Prolog

Mal gewinnt man, mal verliert man.

Heute Abend, so dachte Shelly Bonaventure, war sie die Verliererin gewesen, das lag mehr als klar auf der Hand.

Frustriert schloss sie die Tür zu ihrem Apartment auf, warf ihre Handtasche auf den Tisch in der Diele und verspürte auf einmal einen brennenden Schmerz in der Bauchgegend.

Sie schnappte nach Luft und krümmte sich zusammen; ihre Eingeweide schienen in Flammen zu stehen. Ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel.

»Auuu«, stöhnte sie. Der Schmerz ließ gerade ein wenig nach, so dass sie sich zur Couch schleppen konnte. »Was ist denn?« Mit einem flauen Gefühl im Magen atmete sie ein paarmal tief ein und aus. War das Brennen so stark, dass sie den Notruf wählen sollte, oder sollte sie selbst in die Notaufnahme fahren?

»Jetzt sei nicht albern«, rief sie sich flüsternd zur Ordnung, doch das ungute Gefühl, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte, wollte nicht weichen. »Reiß dich zusammen«, sagte sie zu sich selbst, lauter nun, und streifte ihre High-Heels ab. Entweder hatte sie zu viel getrunken, etwas Falsches gegessen, oder ihre Periode kam ein paar Tage zu früh.

Nein, das konnte nicht sein. Nicht mit solchen Schmerzen!

Für eine Sekunde schloss sie die Augen, Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Oberlippe. Sie würde ein Magenmittel nehmen, wenn sie denn eins im Haus hätte, und wenn nicht, würde sie eben bis zum Morgen leiden. Noch während sie sich den Schweiß abwischte, schaute sie sich suchend nach ihrer Katze um. »Lana?«

Keine Antwort.

Merkwürdig. Für gewöhnlich kam die mehrfarbige Glückskatze aus jedwedem Schlupfwinkel hervorgeschossen, sobald sie hörte, dass das Schloss der Wohnungstür aufschnappte.

Hm.

»Lana? Komm her, Kätzchen …« Sie horchte, doch noch immer kein Maunzen, kein Tapsen, nichts. Oh, na schön, Lana trieb mal wieder ihre Spielchen mit ihr. Dennoch …

Mühsam schleppte sich Shelly zum Badezimmer, wobei sie fast über den Teppich gestolpert wäre, den sie vor … war das wirklich schon so lange her? … sieben Jahren gekauft hatte. »Nun zeig dich schon, komm heraus, wo immer du stecken magst!«, rief sie lockend. »Mommy ist zu Hause!«

Knack!

Das Geräusch kam von draußen. Erschrocken fuhr Shelly herum. War da ein Schatten auf der Veranda?

Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie vorsichtig an die Glasschiebetür trat und in die Dunkelheit hinausspähte. Der Schatten, so erkannte sie jetzt, war nur ein Palmwedel, der vor der Verandabeleuchtung im Wind tanzte.

»Alberne Gans! Nun hör schon auf mit deiner Paranoia!«

Aber was hatte dann den Lärm verursacht …?

Die Katze? Wo steckte sie bloß?

Es ist alles in Ordnung, redete Shelly sich ein, doch sie blieb angespannt. Vielleicht hatte sie den Alten im Apartment darunter gehört … Bob oder wie immer er hieß. Der ließ doch ständig etwas fallen.

Eine weitere Welle der Übelkeit durchflutete sie, ihr Unterleib verkrampfte sich. Sie biss die Zähne zusammen und wartete darauf, dass der Schmerz nachließ. Was war denn nur los mit ihr?

An die Rückenlehne der Couch geklammert, atmete sie tief durch, dann schweiften ihre Augen durchs Wohnzimmer. Seit fast zehn Jahren lebte sie nun schon in diesem Zwei-Zimmer-Apartment, sah, wie die Jahre verstrichen, die Falten in ihrem Gesicht tiefer wurden und ihr die unzähligen Rollen bei Film und Fernsehen, die sie so gern an Land gezogen hätte, durch die Finger rannen.

