Kapitel 6

Wieder einmal machte Regan Pescolis Tochter blau.

»Ich ging davon aus, Sie wüssten, dass Bianca heute nicht in der Schule war.« Die Vertrauenslehrerin, Miss Unsel, saß hinter einem massiven Schreibtisch voller Aktenordner, umgeben von College-Programmen und diversen Verzeichnissen. Das einzige Tageslicht fiel durch ein Fenster hoch oben unter der Decke, und der Raum roch leicht muffig.

»Ich habe sie vor dem ersten Klingeln hier abgesetzt«, erklärte Pescoli kurz angebunden.

Miss Unsel mit ihrem dicken schwarzen Zopf, der ihr über eine Schulter fiel, hielt abwehrend die Handflächen in die Höhe. »Sie ist nicht im Klassenzimmer erschienen. Mr. Cohn hat sie als fehlend gemeldet, genau wie alle anderen Lehrer, bei denen sie heute Unterricht gehabt hätte.«

»Wollen Sie damit sagen, dass sie den ganzen Tag nicht aufgetaucht ist?«

»Ja.« Peony Unsel nickte, das Ende ihres Zopfes hüpfte auf den leuchtend bunten Streifen ihres mexikanischen Serape-Schals auf und ab. »Können Sie mir sagen, was da vorgeht?«

»Genau deshalb bin ich hier. Ich hatte auf eine Erklärung von Ihrer Seite gehofft.«

Die Vertrauenslehrerin setzte eine breitrandige Brille auf und blickte auf ihren Bildschirm, dann tippte sie etwas ein. »Sie wird in zwei Fächern durchfallen, Spanisch und Algebra, und in den anderen gerade so durchkommen.« Miss Unsel betrachtete Pescoli prüfend über den Rand ihrer Brille hinweg. »Aber sie hat heute zwei wichtige Tests nicht mitgeschrieben, einen in Amerikanischer Geschichte, einen in Englisch.«

Pescoli wurde mulmig zumute. »Kann sie die nachholen?«

Die Vertrauenslehrerin nickte. »Wenn sie eine stichhaltige Begründung für ihr Fehlen vorweisen kann und die Lehrer einverstanden sind, sehe ich nichts, was dagegenspricht. Es ist unsere Aufgabe, unseren Schülern zu helfen, erfolgreiche Erwachsene zu werden.« Sie schenkte Pescoli ein beseeltes »Kumbaya«-Lächeln, das diese für nicht ganz echt hielt.

»Nur noch eine Frage, aus reiner Neugier. War Chris Schultz heute in der Schule?«, fragte sie.

»Lassen Sie mich mal nachsehen … Es handelt sich hierbei um vertrauliche Informationen.«

»Chris ist der Freund meiner Tochter.«

»Ich weiß. Aber –«

»Ich bin Polizistin.«

»Auch das weiß ich. Aber es gibt Regeln, die Privatsphäre unserer Schüler betreffend …« Miss Unsel wandte sich wieder ihrem Computer zu, tippte etwas ein und seufzte. Dann blickte sie Pescoli an, sagte aber nichts. Es war auch nicht nötig.

»Vielen Dank.« Zutiefst besorgt stand Pescoli auf.

Als sie das Beratungszimmer verließ und durch die Flure ging, die von Schließfächern und Bänken gesäumt waren, musste sie daran denken, wie oft sie selbst die Schule geschwänzt hatte. Sie hatte die Highschool gehasst. Dennoch hatte sie stets darauf geachtet, dass ihre Noten nicht in den Keller fielen, hatte nie ihre Zukunft aufs Spiel gesetzt.

Doch exakt das tat Bianca.

Sie warf ihre Zukunft weg.

Genau wie ihr großer Bruder.

Draußen vor dem Schulgebäude schlug Pescoli den Kragen gegen den schneidenden Wind hoch und beobachtete die vereinzelten Jugendlichen, die zu ihren Autos schlenderten oder, die Sporttaschen unter dem Arm, in Richtung Turnhalle eilten. Die Dämmerung brach schnell herein. Eine dicke Schneeschicht hatte schon auf den Wegen gelegen, als sie auf den Parkplatz eingebogen war, und noch immer fiel weißer Puder vom Himmel.

Sie setzte sich hinters Steuer, stellte Motor und Scheibenwischer an, die den Schnee von der Windschutzscheibe fegten, und schickte ihrer Tochter eine SMS.

WO BIST DU?

Keine Antwort.

Sie wartete.

