Kapitel 22
Nicht nur Riza hatte sie unterstützt, auch von den Krankenhäusern waren Antworten auf ihre Anfragen eingegangen. Bewaffnet mit neuen, wenngleich oberflächlichen Informationen, war Kacey nun auf dem Weg nach Helena, zu ihrer Mutter.
Riza, die sogar an Daten der Kraftfahrzeugbehörde rankam, hatte versprochen, noch weiter nachzuforschen und ihr Geburts- und Todesanzeigen, Fotos und was sie sonst noch finden konnte zukommen zu lassen. »Es könnte mich den Job kosten«, warnte sie Kacey.
»Es sei denn, wir suchen uns beide einen guten Verteidiger.«
Kaceys ehemalige Kommilitonin war in Lachen ausgebrochen. »Egal. Ich liebe solche Sachen, genau wie ich CSI, Bones – Die Knochenjägerin und all die anderen Krimiserien liebe. Ich werde mal sehen, was ich auftreiben kann, aber das bleibt streng geheim, okay?«
»Klar«, hatte Kacey erwidert, wenngleich sie sich fragte, wie lange sie sich an dieses Versprechen würde halten können. Sie hatte die Aus-Taste gedrückt und erneut wählen wollen, hatte aber dann aufgelegt – ein weiteres Telefongespräch mit ihrer Mutter würde ohnehin nichts bringen. Ob es ihr passte oder nicht, sie würde Maribelle von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten müssen.
Es wurde bereits dämmrig, als sie in Helena ankam und durch die vertrauten Straßen fuhr. Der Asphalt war geräumt, die Gehsteige waren freigeschaufelt, doch schon fiel neuer Schnee vom Himmel. Sie lenkte ihren Ford Edge an der Kathedrale von St. Helena vorbei, deren gotische Fassade hell angestrahlt war. Die beiden Kirchtürme ragten hoch in den Himmel hinein. Das war die Stadt, in der sie aufgewachsen war, wo sie sich sicher gefühlt hatte, doch jetzt, in der sich herabsenkenden Dunkelheit, empfand sie diese Sicherheit als trügerisch. Irgendetwas stimmte nicht.
Sie blickte in den Rückspiegel und zuckte zusammen, als sie einen dunklen Pick-up hinter sich erblickte, ganz ähnlich dem, der sie vor ein paar Tagen gerammt und ins Schleudern gebracht hatte.
Der gewaltige, unheimliche Kühlergrill über der vorderen Stoßstange sah genauso aus wie der andere, doch sie konnte das Nummernschild nicht sehen, konnte nicht mal erkennen, ob es aus Montana oder sonst woher stammte. Ihre Kehle wurde trocken, als sie die Scheinwerfer im Rückspiegel verfolgte, und sie stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als der Wagen wendete und in die entgegengesetzte Richtung davonfuhr.
Nun sei doch nicht so paranoid. Niemand folgt dir. Nur weil Elle Alexander laut der jüngsten Meldungen von der Straße gedrängt wurde, bist du noch lange kein Ziel.
»Trotzdem«, murmelte sie nervös.
Mit einem letzten Blick vergewisserte sie sich, dass der Pick-up mit dem riesigen Kühlergrill nicht mehr hinter ihr herfuhr, und entspannte sich ein wenig. Bevor sie die Stadt wieder verließ, machte sie noch einen weiteren Abstecher. Vor einer roten Ampel ganz in der Nähe des Valley Hospitals, ein paar Blocks vom Broadway entfernt, hielt sie an. Die Konstruktion aus Stahl und Glas erhob sich drei Stockwerke hoch in den Himmel, die Lichter der Stadt spiegelten sich in den riesigen Scheiben. Als die Ampel auf Grün sprang, trat sie aufs Gas und grübelte darüber nach, welche Rolle das Valley Hospital, in dem mindestens drei einander ähnelnde Frauen das Licht der Welt erblickt hatten, bei den mysteriösen Todesfällen wohl spielen mochte.
Sie würde dem später einmal nachgehen müssen, dachte sie, während sie das Stadtzentrum hinter sich ließ und in Richtung Rolling Hills fuhr, wo Maribelle und ihre Lügen residierten.