Seit ihrer Scheidung von Donovan …

Nein, mit diesem uralten Stück Geschichte würde sie sich nicht näher befassen. Nicht heute Abend. Eine positive Einstellung – das war es, was sie brauchte. Und vielleicht etwas, um ihren Magen zu beruhigen. Sie hatte einfach ein bisschen zu viel getrunken im Lizards, der Bar, die keine zwei Blocks von ihrer Wohnung entfernt lag und die ihren Namen wohl eher den leicht anrüchigen Gästen zu verdanken hatte als einer Eidechse.

Heute Abend war sie losgezogen in der Hoffnung, ihre Kontakte zu den großen und kleineren Filmstudios aufzufrischen, die es hier in L.A. zuhauf gab. Diese Sache brannte ihr ziemlich auf der Seele, weshalb sie es ganz schön übertrieben hatte.

Doch was konnte sie schon dafür, dass der Typ, den sie in der Bar kennengelernt hatte, von ihrem kurz bevorstehenden fünfunddreißigsten Geburtstag wusste und ihr mehrere Mai Tais spendierte? Er hatte interessiert gewirkt, wirklich interessiert, und er sah gut aus, sexy. Seine Stimme war so sonor, dass sie ihr einen Schauder das Rückgrat hinabjagte. Er war ihr vage bekannt vorgekommen, und als er ihren Handrücken berührte, hatte sie eine prickelnde Vorfreude verspürt. Seine stahlblauen Augen, die zu einem tiefen Mitternachtsblau wechseln konnten, blickten durchdringend; seine Lippen waren dünn wie Rasiermesser, und der leichte Bartschatten auf seinem Kinn unterstrich noch seine Männlichkeit. Wie er das Gesicht zu einem aufreizend schiefen Lächeln verzog, wenn er mit ihr sprach! Ja, der Kerl hatte die Böser-Junge-Masche absolut drauf! Sie hatte ihn auf sein mörderisches Lächeln angesprochen, was ihn amüsierte. Das hätte noch nie jemand zu ihm gesagt, behauptete er und stieß ein leises, kehliges Lachen aus.

Sie hatte sich vorgestellt, wie er ohne Hemd aussehen würde, wie es sich anfühlen mochte, seine Lippen heiß und drängend auf ihren zu spüren, wie sie mit ihm ins Bett taumelte, während er sie in seinen starken Armen hielt.

Ja, aber du hast die Bar ohne ihn verlassen, nicht wahr? Und das nur, um hierher zurückzukehren. Allein.

Natürlich war sie gegangen, schließlich kannte sie ihn gar nicht. Vermutlich war es gut gewesen, rechtzeitig abzuhauen, vor allem in Anbetracht dessen, dass sie sich sowieso schon krank fühlte und morgen früh um fünf vom telefonischen Weckdienst geweckt werden würde – ein Anruf, den sie auf keinen Fall verpassen durfte.

Ihre Agentin hatte um sieben Ecken einen Casting-Termin für sie organisiert – eine Rolle in einer Serie, die im Herbst auf Fox ausgestrahlt werden sollte. Sie würde gleich morgen früh vorsprechen müssen, und sie hatte vor, so gut dabei auszusehen wie eben möglich. Sie würde sich selbst übertreffen. Wenn ihr diese Rolle durch die Lappen ging, wäre es vorbei … nun, es sei denn, sie würde einen Platz bei Dancing with the Stars oder in einer anderen Realityshow ergattern können, die ihre vor sich hin dümpelnde Karriere wieder in Schwung bringen könnte.

Wenn sie sich nur nicht so elend fühlen würde! Meine Güte, schwitzte sie etwa? Das war gar nicht gut.

Diese Fernsehserie könnte ihre letzte Chance sein, wenn man Hollywoods Haltung zum Thema Älterwerden bedachte. Was überaus deprimierend war.

