den eigenen Wagen benutzen oder lieber chauffiert werden wollten, obwohl für jedes Apartment ein Stellplatz in der Tiefgarage bereitstand.

Das Gebäude war großzügig angelegt, die Ausstattung erstklassig, und trotzdem, wenn Kacey durch die breite Doppeltür schritt und sich an der Rezeption eintrug, verspürte sie einen Anflug von Traurigkeit, da sie unweigerlich an das Zuhause denken musste, das sie einst bei ihren Eltern hatte: ein kleiner Bungalow mit einem riesigen Garten.

Genau das ist es, wurde ihr klar. Es hatte nichts mit Rolling Hills an sich zu tun, sondern damit, dass es nicht der Ort war, an dem sie ihre Kindheit verbracht hatte, und dass ihr Vater hier nach einem Schlaganfall gestorben war.

»Sie wird gleich unten sein«, teilte die Rezeptionistin, eine zierliche Frau mit einer schmalen Lesebrille und Lippen in der Farbe von Preiselbeeren, Kacey mit. »Wenn Sie Platz nehmen möchten …« Sie wies mit einer einladenden Handbewegung auf eine überdimensionierte Sesselgruppe mit einem Zweisitzer neben einem hohen, gemauerten Kamin, der eine angenehme Wärme verströmte. Kacey durchquerte das geräumige Foyer, blieb vor dem mit einer Glasscheibe versehenen Kamingitter stehen und wärmte sich dort auf.

In den vergangenen drei Jahren – seit ihrer Scheidung – hatte sie Thanksgiving immer hier verbracht, und sie konnte einen Anflug nostalgischer Sehnsucht nicht unterdrücken. Du musst deine Kindheit nicht verklären, zumal du genau weißt, wie es wirklich war …

Jedes Mal, wenn Kacey ihre Mutter zu sich nach Hause eingeladen hatte, hatte diese kategorisch abgelehnt und darauf bestanden, dass ihre Tochter nach Helena kam.

»Du musst hierherkommen!«, hatte sie ausgerufen. »Mitchell, der Chef de Cuisine, ist ein Gott, wenn es um das Menü geht, und keine von uns beiden hat Lust, Stunden mit Kochen und Aufräumen zu verbringen. Außerdem ist mir die Anfahrt zu anstrengend.«

Was eine glatte Lüge war. Warum ihre Mutter auf ihr Alter pochte, obwohl sie noch nicht einmal siebzig war, überstieg Kaceys Verstand. Maribelle hatte weit mehr Energie als viele Frauen, die nur halb so alt waren wie sie, und auch geistig war sie fast immer topfit. Kacey konnte sich das Ganze nur so erklären, dass ihre Mutter eine Art Diva in der Rolling-Hills-Seniorenresidenz war und diese herausragende Position nicht eine Sekunde missen mochte.

Also hatte sie beschlossen, die Fahrt auf sich zu nehmen.

»Da bist du ja, mein Liebling!« Die Stimme ihrer Mutter hallte durch das große Foyer. Kacey, abrupt aus ihren Tagträumereien gerissen, fuhr herum und sah ihre Mutter in einem glänzenden silbernen Kleid und High-Heels auf sie zustöckeln.

Maribelle, groß und schlank, zog mit ihrer auffälligen Erscheinung gern sämtliche Blicke auf sich. Jetzt lächelte sie breit und nahm zur Begrüßung beide Hände ihrer Tochter in die ihren, was Kacey überraschte. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sie lediglich mürrisch dreingeblickt und sich die ganze Zeit über beklagt. Mit fünfundsechzig nun war sie agil und jugendlich, und sie kleidete sich, als wollte sie zum Shoppen auf die New Yorker Fifth Avenue gehen. Ihr volles, weißes Haar war zu einem weichen Pagenkopf geschnitten; ihre blauen Augen funkelten hinter einer modischen Brille, ihr Kinn war so fest wie eh und je. »Ich habe mich so auf den heutigen Abend gefreut! Komm schon, komm schon!« Sie fasste Kacey am Arm und führte sie in den Speisesaal auf der Rückseite des Gebäudes. Girlanden aus Kiefernzweigen waren um die Fenster drapiert. Weiße Lämpchen funkelten zwischen den langen Nadeln, auch hier brannte ein munteres Feuer im Kamin, die Tische waren mit weißem Leinen eingedeckt und mit kleinen roten und weißen Weihnachtssternen geschmückt.