»Verdammt noch mal, Bianca!«, platzte sie frustriert heraus, als plötzlich das Telefon in ihrer Hand klingelte. »Pescoli«, bellte sie in der Erwartung, gleich die entschuldigende Stimme ihrer Tochter am anderen Ende der Leitung zu vernehmen.

»Santana«, meldete sich Nate, wobei er ihren toughen, sachlichen Ton nachahmte.

»Oh. Hallo. Ich dachte, du wärst meine Tochter.« Ihre Stimme wurde ein wenig sanfter.

Er lachte leise, und sie stellte sich sein Gesicht vor, seine straffe, dunkle Haut – Hinweis auf einen indianischen Vorfahren in seinem Familienstammbaum. Und dann waren da noch seine Augen, tiefliegend und so durchdringend, dass sie sich mitunter fragte, ob er damit direkt in ihre Seele blicken konnte. Auch wenn sie nicht an solchen romantischen Unsinn glaubte.

»Keine Sorge, ich bin nicht enttäuscht«, erklärte sie. »Ich bin nur beunruhigt. Sie hat schon wieder die Schule geschwänzt.«

»Zusammen mit ihrem Freund.«

»Sieht ganz danach aus.«

»Klingt, als bräuchte sie dringend eine Vaterfigur.«

»Klingt, als bräuchte sie dringend eine bessere Vaterfigur. Sie hat Lucky, erinnerst du dich?«

»Er weiß davon?«

»Ich habe noch nicht mit ihm gesprochen«, gab Regan zu. Die Windschutzscheibe, jetzt frei von Schnee, begann zu beschlagen.

»Du könntest bei mir einziehen«, schlug er vor. »Ihr alle.«

Irgendetwas tief in ihrem Innern schmolz dahin, und sie geriet mächtig in Versuchung, einfach ja zu sagen. Dennoch erwiderte sie: »Du weißt, wie ich darüber denke. Solange die Kinder nicht aus dem Haus sind –«

»Man könnte geradezu meinen, du würdest dein eigenes Leben für deine Kinder auf Eis legen.«

»Das ist genau das, was man als verantwortungsvoller Elternteil tut.«

»Tatsächlich?«

»Hör mal, ich bin im Augenblick nicht in der Stimmung für irgendwelche Psychospielchen. Ich komme gerade von der Vertrauenslehrerin, was nicht gerade eine umwerfende Erfahrung war. Und jetzt muss ich meine Tochter aufspüren.«

Am anderen Ende der Leitung blieb es still, und sie schloss für eine Sekunde die Augen. »Santana, bitte nicht. Nicht jetzt. Ich rufe dich später an.« Sie legte auf, bevor er dagegenhalten konnte, obwohl sie wusste, dass er das ohnehin nicht getan hätte. Als sie vom Parkplatz fuhr, fühlte sie sich innerlich leer, als würde sie wissentlich ihre Chance auf persönliches Glück zerstören.

Vielleicht hatte Nate Santana recht.

Vielleicht sollte sie einfach tun, was ihr so sehr gefallen würde. Sollten ihre Kinder doch sehen, wie sie damit zurechtkamen.

Oder lieber doch nicht?

 

Wohl wissend, dass nichts Gutes dabei herauskommen würde, stellte Trace den Pick-up vor Jocelyn Wallis’ Apartmenthaus auf einem der wenigen freien Besucherparkplätze ab.

Er hatte sie zweimal von unterwegs angerufen, doch sie war nicht ans Telefon gegangen. Flüchtig nahm er sein Spiegelbild im Rückspiegel wahr und stellte fest, wie abgespannt er aussah. Die Sache gefiel ihm gar nicht; es war ein Fehler, dass er hier war. Außerdem hätte er sich niemals mit ihr einlassen sollen. Für Eli, der bemerkt haben musste, wie ähnlich Jocelyn Wallis seiner Mutter sah, auch wenn er nie ein Wort darüber verloren hatte, war das ein Desaster gewesen.

Er blickte sich auf dem schneebedeckten Grundstück um, während seine Fenster von der Kälte beschlugen. Aus Jocelyns Wohnung fiel Licht durch die Vorhänge im Wohnzimmer, genau wie Mia Calloway gesagt hatte, und auch hinter der Schlafzimmerjalousie schien es hell zu sein.

Trace ging zur Tür ihrer Erdgeschosswohnung und klopfte.

Nichts. Er wartete.