Shelly Bonaventure musste es schaffen, unbedingt. Sie könnte nicht einfach mit eingekniffenem Schwanz in das Hinterwäldlerstädtchen in Montana zurückkehren, dem sie einst den Rücken gekehrt hatte, um hier in L.A. Karriere zu machen. War sie nicht die Ballkönigin der Sycamore Highschool gewesen und in ihrem Abschlussjahr zur verheißungsvollsten Schülerin gewählt worden? Hatte sie nicht alles versucht, um so schnell wie möglich den Kleinstadtstaub abzuschütteln? Und tatsächlich – am Anfang hatte ihr Stern hell geleuchtet, als sie mit ein paar vielversprechenden Nebenrollen zum Firmament aufgestiegen war. Ein Part in einer Seifenoper, noch bevor sie zwanzig geworden war! Und hatte sie etwa nicht mit den beiden Toms gearbeitet – Cruise und Hanks – und mit Gwyneth und Meryl und … sogar mit Brad Pitt? Gut, es waren kleine Rollen gewesen, aber immerhin! Außerdem hatte sie Julia Roberts gedoubelt, und dann war da noch diese Vampirserie auf Kabel gewesen, Blutige Küsse. Sie hatte einiges vorzuweisen, aber diese Momente des Ruhms lagen eine Weile zurück, und in letzter Zeit hatte man sie bloß noch als Leiche bei Serien wie CSI eingesetzt oder in diversen Werbespots. Ab und an bekam sie auch eine Rolle als Synchronsprecherin in billigen Zeichentrickproduktionen.

Wenn sie nicht die Estelle in dieser neuen Serie spielen durfte, wäre es endgültig mit ihrer Karriere in Hollywoods B-Liga vorbei, und sie würde geradewegs in einer Realityshow für abgehalfterte C-Ligisten landen. Dieser Gedanke ließ sie erschaudern.

Hollywood, dachte sie verzagt, das Land der durchgesessenen Casting-Sofas und zerbrochenen Träume.

Eine weitere Schmerzwelle zwang sie beinahe in die Knie. »Allmächtiger«, keuchte sie und taumelte zusammengekrümmt in ihre kleine kombüsenartige Küche, wo sie die Kühlschranktür öffnete, die kärglichen Vorräte betrachtete und eine weitere Welle der Depression aufkommen fühlte. Sie stieß auf eine halb volle Flasche Pepto, schraubte den Verschluss auf und nahm einen Schluck von der zähen, quietschrosa Medizin, die man frei verkäuflich in jedem Drugstore bekam und die so gut gegen Magenbeschwerden half. Mit zittrigen Fingern drehte sie sie wieder zu und stellte sie zurück ins Kühlschrankfach. Dann klappte sie die Tür zu, ließ sich auf den Fußboden gleiten, streckte die Beine von sich und atmete tief ein und aus.

Wie war ihr übel!

Vielleicht sollte sie ihren Arzt anrufen oder ihm zumindest eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Langsam rappelte sie sich hoch und fragte sich wieder, wo um alles in der Welt Lana, ihre Katze, stecken mochte.

Nun, auf alle Fälle nicht auf dem Küchentresen, auf dessen verkratzter Arbeitsfläche sich seit drei Tagen benutzte Kaffeetassen, schmutzige Gläser und die Packungen von kalorienreduzierten Fertigmahlzeiten stapelten.

Ihr Magen schmerzte immer mehr. Shelly schleppte sich zum Badezimmer und sprach sich Mut zu. Sie würde sich von dieser Stadt nicht unterkriegen lassen.

Hatte sie etwa nicht unter Bulimie gelitten? Hatte sie etwa nicht alles für ihre Karriere getan? Und obwohl sie keine klassische Schönheit war, so hatte man ihr doch gesagt, ihr Gesicht zeige »Charakter« und »Intelligenz«. Ihr kastanienbraunes Haar leuchtete nach wie vor, und die Haut um ihre grünen Augen und die vollen Lippen wiesen noch nicht allzu viele verräterische Falten auf.

Sie quetschte sich in das winzige Badezimmer. Ein Blick in den Spiegel über dem Waschbecken ließ sie zusammenzucken. Aller Schönrederei zum Trotz fingen die Jahre an, ihre Spuren zu hinterlassen. Zwar benutzte sie tonnenweise Produkte, die ihren Teint makellos halten sollten, doch zu Botox hatte sie bislang nicht gegriffen. Noch nicht. Sie wollte da nichts ausschließen, wollte gar nichts ausschließen, was die Zeit ein wenig zurückdrehen konnte.