»Ist das nicht festlich?«, fragte Maribelle begeistert. »Es ist zwar alles schon recht weihnachtlich, aber warum nicht? Oh, dort drüben ist mein Tisch.« Sie deutete in Richtung der Fenster und ließ dabei den Blick über die Sitzecke und die wenigen Dinnergäste gleiten, die bereits Platz genommen hatten.

»Heute fehlen viele Bewohner, weil sie bei ihren Kindern oder Geschwistern oder sonst wo eingeladen sind. Deshalb haben wir den Tisch für uns!« Zum ersten Mal seit langem wirkte sie aufgeregt und spritzig. »Setz dich, setz dich.« Sie deutete auf einen der bequemen Stühle und nahm selbst Platz, dann entrollte sie eine Serviette, die neben ihrem Weinglas gelegen hatte.

»Erzähl mir«, sagte sie und strich das Leinen sorgfältig über ihrem Kleid glatt, »wie ist die Arbeit?«

»Hektisch«, sagte Kacey und versuchte, den Wandel zu verstehen, den ihre Mutter vollzogen hatte. Verschwunden war die mürrische, verbohrte Das-Glas-ist-halb-leer-Person, ersetzt durch eine lächelnde, glückliche Frau, die das Leben zu genießen schien. Eine Frau, die sich für ihre Tochter interessierte. »Gestern ist eine Frau in der Notaufnahme eingeliefert worden. Sie ist beim Joggen am Boxer Bluff über eine niedrige Brüstung gestürzt, oben beim Park, du weißt schon, welche ich meine. Gleich auf dem Gipfelweg, bei den Wasserfällen, heißt es.«

»Oh, wie entsetzlich! Ich hoffe, du kriegst sie wieder hin.« Maribelle lächelte flüchtig und wechselte erfolgreich das Thema. »Sieh dir nur die Speisekarte an, Liebes«, sagte sie und tippte mit einem glänzenden, preiselbeerfarbenen Nagel – Preiselbeer war um Thanksgiving offenbar die bevorzugte Farbe in der Rolling-Hills-Seniorenresidenz – auf die Menüauswahl, die auf Kaceys Platzteller lag. So viel zum Interesse an der Arbeit ihrer Tochter oder dem Wohlbefinden der Patientin. »Schau mal, du kannst entweder Truthahnbraten oder Baron d’agneau bestellen. Stell dir das vor, du kannst tatsächlich wählen! Und das nur wegen des neuen Küchenchefs, Mitch.« Sie warf die Hände in die Höhe, als wollte sie dem Himmel danken. »Er ist genau das, was wir hier gebraucht haben nach dieser erbärmlichen Crystal. Ich kann nicht verstehen, wie sie damals überhaupt den Job bekommen hat … Nun lass mal sehen. Ach, ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt Gedanken mache. Natürlich entscheide ich mich für den Truthahn, das ist schließlich Tradition!«

Wer war diese Frau?, fragte sich Kacey, während ihre Mutter die Bedienung herbeiwinkte. Loni kam an ihren Tisch, und sie bestellten. Wieder ließ Maribelle den Blick durch den Saal schweifen, und sie stießen mit dem Chardonnay an, den die Kellnerin ihnen einschenkte.

Dann wurde das Essen serviert. Plaudernd arbeiteten sie sich durch Kürbissuppe und grünen Salat, garniert mit Haselnüssen, Fetakäse und Preiselbeeren, gefolgt von saftigem, aufgeschnittenem Truthahnbraten, serviert mit gebutterten Süßkartoffeln, sautierten grünen Bohnen und einer köstlichen Austernfüllung mit Bratensoße. Es schmeckte zwar nicht so gut wie die Maisbrotfüllung, der Grüne-Bohnen-Auflauf aus der Dose und die mit Marshmallows überbackenen Süßkartoffeln, die Ada Collins, Kaceys Oma, jedes Jahr auf den Tisch gestellt hatte, aber es kam dicht dran.