Trace hatte auf Elis Schulbus gewartet und ihn dann in die Stadt gefahren, wo sie Sarge aus der Tierklinik abholten. Er trug einen dieser Hundetrichter um Hals und Kopf, der ihn davon abhalten sollte, seine Wunde zu lecken oder die Fäden herauszuziehen. Sarge war auf dem Weg der Besserung, Gott sei Dank.
»Er sieht aus wie ein Außerirdischer!«, rief Eli mit einem ängstlichen Lächeln, als sie an der Rezeption standen. Sarge humpelte auf drei Beinen auf ihn zu und hätte den Jungen vor Freude beinahe umgeworfen.
»Jetzt seid ihr beide Pflegefälle«, neckte ihn Trace und blickte mit hochgezogener Augenbraue auf Elis blauen Gips. Ein paar Unterschriften waren daraufgekritzelt, eine Stelle war verschmutzt und ließ sich nicht wieder sauber rubbeln.
»Das muss ein Waschbär gewesen sein«, sagte Jordan Eagle, als Trace die Rechnung bezahlte, »wenn nicht sogar mehr als einer.«
»Ich bin einfach nur froh, dass er wieder gesund wird«, sagte Trace. »Vielen Dank.«
Jordan tätschelte Sarges Kopf, dann pfiff Trace nach ihm, und der Hund flitzte unbeholfen hinter ihm und Eli her. Trace half ihm in den Pick-up, und schon waren sie wieder unterwegs.
Zu Hause angekommen, ließ Eli sich gleich wieder auf die Couch fallen, obwohl Sarges Rückkehr seine Laune beträchtlich gehoben hatte. Schon als er aus dem Bus gestiegen war, hatte er erklärt, er fühle sich elend, und er begleitete Trace auch nicht wie sonst auf seiner nachmittäglichen Runde. Sarge zusammengerollt zu seinen Füßen, schlief er augenblicklich auf dem Sofa ein.
Trace machte sich Sorgen, da der Junge für gewöhnlich so aktiv war, aber schließlich kämpfte er noch immer mit seiner Erkältung oder einem grippalen Infekt oder was auch immer. Jocelyns Tod trug auch nicht gerade zu seiner Besserung bei, genauso wenig wie der Zwischenfall auf dem Pausenhof. Wenigstens hatte er Leanna seit ein paar Tagen nicht mehr erwähnt.
Vielleicht war es ganz gut, dass er sich jetzt ausruhte. Er ließ das Kind schlafen, doch Sarge bequemte sich dazu, seinem Herrchen zum Füttern in die Ställe zu folgen. Trace hatte die Tiere tagsüber ins Freie gelassen, doch jetzt, da der Himmel langsam dunkel wurde, versorgte er sie und sperrte sie wieder drinnen ein.
Als er zum Haus zurückkehrte und ein Abendessen in der Pfanne brutzelte, war Eli wach. Sie aßen in der Küche, doch Eli stocherte nur in seinem Essen und ließ den Apfelsaft stehen, den sein Vater ihm eingegossen hatte.
Als sie fertig waren, stapelte Trace den Abwasch in der Spüle, dann machten sie sich gemeinsam an die Hausaufgaben, doch sie gaben auf, als Eli, hustend und lustlos, zurück aufs Sofa wollte. Trace maß seine Temperatur, die immer noch bei achtunddreißig lag. Er stellte ihn unter die Dusche, erlaubte, dass er eine Limo trank, und steckte ihn ins Bett. Der Junge widersetzte sich nicht, obwohl die Digitaluhr auf seinem Nachttisch erst neunzehn Uhr fünfzehn anzeigte. Für gewöhnlich hätte Eli ein lautes Protestgeheul angestimmt. Heute Abend dagegen war er sofort eingeschlafen.
Das war tatsächlich ein Grund zur Sorge, einer von vielen.
Erst als er wieder unten war, fiel ihm auf, dass das rote Lämpchen an seinem Anrufbeantworter blinkte.
Er drückte auf »Abhören« und vernahm Kaceys Stimme, die sich nach Elis Befinden erkundigte. »Wie nett«, dachte er laut und spielte die Nachricht ein zweites Mal ab, sowohl um ihre Stimme noch einmal zu hören als auch, damit er sich ihre Nummer einprägen konnte. Er überlegte, ob er sie anrufen sollte, um ein wenig zu plaudern, doch als er den Hörer abnahm, zögerte er.