Aus dem Apartment drangen keinerlei Geräusche, kein Fernseher, keine Musik. Vielleicht sollte er den Hauswart anrufen oder Jocelyns Schwester, doch wenn er schon einmal hier war, würde er sich selbst einen Eindruck verschaffen. Sie verwahrte einen Ersatzschlüssel auf dem Querbalken, der das Dach ihrer Veranda trug, also zog er eine Bank, die in der Nähe der Haustür stand, vor, kletterte hinauf und blickte suchend über den Balken, bis er ihn gefunden hatte.

Ohne zu überlegen, schnappte sich Trace den Schlüssel, sprang von der Bank und ließ sich nach einem letzten Klopfen selbst ein.

Ein Schwall warmer Luft schlug ihm entgegen, doch in dem Augenblick, als er über die Schwelle schritt, wusste er, dass er allein in der Wohnung war.

»Jocelyn!«, rief er laut. »Hallo?« Obwohl er spürte, dass es sinnlos war, ging er langsam von Zimmer zu Zimmer. Er sah ihre Handtasche auf dem Küchentresen liegen; ihre Schultasche, vollgestopft mit Unterlagen und Büchern, stand auf einem der beiden Barhocker.

Das Bett war ungemacht; ein halb leeres Glas Wasser und die zerknüllte Schachtel eines rezeptfreien Grippemedikaments standen auf dem Nachttisch, daneben lagen ein Taschenbuch und ihr Handyladegerät. Schmutzwäsche quoll aus einem Wäschekorb auf dem Fußboden, die Fernbedienung für einen kleinen Fernseher lag auf der verknäulten Bettdecke.

Plötzlich ertönte Musik.

Vor Schreck wäre er fast aus der Haut gefahren. Einen Augenblick dachte er, jemand wäre in der Wohnung, dann wurde ihm klar, dass offenbar ihr Handy klingelte. Er folgte dem Geräusch ins Wohnzimmer zu einem Fernsehsessel. Die Musik verstummte abrupt, doch er tastete zwischen den Polsterritzen, bis seine Finger auf das Handy stießen.

Er überprüfte die Liste der eingegangenen Anrufe und sah, dass die meisten unbekannt waren, doch auch er selbst war zweimal aufgeführt, außerdem die Evergreen Elementary und einige ihm bekannte Namen. Ein Blick auf ihre Textnachrichten ergab, dass alle um Rückruf oder eine Antwort per SMS baten.

»Wo zum Teufel steckst du?«, fragte er sich laut und legte das Handy auf einem kleinen Tisch ab. Seine Stimme hallte in dem kleinen Apartment wider. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Einbruch, nichts schien an der falschen Stelle zu sein. Ihr Laptop, Fernseher und sogar etwas Kleingeld auf dem Küchentresen waren unberührt. In einer der kleinen Schüsseln auf dem Fußboden neben dem Mülleimer befand sich vertrocknetes Katzenfutter.

Er ging zurück in den Flur und entdeckte ihre Auto- und Wohnungsschlüssel auf einem kleinen Tisch bei der Eingangstür.

Seltsam. War sie rausgegangen und hatte sich ausgesperrt?

Unwahrscheinlich, es war ja abgeschlossen gewesen.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihre Freundin anzurufen und ihr zu berichten, was er vorgefunden hatte; dann, so vermutete er, müssten sie ihre Familie und vielleicht sogar die Polizei benachrichtigen.

Er sperrte die Eingangstür hinter sich zu und legte den Ersatzschlüssel zurück auf den Querbalken, dann kehrte er zu seinem Wagen zurück und hoffte inständig, dass es Jocelyn gutging.

Er hatte das ungute Gefühl, dass dem nicht so war.

 

Kurz nach sieben lenkte Kacey ihren Ford Edge von der Hauptstraße auf die Auffahrt zu ihrem Haus. In den letzten Stunden hatte sie gegen Kopfschmerzen ankämpfen müssen, und ihr Magen knurrte.

Sie schaute in den Rückspiegel und stellte fest, dass der Wagen, der ihr gefolgt war – ein Minivan mit einem Weihnachtsbaum auf dem Dach –, an ihr vorbeischoss. Nichts Auffälliges. Nichts Schlimmes, es sei denn, man hielt das Schlagen von Weihnachtsbäumen vor Thanksgiving für eine Sünde. Kacey war hin- und hergerissen.

Hinter dem Minivan fuhr ein dunkler Pick-up, das beliebteste Transportmittel in dieser Gegend, danach kam eine helle Limousine, keine von denen, vor denen man sich fürchtete, wenn man allein eine Landstraße in die Berge hinauffuhr. Meistens ging es ihr recht gut, doch sie fragte sich, ob sie sich je wieder ganz sicher fühlen würde. Immer, wenn sie allein war, kamen alte Erinnerungen und Zweifel in ihr hoch.