Doch die Zeit war ein unerbittliches Übel, dachte sie und hob ihre Kinnkonturen an, um zu sehen, ob sie wirklich gestrafft werden mussten.

Noch nicht, Gott sei Dank. Ihr fehlte das Geld für diese Art von »Schönheitstuning«, und sie hatte auch nicht vor, irgendein künstlich aufgebauschtes Enthüllungsbuch auf den Markt zu bringen, wie ihre Agentin vorgeschlagen hatte. Sie war noch keine fünfunddreißig – bis zu ihrem Geburtstag blieben ihr noch ein paar Tage –, was sollte sie bei einem solchen Seelenstriptease schreiben? Verglichen mit anderen Frauen ihres Alters war ihr Leben bisher ziemlich langweilig verlaufen.

Das Weiße in ihren Augen wirkte ein wenig blutunterlaufen. Shelly nahm die Kontaktlinsen heraus und holte das Fläschchen mit Augentropfen aus dem Medizinschrank. Mit zurückgelegtem Kopf hielt sie die Pipette nacheinander über beide Augen und blinzelte, um die Tropfen besser zu verteilen. Dann stellte sie das Fläschchen in den Schrank zurück. Als sie die Spiegeltür schloss, bemerkte sie aus dem Augenwinkel einen Schatten hinter sich.

Was war das?

Mit hämmerndem Herzen fuhr sie herum. Das winzige Badezimmer war leer, die Tür stand offen.

Ihre Haut kribbelte.

»Lana? Bist du es?«, rief sie und kehrte ins Wohnzimmer zurück. Ohne ihre Kontaktlinsen und wegen der Augentropfen, die noch immer einen trüben Film bildeten, nahm sie die Zimmerecken nur verschwommen wahr. »Kätzchen?« Wo hatte sich diese Glückskatze versteckt, die sie nach ihrer Lieblingsfilmikone Lana Turner benannt hatte? »Komm raus, zeig dich, wo immer du dich versteckt hast«, säuselte sie, doch zweifelsohne lauerte die Katze wieder irgendwo an einem dunklen Fleckchen. Mehr als einmal war Lana hinter den gerahmten Fotos auf dem Bücherregal hervorgeschossen, hatte sämtliche Bilder umgeworfen, dabei die Gläser zerschmettert und sich zu doppelter Größe aufgeplustert, um Shelly zu Tode zu erschrecken. Das war ohnehin Lanas Lieblingszeitvertreib. »Hierher, Kätzchen, Kätzchen …«

Doch wie bei ihrem unabhängigen Naturell nicht anders zu erwarten, tauchte die Katze nicht auf.

Barfuß stand Shelly im Wohnzimmer. Irgendetwas sagte ihr, dass die Katze nicht da war. Obwohl das keinen Sinn machte.

Als sie die Wohnung verlassen hatte, hatte Lana dösend auf der Rückenlehne der Couch gelegen und halbherzig mit dem Schwanz gezuckt.

Warum also fühlten sich die Räume so leer an? Draußen trieb der Wind trockene Blätter über die Veranda, ein gespenstischer Tanz aus braunen und rostroten Farbtupfern.

Du lieber Himmel, was stimmte bloß nicht mit ihr? Daran war doch nichts Unheimliches! Trotzdem stellten sich ihr die Härchen auf den Armen auf.

»Hör endlich auf damit!«, befahl sie sich noch einmal, als sie von einem weiteren Krampf überwältigt wurde. »Auuu!« Der Schmerz war diesmal noch heftiger. Sie wartete nicht länger, kroch zu ihrer Handtasche und tastete nach ihrem Handy.

Das dumme Ding steckte nicht in seinem üblichen Fach. »Komm schon, komm schon!« Das war wahrlich nicht der richtige Zeitpunkt, um nach dem Mobiltelefon zu suchen. Mit zitternden Fingern durchwühlte sie den Inhalt ihrer Handtasche, und als der Schmerz noch stärker wurde, kippte sie einfach alles auf den Fußboden. Schlüssel, Brillenetui, Brieftasche, Quittungen, Münzen, eine Schachtel Zigaretten, Tampontäschchen und eine kleine Dose Pfefferspray schlitterten über die Fliesen.