Doch das Beste war die gute Laune ihrer Mutter: Fröhlich, in festlicher Stimmung, war sie so ganz anders als zu den Zeiten, in denen sie entweder geschmollt oder auf der Farm ihrer Schwiegereltern »den Tag überstanden hatte«, in ebenjenem Haus, das Kacey jetzt ihr Heim nannte.

Heute Abend unterhielt sich ihre Mutter eifrig mit ihr, wobei sie immer wieder humorvolle kleine Anekdoten über ihr »Seniorenleben« einfließen ließ. Solange sie über Maribelle und ihr Leben sprachen, schien die Welt in Ordnung zu sein.

Nachdem sie mit dem Hauptgericht fertig waren, stellte Maribelle die Frage, die ihr vermutlich den ganzen Abend über durch den Kopf gegangen war, wenn nicht gar die letzten drei Jahre. Kacey hätte es eigentlich kommen sehen müssen, trotzdem hatte sie nicht damit gerechnet, dass ihre Mutter sie ausgerechnet während des Thanksgiving-Essens verkuppeln wollte. »Und«, fragte ihre Mutter in heiterem Ton und beugte sich über den Tisch zu ihrer Tochter. »Hast du etwas von Jeffrey gehört?«

Ahhh, dachte Kacey. Angriff aus dem Hinterhalt. »Nichts.«

Maribelle zog besorgt die Augenbrauen zusammen. »Vielleicht solltest du ihn anrufen.«

»Und warum sollte ich das tun?«

»Nur so, aus reiner Freundlichkeit«, erklärte Maribelle und zuckte unschuldig die Achseln. »Es ist immerhin Thanksgiving.«

»Wir sind geschieden, Mom. Seit drei Jahren.«

»Oh, Liebling, denkst du, das weiß ich nicht? Dennoch … manchmal kann ein Paar wieder zusammenfinden, egal, was es auseinandergebracht hat.« Maribelles Lächeln verschwand, und sie legte die Gabel auf ihren Teller. »Ich habe ihn immer gemocht, musst du wissen.«

O ja, das wusste sie. »Es hat nicht funktioniert.«

»Du hast dem Ganzen einfach nicht genug Zeit gegeben. Drei Jahre? Mein Gott, das ist doch gar nichts. Ich war mit deinem Vater über fünfunddreißig Jahre verheiratet! Und glaub mir, die Zeiten waren nicht immer rosig!«

Das glaubte Kacey ihr gern.

»Du solltest dich einfach mal bei ihm melden.«

»Ganz sicher nicht, Mom«, entgegnete Kacey mit fester Stimme und schob ihren Teller beiseite.

Ihre Mutter stieß einen leidgeprüften Seufzer aus.

In dem Augenblick trat die Kellnerin an ihren Tisch, um die Dessert- und Kaffeebestellungen entgegenzunehmen.

»Ich werde den Kürbis-Käsekuchen mit der Karamellsoße probieren, dazu bitte einen koffeinfreien Kaffee, Loni«, sagte Maribelle und blickte Kacey fragend an.

»Für mich bitte nur einen normalen Kaffee mit Sahne«, bestellte diese.

»Du musst ein Dessert nehmen. Es gehört zum Menü, kostet nichts extra. Und es ist … Über. Irdisch. Gut!«, beharrte ihre Mutter, dann wandte sie sich wieder an die Kellnerin. »Hat Mitch heute eine Crème brulée gemacht?«

»Mit Espressogeschmack«, antwortete Loni mit einem wissenden Lächeln.