Das ist alles nur Einbildung. Wieder einmal. Du musst endlich darüber hinwegkommen! Der Überfall liegt beinahe sieben Jahre zurück. Willst du dein ganzes Leben damit verbringen, ständig ängstlich über die Schulter zu blicken? Du bist hier. In Grizzly Falls, nicht in Seattle. Du bist in Sicherheit.

Kacey biss die Zähne zusammen und zählte bis zehn. Ihre Scheinwerfer warfen helle Lichtkegel über die mittlerweile fünf Zentimeter dicke Schneedecke am Boden und spiegelten sich in den Millionen von Flocken wider, die vom dunklen Himmel wirbelten.

Das alte Farmhaus, in dem sie lebte, kam in Sicht. Sie lächelte, als sie sah, wie einladend und gemütlich es im bläulichen Licht der Laterne am Ende der Auffahrt aussah. Vor fast hundert Jahren in Schindelbauweise errichtet, hatte das Haus ein steiles Giebeldach mit zwei Dachgauben und einer breiten Veranda, die ums ganze Obergeschoss reichte. Zwei Lampen brannten, eine im Wohnzimmer, die andere im Arbeitsraum, beide mit Zeitschaltuhren ausgestattet, damit sie nicht in ein dunkles Haus zurückkehren musste.

Sie drückte auf den Garagenöffner. Sobald das Tor offen war, fuhr sie hinein und betätigte wieder die Fernbedienung. Erst nachdem sich das Tor wieder ganz geschlossen hatte, stieg sie aus ihrem Geländewagen. Sie war sehr viel vorsichtiger geworden, als sie es in ihrer Kindheit gewesen war oder als Studentin, für die es nichts als ihr Streben nach Erfolg gegeben hatte. Mit ihren Spitzennoten und einem Sportstipendium fürs Junior College hatte sie sich unschlagbar gefühlt.

Jetzt nahm sie ihren Laptop und verließ die Garage durch eine Seitentür, die sie sorgfältig verschloss. Dann nahm sie den kurzen Weg zur hinteren Veranda, wo ein warmes Licht über der Tür brannte. Ihre Stiefel hinterließen Spuren im Schnee und knirschten, als sie die Stufen hinaufstieg. Sie sperrte die Hintertür auf und stampfte mit den Füßen, um sich den Schnee abzutreten, dann schlüpfte sie hinein und schloss von innen ab.

Sie überlegte, ob sie sich wieder einen Hund zulegen sollte, aber dagegen sprach, dass sie sich den ganzen Tag über nicht um ihn kümmern könnte. Manchmal machte sie sich schon vor sechs Uhr morgens auf den Weg zur Arbeit und kehrte nicht vor acht Uhr abends zurück. Obwohl sie ihren Arbeitsplan umstellen und jemanden engagieren könnte, der den Hund ausführte, hatte sie diese Idee bislang stets wieder verworfen. Doch vielleicht bestand ja sogar die Möglichkeit, ihn mit in ihr Büro in der Poliklinik zu nehmen oder in einer Tagespension für Hunde in der Stadt unterzubringen. Sie sollte doch noch einmal darüber nachdenken.

Sie sah sich in der Küche um, die, solange sie denken konnte, Teil ihres Lebens war. Als Kind war sie oft zu Besuch in das kleine Cottage auf der Farm ihrer Großeltern gekommen. Untrennbar mit dem Haus verbunden war eine ganze Reihe von Streunern und Hütehunden, manchmal drei gleichzeitig, an die sie sich von ihren langen Sommer- und Winterferien erinnerte. Die Hunde hatten einfach hierhergehört.

Später, als sie geheiratet und in Schichten genau entgegengesetzt zu denen ihres Mannes gearbeitet hatte, war ein betagter Boston Terrier bei ihnen eingezogen. Jeffrey hatte ihn von seiner Mutter übernommen, als diese in ein Gebäude mit Eigentumswohnungen übersiedelte, in dem Haustiere verboten waren. Der schwarz-weiße Hund namens Blackjack hatte noch zwei Jahre gelebt. Als er starb, ging ihre Ehe bereits in die Brüche, und sie hatten sich nie um einen neuen bemüht.

Auch nicht darum, ihre Ehe zu retten.

Kacey zog Mantel und Schal aus, hängte beides in einen Schrank in der Nähe der Hintertür, dann streifte sie ihre Stiefel ab und war sogleich fünf Zentimeter kleiner.