Kein Handy.

Wieso nicht?

In der Bar hatte sie es doch noch bei sich gehabt. Sie erinnerte sich, den Vibrationsmodus eingeschaltet zu haben, und … Hatte sie es etwa nicht in die Tasche zurückgesteckt, sondern im Lizards liegen gelassen, auf dem Tresen, dessen Oberfläche aussah wie eine Schlangenhaut?

»O Gott«, flüsterte sie und spürte, wie ihr der Schweiß auf der Stirn ausbrach. Ihr Puls raste. Sie hatte keinen Festnetzanschluss, was bedeutete, dass sie keine Hilfe holen konnte, es sei denn …

Plötzlich hörte sie ein lautes Scharren.

Was zum Teufel war das? Die Katze?

»Lana?«, fragte sie nervös, dann bemerkte sie, dass die Glasschiebetür offen stand, wenn auch nur einen winzigen Spalt.

Hatte sie sie etwa nicht geschlossen? – Doch, mit Sicherheit. Sie erinnerte sich genau daran. Vermutlich war das Schloss nicht eingeschnappt, weil Merlin, dieser dämliche Hauswart, immer noch nicht vorbeigekommen war, um es zu reparieren.

Ihre Kopfhaut kribbelte, und ihr Herz begann heftig zu pochen, auch wenn sie sich gut zuredete, dass sie gerade völlig übertrieben reagierte. Niemand hatte sich in ihrem Apartment versteckt, um ihr aufzulauern. Sei nicht paranoid. Du hast einfach zu oft für die Opferrolle in diesen billigen Horrorstreifen vorgesprochen.

Trotzdem …

Angestrengt lauschend und mit rasendem Herzen blickte sie zur Schlafzimmertür, die ebenfalls einen Spaltbreit offen stand. Sie hatte noch keine zwei Schritte in diese Richtung gemacht, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der Veranda wahrnahm, eine dunkle Gestalt am Schiebegriff der Glastür.

Ein Einbrecher!

Sie öffnete den Mund, um zu schreien, doch dann klappte sie ihn erstaunt wieder zu. Es war der Typ aus der Bar. In der Hand hielt er ihr Mobiltelefon. Erleichtert schlug sie die Hand vor die Brust und rief: »Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«, dann eilte sie zur Tür und schob sie auf. »Woher hast du mein –«

Doch sie kannte die Antwort, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte.

»Du hast es in der Bar liegen gelassen.«

»Und wie hast du mich gefunden?«

Wieder dieses schiefe, sexy Grinsen. »Deine Adresse ist unter ›Kontakte‹ gespeichert.«

»Oh. Richtig.«

Er war ein echter Hingucker mit seinem markanten Kinn, dem dunklen Haar und den Augen, in deren dunkelblauen Tiefen etwas Abgründiges schimmerte.

»Die meisten Leute kommen zur Wohnungstür und klopfen«, bemerkte sie ein wenig verwirrt.

Seine Lippen zuckten. »Vielleicht bin ich nicht wie die meisten Leute.«

Das konnte sie kaum abstreiten. Plötzlich durchfuhr sie ein weiterer schmerzhafter Krampf, so heftig, dass sie sich mit einer Hand auf den Glastisch stützen musste. »Oh … oh …«, stammelte sie und zog scharf die Luft ein. Wieder brach ihr der Schweiß aus, diesmal fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe.

»Geht es dir gut?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist besser, du gehst. Es tut mir leid – au!« Sie keuchte. Ihre Knie gaben nach. Er fing sie auf, als sie zu Boden sinken wollte, griff mit seinen kräftigen Armen nach ihr.

»Du brauchst Hilfe.«

Bevor sie widersprechen konnte, hob er sie hoch und trug sie zielsicher ins Schlafzimmer. »He, warte …«

»Leg dich einfach hin«, befahl er ihr mit ruhiger Stimme.