Maribelle strahlte. »Das ist mein Lieblingsdessert, aber ich denke, ich sollte heute wirklich mal seinen Kürbis-Käsekuchen kosten.« Sie drehte sich zu Kacey um. »Bestell du die Crème brulée, und wir können beides probieren. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, die Crème schmeckt einfach fabelhaft. Würde ich nicht so an der Tradition mit den Kürbissen hängen, würde ich sie selbst nehmen.«

»Ich glaube nicht –«

»Ach, komm schon, Acacia! Es ist Thanksgiving, um Himmels willen!« Zu Loni sagte sie: »Bringen Sie uns ein bisschen von beidem. Es ist schließlich ein Feiertag, und so oft sind wir ja auch nicht zusammen.« Sie legte ihre schmale, kühle Hand auf Kaceys, als wäre das Teilen eines Desserts ein verbindendes Erlebnis.

»Na schön«, gab sich Kacey geschlagen.

»Du wirst nicht enttäuscht sein.« Ihre Mutter tätschelte tatsächlich ihre Hand. Was sollte das? Maribelle war nicht gerade dafür bekannt, in der Öffentlichkeit irgendwelche Gefühlsregungen zu bekunden.

Die Kellnerin verschwand durch die Schwingtür in die Küche.

»Ich wünschte mir, du würdest Jeffrey noch eine Chance geben.« Maribelle war in der Tat zielstrebig.

»Ich bin nicht daran interessiert, außerdem glaube ich, dass er wieder verlobt ist.«

»Im Ernst?« Maribelles dunkle Augenbrauen schossen in die Höhe.

»Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit, und es interessiert mich auch nicht wirklich, aber eine meiner Freundinnen in Seattle, Joanna … Du hast sie mal kennengelernt, meine ich … Nun, Joanna hat neulich angerufen und erwähnt, dass Jeffrey irgendwann nächstes Jahr wieder heiraten wird.«

»Ach …« Sie spielte mit der Serviette auf ihrem Schoß. Die Schatten, die das flackernde Licht der Kerze zwischen ihnen auf ihr Gesicht malte, ließen sie älter wirken. »Es ist nur so, dass ich … Ich würde so gern ein Enkelkind haben.«

»Wirklich?« Kacey war überrascht. Sie war ein Einzelkind gewesen und – wie man ihr oft genug unter die Nase gerieben hatte – ungeplant. Obwohl sie sich sicher war, dass ihre Mutter sie liebte und – auch das hatte man ihr erzählt – ein großes Getue um Kacey als Baby veranstaltet hatte, hatte Maribelle nie großes Interesse an Kindern gezeigt, geschweige denn daran, Großmutter zu werden. Bis heute.

»Triffst du dich mit jemandem?«, fragte Maribelle hoffnungsvoll.

Ungewollt schweiften Kaceys Gedanken zu Trace O’Halleran. »Nein.«

»Gibt es denn keinen in der Klinik? Einen anderen Arzt vielleicht?«

»Wie ich schon sagte –«

»Wie wär’s mit Online-Dating? Im Fernsehen wird Werbung für jede Menge Partnervermittlungsseiten gemacht, und Judy Kellers Tochter hat auf einer solchen Website die Liebe ihres Lebens gefunden. Ich bin mir sicher, dass es so etwas auch für Akademiker gibt. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe schon nachgeschaut.«

»Dazu fehlt mir wirklich die Zeit.«

»Natürlich kannst du die Zeit dafür aufbringen, das ist alles nur eine Frage der Prioritäten! Wenn ich du wäre, würde ich Jeffrey nicht so schnell aufgeben. Er ist ein hochangesehener Chirurg; er hat sogar ein Buch geschrieben und hält im ganzen Land Vorträge.«

»Und das weißt du … woher?«, fragte Kacey.

Maribelle zuckte nicht mit der Wimper. »Ich habe einen Internetanschluss, meine Liebe. Das ist ein unschätzbares Hilfsmittel. Auf seiner Seite erwähnt Jeffrey nirgendwo eine Verlobte.«

In dem Augenblick wurden die Desserts und der Kaffee serviert, doch Kacey fing einen Ausdruck der Enttäuschung in den Augen ihrer Mutter auf. Maribelle hatte Jeffrey Lambert von der ersten Sekunde an geliebt. »Ein Herzchirurg«, hatte sie ihrer Tochter mit strahlenden Augen zugeflüstert. »Und noch dazu ein gutaussehender.«

Es war ihr vollkommen gleich, dass Kacey selbst Ärztin war. Oder dass Jeffrey ein Ego hatte, das das von Napoleon locker in den Schatten stellte.