Nachdem sie eine Tasse mit Wasser gefüllt und in die Mikrowelle gestellt hatte, durchforstete sie ihren Kühlschrank, wo sie zwei Stück Pizza von vorvorgestern fand, dazu eine noch nicht angebrochene Tüte Salat.

»Perfekt«, murmelte sie und ermahnte sich, morgen unbedingt beim Supermarkt anzuhalten. Ihr Vorrat an Toilettenpapier, Spülmittel und Kaffee schwand bedenklich.

Die Mikrowelle klingelte, sie bereitete sich schnell eine Tasse Tee zu und trug sie die Treppe hinauf zu ihrem Schlafzimmer unterm Dach. Zwischen zwei Schlucken streifte sie Hose und Pulli ab und streckte schon die Hand nach ihrem Schlafanzug aus, als ihr Blick auf ihre Sportsachen fiel: schwarze Leggins und ein altes Langarmshirt von den Huskies.

Sollte sie wirklich?

Mit diesen Kopfschmerzen?

Sie mochte es eigentlich nicht, vor dem Fernseher zu trainieren, aber es lief eine Folge der Real Housewives, ihrer Realityshow, die sie sehr gerne ansah, wie sie sich schuldbewusst eingestand. Sie hatte festgestellt, dass diese hirnlose Sendung ihr half, sich zu entspannen, und wenn sie dabei Sport machen konnte – umso besser.

»Sei’s drum«, murmelte sie, aber sie zog bereits ihre Leggins an.

Anschließend trank sie ihren Tee aus, ging wieder hinunter, aß eine halbe Banane und stellte den Fernseher im Arbeitszimmer an, ein gemütlicher Raum, der mit einer Glastür von der Diele abgetrennt war. Wenn sie die Augen schloss, meinte sie, immer noch den Pfeifentabak ihres Großvaters und das Duft-Potpourri ihrer Großmutter riechen zu können – eine Mischung aus Zimt, Vanille und Früchten, die dazu dienen sollte, den Tabakgeruch zu überdecken.

Natürlich waren ihr diese Gerüche präsent, genau wie all die anderen Erinnerungen. Nachdem sie vor Beginn ihrer Lieblingsserie kurz einen News-Sender geschaut und dann durch die Kanäle gezappt hatte, weil ihr die Nachrichten zu deprimierend waren, begann sie mit ihrem Training, dessen Ablauf ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen war. Sie nahm ihre Hanteln aus dem Schubladenschrank unter dem breiten Flachbildfernseher und machte ihr Workout, während die »wahren Hausfrauen« in ihrem Alltag alle möglichen Dramen, stets auf Zehn-Zentimeter-Absätzen und mit glitzernden Juwelen behängt, durchlebten. Dabei balancierte sie auf einem Gymnastikball, den sie im Wandschrank aufbewahrte.

Es gelang ihr, ordentlich ins Schwitzen zu kommen, dennoch dachte sie sehnsüchtig an das Laufband, das sie laut Scheidungsurteil in Seattle hatte zurücklassen müssen. Zum Zeitpunkt ihrer Trennung war sie ein emotionales Wrack gewesen, und Jeffrey hatte darauf bestanden, dass er die komplette Ausstattung aus ihrem privaten Fitnessraum benötigte. Sie war zu ausgelaugt gewesen, um wegen so etwas Banalem den Kampf aufzunehmen, hatte einfach nur alles hinter sich lassen wollen.

Doch jetzt, bei dem Schneefall, war es unmöglich, über die Landstraßen zu joggen, und sie wünschte sich, sie hätte das Laufband im Haus anstatt eines Cardio-Workout-Tapes aus den Neunzigern.

Die Real Housewives waren vorbei, und sie beendete ihr Training. Sie wollte gerade den Fernseher abschalten, als der Aufmacher eines der zahlreichen Unterhaltungs-»Nachrichten«-Magazine über den Bildschirm flackerte und sie Shelly Bonaventures lächelndes Gesicht erblickte. Mit munterer Stimme verkündete die Ansagerin: »Und jetzt das Neueste zum Selbstmord von Shelly Bonaventure.« Es folgte ein kurzer Abriss von Shellys Leben, vom Kleinkind bis hin zu ihrem jüngsten Auftritt auf dem roten Teppich. Obwohl es ihr gar nicht passte, musste Kacey zugeben, dass Heather recht hatte: Sie und Shelly Bonaventure ähnelten einander tatsächlich. Der Zuschauer erfuhr, dass Shelly die ersten fünf Jahre ihres Lebens in Helena, Montana, verbracht hatte, bevor sie mit ihrer Familie nach Südkalifornien umgezogen war.