Ihr blieb keine Wahl. Das Schlafzimmer drehte sich, die Nachttischlampe wirbelte vor ihren Augen. Sie fühlte sich schrecklich elend …

Augenblick mal … Erneut stieg Panik in ihr auf, als er sie auf die zerwühlten Laken legte. Die Matratze gab unter ihrem Gewicht nach. Kurz dachte sie an Flucht. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht, das wusste sie trotz ihrer schier unerträglichen Schmerzen. Ihre Begegnung in der Bar, ihre Übelkeit, sein überraschendes Aufkreuzen auf ihrer Veranda …

Jetzt verließ er das Zimmer. Mein Gott, stellte er etwa die Dusche an? Sie hörte Wasser rauschen, die alten Rohre quietschten, als der Hahn wieder zugedreht wurde. Was sollte das alles?

Doch noch bevor sie sich rühren konnte, war er wieder zurück und reichte ihr das Handy. »Ich hab schon den Notruf gewählt«, sagte er. Sie wollte die Hand ausstrecken, doch es gelang ihr nicht. Ihre Finger waren völlig taub und ließen sich ebenso wenig bewegen wie ihr Arm.

Sie musste um Himmels willen hier wegkommen … Die ganze Sache war absolut faul.

Er legte das Handy dicht neben ihr Gesicht auf die Patchworkdecke, die ihre Großmutter für sie genäht hatte, als sie zehn gewesen war …

Shelly blickte zu ihm auf und sah wieder sein Grinsen, doch diesmal war sie sich sicher, dass keine Fröhlichkeit darin lag, nur kalte, tödliche Zufriedenheit. Sein zuvor so attraktives Gesicht hatte dämonische Züge angenommen.

»Was hast du getan?«, wollte sie fragen, doch die Worte kamen nur undeutlich aus ihrem Mund.

»Träum was Schönes.« Er wandte sich zum Gehen. In der Schlafzimmertür blieb er stehen, und sie spürte ein Frösteln, eisig wie der Tod.

»Hier ist die Neun-eins-eins«, meldete sich eine Beamtin. »Bitte nennen Sie uns Ihren Namen und was für einen Notfall –«

»Hilfe!«, stieß Shelly verzweifelt hervor. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern; ihre Lippen wollten sich nicht bewegen, ihre Zunge war dick geschwollen und gehorchte nicht.

»Entschuldigung?«

»Ich brauche Hilfe«, versuchte sie es erneut, lauter jetzt, doch ihre Worte klangen unverständlich, sogar in ihren eigenen Ohren.

»Es tut mir leid. Ich kann Sie nicht hören. Bitte sprechen Sie lauter. Was für einen Notfall möchten Sie melden?«

»Helfen Sie mir, bitte! Schicken Sie jemanden her!«, versuchte Shelly voller Panik zu rufen, doch der Raum verschwamm vor ihren Augen, kein Laut drang über ihre Lippen. Es gelang ihr noch, den Arm in Richtung Handy zu schieben, doch es rutschte vom Bett auf den Fußboden.

Ihr Kopf fiel zur Seite, ihr Blick auf die Tür. Dort stand er und starrte sie an. Das »mörderische« Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden und hatte einem mordlüsternen Ausdruck Platz gemacht; in seinen Augen lag purer, unverstellter Hass.

Warum? Warum ich?

Seine Augen, die sie noch vor wenigen Stunden für so anziehend gehalten hatte, glitzerten böse.

In diesem Moment wusste sie, dass ihre Begegnung in der Bar geplant gewesen war. Ihr Tod war kein Zufall; aus irgendeinem unerklärlichen Grund hatte er es auf sie abgesehen.

Lieber Gott, bitte hilf mir, flehte sie. Sie würde sterben müssen, das wurde ihr jetzt schlagartig klar. Eine Träne rollte aus ihrem Augenwinkel. Im Türrahmen lehnte der mysteriöse Fremde und verfolgte mit seinem verstörenden Grinsen, wie sie einen mühsamen, flachen Atemzug tat.

Aus dem Handy auf dem Fußboden quäkte die Stimme der Vermittlungsbeamtin, doch sie schien Millionen von Meilen entfernt zu sein. Shelly beobachtete, wie er zu ihr trat und ein Tablettenröhrchen auf ihren Nachttisch stellte. Dann blickte er ihr fest in die Augen, teilte ihr ruhig mit, dass er sie umbringen würde, und fing an, sie bedächtig und voller Methode zu entkleiden …