Worüber willst du denn reden? Übers Wetter? Über Elis blauen Gips? Über die Frau, mit der du ausgegangen bist, die, die ihr so ähnlich sieht? Über Jocelyns Tod? Oder willst du zugeben, dass du letzte Nacht von ihr geträumt hast und mit einem Steifen aufgewacht bist?
Er dachte an Leanna. Und an Jocelyn.
Dann legte er den Hörer auf.
»Acacia! Was um alles in der Welt machst du denn hier?«, rief ihre Mutter und schlug ihre Hand vor die Brust.
Maribelle hatte die Tür zum Gang geöffnet, und ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie absolut nicht damit gerechnet hatte, ihre Tochter vor ihrem Drei-Zimmer-Apartment in der Seniorenresidenz vorzufinden.
»Ich dachte, wir sollten uns unterhalten.«
»Und am Telefon war das nicht möglich?«, fragte Maribelle vorsichtig und trat von der Schwelle zurück. Sie bat ihre Tochter in ihr Allerheiligstes, doch Kacey spürte, dass sie nicht willkommen war.
Nun, was für ein Pech, dachte sie, als sie über den dicken weichen Teppich zu der in gedämpftem Blau bezogenen Couch vor dem sanft flackernden Gaskamin ging. Nur wenige der Einrichtungsgegenstände erinnerten Kacey an ihre Jugend; die meisten Dinge – Bilder, Stühle, Lampen und Tische – waren neu. Ihre Mutter hatte sie erworben, nachdem sie das Haus verkauft und alles, was die neuen Besitzer nicht übernehmen wollten, bei einem Garagenverkauf verscherbelt hatte.
»Ich wollte dir dabei gern direkt gegenübersitzen«, erklärte Kacey und spürte, wie ihr Herz ein wenig schneller schlug als sonst; sie hatte Maribelle nie unmittelbar die Stirn geboten, aber das hatten ohnehin nur sehr wenige getan, und dann war da noch das Problem mit ihrem nervösen Magen, der sich sofort in einen steinharten Knoten zu verwandeln schien.
»Kann ich dir eine Tasse Tee oder ein Glas Wein anbieten? Ich habe einen exquisiten Pinot aufgemacht –«
»Nein, danke, Mom. Ich möchte nur reden.« Sie wärmte sich am Feuer, während Maribelle, in Jeans und goldenem Pullover, mit besorgtem Gesichtsausdruck auf einer Seite der Couch Platz nahm, auf der ein aufgeschlagenes Taschenbuch lag. Ein halb ausgetrunkenes Glas Wein stand auf dem Sofatisch.
Kacey zog einen Umschlag aus ihrer Handtasche, öffnete ihn und ließ den Inhalt auf den Tisch gleiten. Fotos von Shelly Bonaventure, Jocelyn Wallis und Elle Alexander starrten Maribelle entgegen.
»Was ist das?«
»Fällt dir etwas auf, Mom? Diese Frauen sehen sich alle ähnlich, und zwar so sehr, dass sie Schwestern sein könnten.«
»Aha?«
»Sie sind alle tot. Letzte Woche bei verschiedenen Unfällen ums Leben gekommen.«
Ihre Mutter erblasste und griff nach ihrem Weinglas.
»Sie ähneln auch mir, Mom. Und jetzt behaupte bitte nicht, das könntest du nicht sehen. Außerdem ist da noch diese Frau.« Sie zog eine Broschüre vom Fit Forever aus der Tasche, die bereits auf der entsprechenden Seite aufgeschlagen war, und legte sie neben die Fotos der drei Frauen. »Sie ist Fitnesstrainerin, und noch ist sie quicklebendig.«
»Worauf willst du hinaus?«
Kacey blickte ihre Mutter durchdringend an. »Ich denke, das Ganze ist kein Zufall; zudem habe ich Nachforschungen angestellt. Drei der Frauen wurden im Valley Hospital geboren, hier in Helena. Genau wie ich. Bei Elle bin ich mir nicht sicher. Ihre Herkunft ist ein wenig undurchsichtig, und unglücklicherweise weilt sie nicht mehr unter uns und kann uns daher keine Auskunft geben. Sie hat behauptet, sie habe ihr ganzes Leben in Idaho verbracht, aber trotzdem …«
»Ich verstehe einfach nicht, was du mir sagen willst. Du glaubst also, Frauen, die aussehen wie du, werden umgebracht?«
»Frauen, die aussehen wie ich und in demselben verfluchten Krankenhaus auf die Welt gekommen sind.« Ihr Magen spielte verrückt, aber sie musste herausfinden, was dahintersteckte, und Maribelle wirkte definitiv besorgt.