»Hm.« Dann war das B-Filmsternchen also in derselben Stadt geboren wie Kacey und hatte seine Wurzeln ebenfalls in Montana. Doch nur weil sie einander ähnlich sahen und aus derselben Gegend stammten, gab es keinen Grund, irgendwelche Schlüsse daraus zu ziehen. Natürlich war das Ganze schon merkwürdig, aber mit Sicherheit war es reiner Zufall.

»Und obwohl dieser Fall als Selbstmord eingestuft wurde, ist ein Detective aus Los Angeles nicht ganz überzeugt davon«, berichtete die Sprecherin. Auf dem Bildschirm erschien ein gutaussehender Afroamerikaner in einem tadellosen Anzug und mit Sonnenbrille. Er stand irgendwo draußen, im Hintergrund waren Palmen zu sehen. Die Sprecherin fuhr fort: »Jonas Hayes, ein erfahrener Polizist, ist seit über fünfzehn Jahren beim LAPD tätig.«

Ein Reporter gesellte sich zu dem Beamten. »Detective Hayes, können Sie uns eine Stellungnahme zu der Einschätzung geben, dass es sich bei Shelly Bonaventures Tod um Selbstmord handelt?«

Hayes runzelte die Stirn. »Nein.«

»Aus zuverlässiger Quelle haben wir erfahren, Sie seien nicht davon überzeugt, dass sie sich das Leben genommen hat.«

»Kein Kommentar.«

»Aber Detective Hayes«, drängte der Reporter und eilte dem sehr viel größeren Mann hinterher, der auf einen Parkplatz zustrebte. »Ist es möglich, dass Shelly Bonaventure einem Mord zum Opfer fiel?«

Hayes’ breite Schultern unter dem teuren Stoff seiner Jacke spannten sich sichtbar an. Langsam drehte er sich um, die Augen hinter der dunklen Sonnenbrille auf den Reporter gerichtet. Dann sagte er noch langsamer: »Wie bei allen Ermittlungen bleibt der Fall Shelly Bonaventure offen, bis auch die letzten Fakten geklärt sind.«

»Dann besteht also durchaus die Möglichkeit der Fremdeinwirkung?« Der Reporter ließ nicht locker.

Hayes drückte auf die Fernbedienung seines Wagens und zuckte die Achseln. »Besteht diese Möglichkeit nicht immer?«, fragte er rhetorisch, dann öffnete er die Fahrertür und glitt hinters Lenkrad. Die Schlusseinstellung zeigte, wie sich die Rücklichter seines Geländewagens in den dichten Verkehr von Südkalifornien einordneten.

»Offenbar ist der Fall noch längst nicht abgeschlossen«, schlussfolgerte der blonde Reporter. »Wie Sie wissen, wurde Shelly auf ähnliche Weise gefunden wie ein halbes Jahrhundert zuvor Marilyn Monroe. Die Parallelen sind in der Tat bizarr.« Bei diesen Worten wurde ein riesiges Schwarzweiß-Porträt eingeblendet, es folgte eine Reihe von Aufnahmen der Wasserstoff-Ikone, die mit einem Bild vom Todesschauplatz in ihrem Schlafzimmer ihres Bungalows in Brentwood endete.

»Was für ein Schund«, murmelte Kacey angesichts des reißerischen Beitrags.

Vielleicht lag es an der Morbidität der Reportage, dass sie dennoch ein eisiges Prickeln verspürte. Sie wandte sich zum Fenster und blickte in die Dunkelheit hinaus.

Ihre tiefe Verzweiflung fiel ihr ein, als ihr eigenes Leben in Gefahr gewesen und sie davon überzeugt war, sterben zu müssen; das Entsetzen in jenen schrecklichen Momenten, in denen sie ins Antlitz des Bösen geblickt hatte.

Für den Bruchteil einer Sekunde erinnerte sie sich an die grauenvollen letzten Worte des Mannes, der im Begriff stand, ihr ein Messer ins Herz zu stechen, bevor er zurückgetaumelt war. Sie schauderte. Es ist nicht vorbei …, hatte er geknurrt. Du bist eine von ihnen.

Doch diese abscheuliche Drohung bedeutete nichts, redete sie sich ein, das Gefasel eines geistesgestörten Mannes, dessen blutrünstige Phantasien sich aus irgendeinem Grund auf sie fokussiert hatten. Denk nicht daran! Es ist vorbei!