Das Entscheidende für ihre Mutter war, dass Jeffrey Lambert, Doktor der Medizin, ein großartiger Fang war, den sich ihre Tochter durch die Lappen hatte gehen lassen.

Kacey schob sich einen Löffel Crème brulée in den Mund und fragte sich, was ihre Mutter wohl sagen würde, wenn sie zugab, dass der Mann, der sie im Augenblick am meisten interessierte, ein hart arbeitender Rancher mit einem siebenjährigen Sohn war.

Nachdem ihre Mutter Mitchs Kürbis-Käsekuchen probiert und mit einem ekstatischen Seufzer in ihren ganz persönlichen Genusshimmel entrückt war, schnitt Kacey das Thema an, das ihr am meisten auf der Seele lastete. »Sag mal, Mom, hat Tante Helen eigentlich Kinder?«

»Aber nein.« Maribelle plumpste zurück auf die Erde. »Sie und Bill konnten keine bekommen. Aber das weißt du doch.«

»Und auf Dads Seite? Haben seine Brüder Kinder?«

»Nein. Von denen hat keiner je geheiratet. Auch das weißt du längst.«

»Sie müssen ja nicht unbedingt verheiratet gewesen sein … Könnte es Kinder geben, über die sie nicht sprechen? Oder von denen sie womöglich selbst nichts wissen?«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf, als wäre diese Vorstellung absurd. »Soweit ich mich erinnere, sind sie nicht gerade oft mit Frauen ausgegangen.«

»Das heißt also, dass ich keine … Cousins oder Cousinen habe, von denen man mir nichts erzählt hat? Als Helen und du euch zerstritten habt, dachte ich –«

»Was? Dass ich gelogen habe? Warum hätte ich das tun sollen?« Ihre Mutter blickte verwirrt drein und glättete wieder ihre Serviette. »Du kannst mir glauben: Du hast keine Cousins. Das weißt du. Ich verstehe nicht, warum du mich jetzt danach fragst.«

»Schon gut, schon gut. Ich weiß, es klingt ein bisschen verrückt, aber erinnerst du dich an die Patientin, von der ich dir erzählt habe, die Frau, die beim Joggen verunglückt ist und in die Notaufnahme eingeliefert wurde?«

»Ja. Am Boxer Bluff.« Also hatte Maribelle doch zugehört.

»Sie hat es leider nicht geschafft. Ihr Name war Jocelyn Wallis, sie hat als Grundschullehrerin gearbeitet. Es stellte sich heraus, dass sie aus dieser Gegend stammte. Und sie hat mir ähnlich gesehen, und zwar so sehr, dass ein paar der Krankenschwestern, mit denen ich zusammenarbeite, schier ausgeflippt sind vor Schreck.«

Maribelle verstummte, als Kacey die Details erörterte, faltete ihre Serviette zweimal und hörte aufmerksam zu, als ihre Tochter auf ihre Ähnlichkeit mit Shelly Bonaventure zu sprechen kam.

»Ich habe von ihrem Tod erfahren. Keine große Schauspielerin, wenn du mich fragst«, sagte sie nach einer ausgedehnten Pause. »Sie sieht tatsächlich ein bisschen so aus wie du, aber na und?« Sie schüttelte den Kopf. »Was folgerst du daraus? Dass diese Frauen die Töchter deiner Onkel sind?« Maribelle verdrehte die Augen. »Und was dann? Dass sie von irgendwelchen Familien adoptiert wurden, ohne dass wir davon wussten?«

»Vielleicht hat Dad, bevor er dich kennenlernte …«

»Oh, Acacia, hör auf damit! Auf der Stelle! Glaubst du, es wäre mir entgangen, wenn Stanley weitere Kinder gehabt hätte?«