»Viele Leute haben eine gewisse Ähnlichkeit miteinander.«
»Ich weiß. Zunächst war ich auch bereit, das Ganze so abzutun – aber das Krankenhaus, Mom! Was werde ich herausfinden, wenn ich dorthin fahre?«
»Ich habe keine Ahnung. Vermutlich nichts.«
»Was würde ich herausfinden, wenn ich eine DNS-Probe von mir mit DNS-Proben der anderen Frauen vergleichen ließe?«
»Wie bitte?«
Kacey antwortete nicht; das war nicht nötig. Sie sah, wie sich die Augen ihrer Mutter veränderten, als diese merkte, dass ihre Tochter nicht bluffte. Ihre schmalen Schultern fielen herab. Plötzlich sah Maribelle so alt aus, wie sie war.
»Allmächtiger.« Händeringend wandte sie den Blick ab und schaute aus dem Fenster. Draußen brach schon die Nacht herein.
»Ich möchte, dass du mir erzählst, was ich nicht weiß«, drängte Kacey.
Maribelle schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich hatte befürchtet, dass dieser Tag kommen würde.«
»Warum?«
Ihre Mutter schloss die Augen und stieß einen zittrigen Seufzer aus, doch Kacey war sich nicht sicher, ob er nur gespielt war oder von Herzen kam.
Nun, wer konnte das bei Maribelle Collins schon sagen?
»Ich hatte gehofft, dieses Geständnis niemals machen zu müssen«, fing sie an.
Kacey biss die Zähne zusammen und wartete. Am liebsten hätte sie ihre Mutter geschüttelt, die jedes einzelne Wort nur zögerlich über die Lippen brachte.
»Stanley ist nicht – war nicht – dein richtiger Vater. Das hättest du bei einer DNS-Analyse herausgefunden.«
»Du meinst, er war nicht mein leiblicher Vater«, stellte Kacey mit pochendem Herzen klar.
»Ja.« Maribelle war aufgestanden. Der Wein in ihrem Glas schwappte gefährlich nah an den Rand. »Niemand wusste das, nicht einmal Stanley, zumindest nicht am Anfang.« Sie sah ihre Tochter vorwurfsvoll an, als wäre das alles Kaceys Schuld.
»Warum hast du mir das nie gesagt?«
»Weil es Stanley umgebracht hätte«, sagte Maribelle. Offenbar schien sie ihre Tochter für begriffsstutzig zu halten. »Als du ungefähr sieben warst und es offensichtlich wurde, dass du niemandem aus seiner Familie ähnlich sahst, begann er misstrauisch zu werden, und wir hatten einen Riesenstreit. Er hat mir mit einem Vaterschaftstest gedroht, deshalb habe ich es ihm erzählt. Von dem Augenblick an war unsere Ehe – oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war – eine Farce.«
Es dröhnte in Kaceys Ohren.
»Wir sind deinetwegen zusammengeblieben. Er hat dich geliebt«, sagte Maribelle mit einer Spur von Bedauern in der Stimme. »Es war ihm gleich, dass du nicht sein eigen Fleisch und Blut warst. Du warst sein kleines Mädchen.« Sie räusperte sich und sah wieder zum Fenster. »Wir konnten uns nicht scheiden lassen … das stand außer Frage … Es war nicht mal möglich, dass wir uns trennten.« Sie schüttelte den Kopf. »Damals waren die Dinge anders in einer Stadt dieser Größe. Meine Eltern …« Sie wedelte mit den Fingern. »Es war besser so.«
Kacey war sich da nicht so sicher. Sie hatte sich nicht vorstellen können, eine lieblose Ehe mit Jeffrey aufrechtzuerhalten. So etwas ging auf gar keinen Fall. Doch Maribelle presste die Lippen aufeinander. Defensiv.