Sie schüttelte die Erinnerungen ab und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm.

Die Moderatorin des Nachrichtenmagazins, die aussah wie die Mensch gewordene Version einer Barbiepuppe, sprach über Shellys schauspielerische Leistungen, ihre angeblichen Geliebten und betonte immer wieder, dass die Polizei von Los Angeles die Möglichkeit der Fremdeinwirkung nicht ausschloss.

Mit weit aufgerissenen Augen und perfekt glänzendem Lippenstift wandte diese sich an den Co-Moderator, einen jungen, aufgestylten Mann in einem dunklen Anzug mit kunstvoll zerstrubbeltem Haar, und sie erörterten gemeinsam die Möglichkeit einer Verschwörung.

Kacey schaltete den Fernseher ab.

Auf dem Weg ins Badezimmer streifte sie ihre Fitness-Klamotten ab, drehte nackt den Wasserhahn auf und schaltete das Radio ein, dann stieg sie in die alte Badewanne mit den Klauenfüßen, zog den Vorhang zu und stellte sich unter den Duschkopf.

Heißes Wasser prasselte auf ihre Haut, und sie spürte, wie die Anspannung des Tages von ihr abfiel. Während sie sich einseifte, summte sie einen Song von Katy Perry vor sich hin und zwang sich, nicht an Trace O’Halleran zu denken, der ihr unentwegt im Kopf herumspukte, auch wenn ihr der Trubel in der Poliklinik heute kaum eine freie Minute gelassen hatte. Dennoch waren ihre Gedanken zu ihm, zu Elis Mutter und der unbekannten Miss Wallis, laut Eli »seiner Freundin«, abgeschweift.

»Vergiss es«, sagte sie laut zu sich selbst und drehte den Wasserhahn zu. Er war nicht mal ihr Typ. Sie hatte nie auf diese hinterwäldlerischen Alphamännchen in den abgewetzten Jeans gestanden, denen jeglicher Schliff fehlte.

Ach ja? Und was hat dir das gebracht? Denk nur mal an Jeffrey Charles Lambert, den geschniegelten, kultivierten Herzchirurgen, in den du dich verliebt hast! War er dein Typ? Das hat kein gutes Ende genommen, nicht wahr? Mach dir doch nichts vor, Acacia, deine Erfolgsbilanz, was Männer anbelangt, sieht ziemlich erbärmlich aus.

»Schluss damit!«, schalt sie sich, verärgert über die Wende, die ihre Gedanken genommen hatten. Sie grübelte einfach zu viel, wenn sie allein war. Es wurde wirklich Zeit, über einen neuen Hund nachzudenken.

Allerdings war O’Halleran der bestaussehende Cowboy, dem sie je begegnet war. Ein hingebungsvoller Vater. Ihre eigene biologische Uhr tickte wie verrückt, so laut, dass sie es schon vermied, die Geburtenstation der Klinik zu betreten. Na und?

Die alten Rohre ächzten. Über das Geplapper des DJs im Radio hinweg hörte sie ein Geräusch im Haus, das sie nicht recht zuordnen konnte. Sie schnappte sich ein Handtuch und wickelte sich darin ein, dann stieg sie aus der Badewanne und lauschte aufmerksam.

Nichts.

War jemand im Haus? Oder hatte sie sich das Geräusch nur eingebildet?

Ihr Herz pochte ein wenig schneller, als sie sich abtrocknete und dann ihren Bademantel von dem Haken an der Badezimmertür nahm. Mit gespitzten Ohren fuhr sie in die dicken Frotteeärmel, doch sie hörte nichts. Nachdem sie den Bademantelgürtel um ihre Taille geschlungen hatte, trat sie vorsichtig in die Diele hinaus.

Nichts Außergewöhnliches war zu bemerken.

Plötzlich ertönte eine Art Scharren, ein Kratzen.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie auf leisen Sohlen den Flur entlang in Richtung des Geräusches schlich. Da ist nichts … Doch sie spürte, wie sich ihr warnend die Nackenhaare sträubten. Vorsichtig spähte sie durch die Glastür, doch alles schien unverändert. Der Gymnastikball lag nach wie vor in der Mitte des Arbeitszimmers, die Fernbedienung für den Fernseher auf dem Teppich daneben.

Sie bog um die Ecke und wollte soeben am Esszimmer vorbei in Richtung Küche schleichen, als sie erneut ein Geräusch vernahm: ein deutliches Kratzen, ganz in der Nähe. Erschrocken wirbelte sie herum und suchte panisch mit den Augen das dunkle Esszimmer ab. Ihr Herz raste.