»Vielleicht hat er ja selbst nichts davon gewusst!«

»Wir reden von deinem Vater! Weißt du denn nicht mehr, wie er war?« Sie warf ihrer Tochter einen vernichtenden Blick zu. »Er wäre zutiefst gekränkt, wenn er das hörte, Acacia! Vermutlich dreht er sich soeben im Grabe um!« Sie schauderte theatralisch. »Deine Freundinnen haben eine lebhafte Phantasie! Offenbar fehlt es ihnen in ihrem Leben an Spannung.« Sie lehnte sich zurück und funkelte Kacey kopfschüttelnd an. »Wirklich, Acacia! Wie viele lang verschollene Cousins und Cousinen, denkst du, hat die Familie dir denn vorenthalten?«

»Keine Ahnung. Vielleicht gar keine. Ich sage ja auch nur, dass das seltsam ist.«

»So vieles im Leben ist ›seltsam‹ oder ›merkwürdig‹ oder ›Zufall‹.« Sie malte Anführungszeichen in die Luft, dann wedelte sie mit der Hand, als wollte sie das Thema vom Tisch wischen. Doch ihr herablassendes Gebaren passte nicht recht zu der Sorge, die Kacey in den Augen ihrer Mutter aufflackern sah, als diese hinzufügte: »Die Leute sehen ständig irgendwelche Ähnlichkeiten, manche bauen sogar ihre Karriere darauf, die Doppelgänger von Prominenten zu sein. Und jetzt Schluss mit diesem Unsinn!« Sie konzentrierte sich wieder auf ihren Kürbis-Käsekuchen. »Damit hat sich Mitch wahrhaftig selbst übertroffen. Koste mal, und nimm dir einen Löffel Sahne.«

»Prima Schachzug, Mom«, sagte Kacey.

»Probier doch und hör auf mit diesem lächerlichen Verhör –«

»Das ist kein Verhör. Ich erkundige mich lediglich nach meiner Familie.«

»Und ich habe dir geantwortet, und damit basta.«

Ihre Mutter verwandelte sich in die Frau, die Kacey so gut kannte: die zusammengepressten Kiefer, die verkniffenen Lippen, die zu Schlitzen verengten Augen, der nach vorn gereckte Hals. Kacey wusste, dass sie nichts Weiteres erfahren würde. Nicht heute Abend. Nicht von ihrer Mutter.

Maribelle begriff nicht, dass sie mit ihren so dringenden Bemühungen, vom Thema abzulenken, Kacey erst recht zu weiteren Nachforschungen anstiften würde. Es gab andere Möglichkeiten, Geburten zu überprüfen, zum Beispiel indem sie Einsicht in die Geburtsurkunden bei den Standesämtern nahm, zu denen sie als Ärztin Zugang hatte. Im Augenblick wollte sie ihre Mutter nicht weiter bedrängen, zumal es keinerlei Grund gab, sie gegen sich aufzubringen, aber aufgeben würde sie nicht.

Während ihrer Kindheit hatte sie gelernt, bis wohin sie bei ihrer Mutter gehen konnte. »Na schön«, sagte Kacey daher und nahm ihren Löffel. »Dann lass mich mal probieren, ob Mitchs Käsekuchen tatsächlich so ein Hammer ist.« Sie streckte den Arm aus, tauchte ihren Löffel ins Dessert und stellte fest, dass sich die angespannten Schultermuskeln ihrer Mutter unter der glänzenden silbernen Seide ein wenig entspannten.

»Mmmm, das ist gut«, lobte sie, als würde sie sich den süßen Karamellgeschmack auf der Zunge zergehen lassen, den sie in Wirklichkeit kaum wahrnahm, so sehr beschäftigte sie die Frage, warum ihre Mutter das Thema von potenziellen Cousins oder Cousinen so schnell beendet hatte. Kacey war sich ziemlich sicher, dass ihre Familie mehr als nur eine Leiche im Keller hatte.