»Dad ist tot«, sprach Kacey das Offenkundige aus. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken an den Mann, den sie für ihren Vater gehalten hatte. »Du … du hättest es mir sagen können.«
»Da war es schon zu spät.«
»Es ist auch jetzt nicht zu spät.« Kaceys Magen schmerzte. All die Lügen. All die Heuchelei. Ihr ganzes Leben – ein einziger Betrug. Und doch ergab alles irgendwie einen verqueren Sinn.
»Wer ist mein biologischer Vater?«, fragte Kacey.
Ihre Mutter trank ihren Wein aus und stellte das leere Glas auf dem Kaminsims ab. »Spielt das eine Rolle?«
»Selbstverständlich. Und zwar eine ganz gewaltige! Frauen werden umgebracht, Mom. Frauen, mit denen ich vermutlich genetisch verwandt bin.«
»Genau das ist das Problem mit der Wissenschaft –«
»Du warst Krankenschwester, Mom«, fiel Kacey ihrer Mutter ins Wort. »Du glaubst an die Wissenschaft.«
»Nun, die Wissenschaft geht zu weit. Greift zu sehr in die Privatsphäre ein, ach was, es gibt schon gar keine Privatsphäre mehr! Wenn du mich fragst: Die Leute sollten einander einfach in Ruhe lassen!«
»Aber hier geht es um mein Leben, Mutter!«
Maribelle rieb sich die Arme, als wäre ihr plötzlich eiskalt. »Ich möchte wirklich nicht darüber reden.«
»Das hast du ja schon fünfunddreißig Jahre vermieden!« Kacey konnte kaum glauben, was sie da hörte. Ihr ganzes Leben war eine einzige Lüge gewesen. »Mutter, es sterben Frauen!«
»Bei Unfällen! Glaubst du wirklich, jemand bringt Frauen um, die aussehen wie du, bloß weil er auf eine genetische Verwandtschaft tippt? Um Himmels willen, Kacey, du müsstest dich mal hören!«
»Wer ist er?«
»Es gibt keinen Grund, deinen Vater damit zu belästigen.«
»Er ist nicht mein Vater«, fauchte Kacey. »Du warst mit meinem Vater verheiratet. Dieser andere Mann? Ist er noch am Leben?«
»Ja.«
»Hast du noch Kontakt zu ihm?«
»Nein, selbstverständlich nicht.«
»Weiß er von mir?«, fragte sie, und als ihre Mutter nicht antwortete, drängte sie weiter: »Und die anderen …« Die Gesichter der toten Frauen schossen ihr durch den Kopf, Frauen, deren Züge den ihren so sehr glichen. »Weiß er von ihnen? Sind sie …« Sie schüttelte den Kopf.
Nein, das war durch und durch falsch. Plötzlich bezweifelte sie, ob es richtig gewesen war, zuerst hierherzukommen. Doch jetzt durfte sie nicht aufgeben. Mit einer Stimme, die sie kaum als ihre eigene erkannte, fragte sie: »Willst du mir etwa sagen, dass dieser … dieser Mann durch die Gegend gelaufen ist und Frauen geschwängert hat, nur um sie dann wieder sitzenzulassen?«
Maribelle schwieg.
»Mom …?« Da steckte noch mehr dahinter, und Kacey wappnete sich. »Was verschweigst du mir?«
Sämtliche Kraft schien Maribelle zu verlassen, und sie kehrte an ihren Platz auf der Couch zurück. Ihre Augen waren auf die Flammen im Kamin gerichtet, doch Kacey wusste, dass sie etwas ganz anderes vor sich sah. In Gedanken war sie weit fort, an einem Ort, den nur sie kannte, ein Ort, der in ferner Vergangenheit lag. »So war es nicht. Du musst das verstehen. Er ist ein feiner, anständiger Mann. Eine Stütze der Gesellschaft. Die Leute blicken zu ihm auf … Unsere Liebe kam von Herzen.«
Sie hatte diese Beziehung zu etwas Reinem, Besonderem, Einzigartigem verklärt, und sie hielt noch immer daran fest, nach mehr als drei Jahrzehnten.