Knaaaarz!

Das Geräusch kam vom Fenster. Sie hätte beinahe aufgeschrien, als sie eine riesige Skeletthand an der Scheibe entlangscharren sah.

Großer Gott! Sie musste sich verteidigen! Die alte Schrotflinte ihres Großvaters fiel ihr ein. Benommen vor Entsetzen taumelte sie zurück, dann wurde ihr klar, was die schwarze Hand in Wirklichkeit war: der kahle Zweig eines der großen Sträucher, die an der Ostseite des Hauses wuchsen.

Völlig aufgelöst und gleichzeitig erleichtert, ging sie in die Küche, wo sie sich schwer auf einen Stuhl fallen ließ. All ihre so tiefsitzenden Ängste und lebhaften Phantasien kamen wieder hoch. Sie war Ärztin, hoch professionell, geübt, im Notfall einen kühlen Kopf zu bewahren, trotzdem genügte ein einziger alberner Zweig, sie zur Schrotflinte ihres Großvaters greifen zu lassen. »Reiß dich zusammen«, befahl sie sich ungehalten. »Das ist doch lächerlich.«

Als sie sich wieder gefasst hatte, wärmte sie sich die zwei Stücke Pizza in der Mikrowelle auf, gab den Salat in eine Schüssel, goss sich ein Glas Rotwein ein aus der Flasche, die sie vor drei Tagen geöffnet hatte, und trug alles in ihr Arbeitszimmer, wo sie den Fernseher wieder anstellte und sich einredete, das sei genau das Leben, das sie sich nach ihrer Scheidung von Jeffrey gewünscht hatte.

Im Fernsehen lief nichts Interessantes, und ihr Blick schweifte ab zum Fenster.

Niemand lauerte draußen in der Dunkelheit. Sie war in Sicherheit, in ihrem Zuhause. Und zumindest versuchte sie, sich davon zu überzeugen, als sie aufstand, um die Jalousien zu schließen.

Doch tief im Innern wusste sie, dass sie davongelaufen war. Nicht nur vor einem Ehemann, einem Gott in Weiß, der sie betrog, sondern auch vor dem, was in der Vergangenheit passiert war, vor der einen Nacht, die sie aus ihrem Gedächtnis zu löschen versuchte.

Das Problem war nur, dass sie nicht davonlaufen konnte.

Wo immer sie hinging, die Erinnerung an jene Nacht verfolgte sie, nagte an ihr; der Schmerz, das Entsetzen ließen ihr keine Ruhe.

 

Er stand oben auf dem Hügel und hatte sein starkes Fernglas auf das Farmhaus gerichtet, doch selbst bei höchstmöglicher Vergrößerung war wegen des dichten Schneevorhangs nur wenig zu erkennen. Ja, er konnte sie im Arbeitszimmer und in der Küche ausmachen, auch aus dem Badezimmer drang für kurze Zeit Licht, doch ihre Gestalt erkannte er nur unscharf, ihr Gesicht komplett verschwommen, und als sie die Jalousien herunterließ, konnte er gar nichts mehr sehen.

Er konnte sie hören, natürlich, da er überall in ihrem Haus winzige Mikrophone versteckt hatte, an Stellen, die sie niemals entdecken würde. Doch es war ihm nicht gelungen, eine ferngesteuerte Kamera zu installieren, was ihn ärgerte, denn er hätte sie gerne heimlich beobachtet, aus der Ferne, um mehr über sie und ihre tägliche Routine zu erfahren, um herauszufinden, wie sie wirklich tickte.

Seine Faszination grenzte an Besessenheit, das wusste er, als er bibbernd vor Kälte in dem Dickicht aus Espen und Fichten stand, die auf der Anhöhe am Feldrand nahe bei ihrem Haus wuchsen. Er konnte es nicht ändern.

Sie war die eine, die ganz Besondere; von allen »Unwissenden« war sie am gefährlichsten. Intelligent und schön, Acacia Collins Lambert, eine Ärztin.

Er steckte das Fernglas zurück in die Hülle, dann ging er auf demselben Weg zurück durch den Wald zu seinem Wagen. Er hatte ihn in einer Nebenstraße abgestellt, nachdem er ihr von der Poliklinik, in der sie arbeitete, nach Hause gefolgt war. Er musste geduldig sein, schärfte er sich ein, während er einen Pfad in den frisch gefallenen Schnee trampelte.

Es würde nicht mehr lange dauern.