»Ich weiß, das denken alle«, sagte sie, als hätte sie Kaceys Gedanken gelesen, »und es ist genau der Grund dafür, dass die Leute ihre Ehepartner betrügen: weil diese neue Beziehung so aufregend ist und ja, eben neu. Aber unsere Liebe …«
Ein glückseliges Lächeln umspielte Maribelles Mundwinkel, als sie sich zurückerinnerte. Sie schien tatsächlich anzunehmen, dass das, was sie mit diesem Mann geteilt hatte, einmalig war. Maribelle schluckte, dann warf sie ihrer Tochter einen strengen Blick zu. »Du würdest das ohnehin nicht verstehen.«
»Sei nicht so herablassend, Mom!«, rief Kacey, der die Situation zutiefst zuwider war. »Wer ist er?«
Schweigen.
»Maribelle?«
»Ich habe mir geschworen, seinen Namen niemals preiszugeben, und ich habe diesen Schwur bis heute nicht gebrochen.«
»Dann werde ich es eben auf andere Art und Weise herausfinden«, beharrte Kacey. »Und es wäre bestimmt weitaus schlimmer für dich, wenn ich mich auf die Suche nach ihm machen müsste.«
Maribelle starrte auf ihre Hände. »David soll nichts davon erfahren.«
David Spencer. Der Möchtegern-Freund ihrer Mutter. »Ich werde ihm nichts verraten«, versprach Kacey. »Doch sollte er auf andere Weise davon hören, werde ich nichts bestreiten. Ich bin nicht bereit, auch nur eine Sekunde länger mit dieser Lüge zu leben.«
»Du bist zornig«, stellte Maribelle mit einer Stimme fest, die kaum mehr war als ein Flüstern.
»Zornig und enttäuscht. Du hast mich belogen. Mein ganzes Leben lang!«
»Das tut mir leid. Ehrlich.« Sie blinzelte gegen die Tränen an. »Damals war das anders. Ich war jung. Leicht zu beeindrucken …«
»Und verheiratet. Vergiss das nicht.«
Maribelle zuckte zusammen. »Wir hatten Probleme. Zum einen wurde ich einfach nicht schwanger – nicht dass ich das geplant hätte, nein –, und dein Vater, ähm, Stanley und ich … Unsere Ehe war schon damals ziemlich wackelig. Ich hatte Kurse belegt und lernte einen jungen Mediziner kennen, der …« Ihre Stimme verklang, dann fuhr sie fort. »Nun, er war alles, was Stanley nicht war. Wir, ähm, fingen ein Verhältnis an, und gerade als wir beschlossen, dieses zu beenden, wurdest du gezeugt.« Sie sah Kacey mit tränenglitzernden Augen an. »Ich war so glücklich. Eigentlich hatte ich gedacht, ich wäre unfruchtbar, aber ich habe mich nie deswegen untersuchen lassen und Stanley auch nicht, und dann kamst du – ein Wunderkind!« Sie lächelte unter Tränen und hob die Hände. »Es war ein Segen. Zumindest für mich. Sieh dich nur an! Ich hatte mir so sehr ein Baby gewünscht!«
Kacey dachte an den hart arbeitenden Vater, bei dem sie aufgewachsen war, an die Großeltern, deren Haus sie geerbt hatte, und alles kam ihr plötzlich verkehrt vor. »Dad wird immer –«
»Ich weiß.« Maribelle schnappte sich ihr Glas und ging in die Küche, wo der Pinot zum Atmen in der offenen Flasche auf dem glänzenden Granittresen stand, den sie erst im letzten Jahr hatte einbauen lassen. Kacey folgte ihr und blieb auf der anderen Seite der Kücheninsel in der Mitte des Raumes stehen. »Soll ich dir nicht doch ein kleines Gläschen einschenken?«, bot Maribelle an und suchte im Küchenschrank nach einem passenden Glas.
Kacey schüttelte den Kopf. Sie musste klar denken können. Während Maribelle sich mit leicht zittrigen Händen nachgoss, fragte sie noch einmal: »Also, wer ist er, Mom?« Ihre Mutter stellte die Flasche ab. »Ich finde, es steht mir zu, das zu wissen.«
Ihre Mutter drehte den Stiel in den Händen und beobachtete die kreisende dunkle Flüssigkeit, dann roch sie kurz daran, bevor sie einen Schluck nahm. »Das denke ich auch«, stimmte sie ihrer Tochter schließlich zu. »Ich habe oft daran gedacht, mit dir darüber zu sprechen, aber ich habe es einfach nicht über mich gebracht.«
»Du hast lieber gelogen.«
»Nun, sagen wir, ich habe es vermieden, dir die Wahrheit zu sagen. Mit der Zeit wurde es immer leichter, dir etwas vorzumachen, und immer schwerer, einen Weg zu finden. – Nun, letztendlich habe ich beschlossen, es wäre das Beste, es dabei zu belassen.«
»Ich muss ihn kennenlernen.«
Maribelle war schockiert. »Oh, nein! Das ist doch alles längst Vergangenheit, und ich möchte ihn oder seine Frau nicht damit behelligen.«
»Seine Frau?«, wiederholte Kacey.
»Ja. Seine Frau. Seit … ich glaube ungefähr fünfundvierzig Jahren«, sagte sie mit mehr als nur einer Spur von Bitterkeit.
»Ich werde herausfinden, wer er ist, egal, ob du es mir sagst oder nicht.«
»Na prima!« Maribelle war verärgert, aber sie sah, dass Kacey es todernst meinte. Sie holte tief Luft und stieß hervor: »Sein Name ist Gerald Johnson.« Dann blickte sie erwartungsvoll auf, als würde der Name Kacey etwas sagen. Als ihre Tochter nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Er ist ein renommierter Herzchirurg, der an der Entwicklung eines speziellen Stents mitgearbeitet hat, und nein, er weiß nichts von dir. Ich war der Ansicht, es wäre besser, ihm nichts zu sagen. Kurze Zeit später ist er mit seiner Familie nach Missoula gezogen.« Sie zuckte die Achseln. »Das ist allgemein bekannt, du kannst es binnen Sekunden im Internet herausfinden; ich gebe hier also keine großen Geheimnisse preis, aber bitte belästige ihn nicht. Er würde das gar nicht schätzen, genauso wenig wie Noreen und ihre Brut.«
»Seine Frau heißt also Noreen, und mit ›Brut‹ sind seine Kinder gemeint?«
Halbbrüder und -schwestern. Das fehlende Puzzleteil. Als Einzelkind hatte sie immer von einer großen Familie geträumt mit genügend Geschwistern zum Spielen – Basketball, Brettspiele oder Karten, vielleicht auch Videospiele … »Wie viele hat er denn?«
»Kinder?« Maribelle blickte auf und sah ihrer Tochter in die Augen. »Fünf, soweit ich weiß. Nein, einmal haben sie Zwillinge bekommen, also sechs. Oder waren es sieben? Ich kann mich nicht mehr erinnern.« Ihre Augen schweiften durchs Wohnzimmer und blieben am Sofatisch hängen, auf dem noch immer die Fotos lagen, die Kacey mitgebracht hatte. »Nun, es könnten auch mehr sein.«
Das war die Untertreibung des Jahres. »Vermutlich sogar viel mehr«, murmelte Kacey.
Wer war dieser Kerl? Ein Arzt, der keinen Wert auf Verhütung legte, niemals ein Kondom benutzte und eine ganze Reihe von Liebschaften hatte? Die Frauen auf den Fotos waren alle ungefähr in ihrem Alter, plus/minus ein paar Jahre. Der Casanova von Montana? Nein, da stimmte etwas nicht.
Vielleicht wurden die Frauen deswegen umgebracht?
»Ich muss ihn kennenlernen«, wiederholte sie.
»Nein!« Maribelle glitt das Glas aus den Händen. Es zerschellte auf dem Granittresen, Rotwein spritzte auf ihren goldenen Pullover, Scherben fielen klirrend zu Boden. »O sieh nur, was du angerichtet hast! Der Pullover hat ein Vermögen gekostet!«, jammerte sie und eilte ins Schlafzimmer. Automatisch fing Kacey an, das Chaos zu beseitigen.
Ein Chaos, das weit tiefer reichte als verschütteter Wein und zerbrochenes Kristall.