Kapitel 19
Da konnte er noch so schlau sein, dachte er, als er die baufällige alte Treppe hinunterstürmte, manchmal schien das Schicksal oder Gott oder wer auch immer einfach gegen ihn zu sein. Staubiger Kellergeruch stieg ihm in die Nase. Er öffnete die Tür zu seiner unterirdischen Geheimkammer, schloss automatisch hinter sich ab und versuchte, sich zu beruhigen.
»Eins.« Atme. »Zwei.« Atme noch einmal tief durch.
Aufgewühlt zählte er bis zehn, dann langsam bis zwanzig, doch seine Fäuste blieben geballt, seine Schultern angespannt, und noch immer sah er rot vor Zorn – ein Zorn, der tief in seinem Innern loderte. Er öffnete eine Schreibtischschublade und betrachtete den Stoß von Unterlagen, die er zusammengetragen hatte und die bald vernichtet werden sollten. Die Seiten fingen schon an zu vergilben, so viel Zeit hatte er sich für seine Recherchen genommen. Der alte Computer, auf dem er seine Arbeit begonnen hatte, war längst entsorgt; die Daten auf den Disketten, die man damals verwendete, waren beschädigt und nicht mehr abrufbar.
Alles, was blieb, waren diese Ausdrucke, die er so sorgfältig aufbewahrt hatte. Und genau die würde er verbrennen, Seite für Seite, sobald sämtliche der »Unwissenden« tot waren.
Natürlich bestand immer die Möglichkeit, dass eine von ihnen über die Wahrheit stolperte – ein Gedanke, der ihm schier den Magen umdrehte. Das konnte, wollte, durfte er nicht zulassen, dachte er, und neuer Zorn flackerte in ihm auf.
Am liebsten hätte er nach etwas oder jemandem getreten, doch stattdessen ging er zu der Spezialstange für seine Klimmzug- und Reckübungen, die er selbst angebracht hatte, streifte seine Kleidung ab und schnallte sich die Gravity-Boots an. Er begann mit dem Pull-up-Training und spürte, wie sich sein Rückgrat entspannte, während seine Muskeln Höchstleistungen vollbrachten.
Er brauchte das Training, um Dampf abzulassen, deshalb biss er die Zähne zusammen und machte weiter, obwohl ihm bereits der Schweiß über die Haut rann.
Er hatte seine Rache so sorgfältig geplant, hatte sich seit einer halben Ewigkeit mit den »Unwissenden« beschäftigt. Die Fotos, die er jeweils kurz vor ihrem Tod von ihnen gemacht hatte, bewiesen, wie geduldig und vorsichtig er vorgegangen war. Doch von Zeit zu Zeit blieb einer seiner am besten durchdachten Pläne unausgeführt.
Genau das war nun der Fall bei Elle Alexander. Wie um alles in der Welt hätte er vorhersehen können, dass ihr Rechtsverdreher von Ehemann seine Zelte in Idaho abbrechen würde, um bei einer hiesigen Anwaltskanzlei anzufangen? Ausgerechnet in Grizzly Falls? Dieser Schritt verkomplizierte die Dinge enorm; die dämliche Elle würde alles zunichtemachen. Sie war bereits in der Poliklinik bei Acacia Lambert gewesen, was nichts Gutes verhieß.
Aber du kannst das in Ordnung bringen. Das weißt du. Denk nach!
Seine Muskeln spannten sich an, als er sich kraftvoll nach oben zog, die Position hielt und sich dann langsam wieder herabließ. Ein paar Sekunden blieb er kopfüber an der Stange hängen, dann wiederholte er die Übung.
Er durfte jetzt nichts vermasseln.
Du hast doch noch Zeit. Konzentrier dich einfach!
Erneut zog er sich nach oben.
Diesmal protestierten seine Bauchmuskeln, trotzdem zwang er sich zu einer weiteren Einheit und schnallte seine Gravity-Boots erst dann ab, als sein Bauch und Rücken in Flammen zu stehen schienen und sich der Schweiß in einer Pfütze auf dem Fußboden sammelte.
Gut. Das tat gut.
Er holte tief Luft und kam geschmeidig auf die Füße. Er war ein gelenkiger, kräftiger Mann. Schon auf der Highschool hatte er sich als Wrestler einen Namen gemacht und war später auf dem College Mitglied des Wettkampfteams gewesen. Er war auf Berge geklettert und hatte Höhlen erforscht, war Sporttaucher gewesen und Ski gefahren. Während seiner Zeit bei den Marines hatte er unter Extrembedingungen in einem Wüstenlager kampiert.
Nie war er vor einer Herausforderung zurückgeschreckt, nicht mal vor der größten seines Lebens.
Und genau aus diesem Grund durfte er nicht zulassen, dass ihm jetzt etwas in die Quere kam.
Durfte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen, auch nicht von dem nagenden Gefühl, dass die Ärztin etwas ahnte, vielleicht Bescheid wusste.
»Hör auf damit!«, befahl er sich laut. Seine Sorge würde grundlos sein.
Er hinkte bereits seinem Zeitplan hinterher, und auch wenn er sich geschworen hatte, nichts zu überstürzen, um keinerlei Verdacht zu erregen, spürte er doch, dass er sich beeilen musste. Die Zeit wurde knapp.
Immerhin war ihm klargeworden, welche der »Unwissenden« als Nächste dran war.
Endlich hatte er wieder einen freien Kopf. Er hatte immer einen Plan B in der Hinterhand, bei dem das Risiko, dass er aufflog, ein wenig höher war, aber unter diesen Umständen blieb ihm keine andere Wahl.
Er würde sich um Elle kümmern müssen, aber er müsste vorsichtig sein, wie immer. Wenn er sich jetzt auch nur einen Fehler erlaubte, würde er auffliegen, noch bevor er seine Mission beendet hätte, bevor er frei wäre. Er durfte nicht so überheblich sein, die Cops für dumm zu erklären; bislang hatte ihm in die Hände gespielt, dass sie in unterschiedlichen Zuständigkeitsbereichen ermittelt hatten. Die Schauspielerin war die Erste gewesen, die nationale Aufmerksamkeit erregt hatte; Shelly Bonaventures viel zu früher Tod war gründlicher untersucht worden, dennoch war er wegen ihrer Lebensweise als Selbstmord eingestuft worden.
Er hatte bisher Glück gehabt, das wusste er.
Doch das würde sich jetzt womöglich ändern.
Jetzt müsste er hier in der Gegend mehrfach zuschlagen, und es war nicht ausgeschlossen, dass die Polizei zwei und zwei zusammenzählte.
Zwei und zwei, dachte er grinsend, ergab bei ihm sehr viel mehr als vier. Er blickte auf die Landkarte mit den umgedrehten Fotos, in denen schwarze Reißzwecken steckten, dann auf den Bilderstapel in seiner Schublade – Beweis dafür, dass diese »Unwissenden« eliminiert waren – und spürte, wie Erregung in ihm aufstieg. Bald würde er ein weiteres Foto hinzufügen können.
Langsam, aber sicher näherte er sich seinem endgültigen Ziel.
Er nahm sich ein sauberes Handtuch von dem akkurat gefalteten Stapel auf dem Regal, auf dem er auch seine Gravity-Boots verwahrte, wischte sich den Schweiß vom Körper und zog anschließend einen flauschigen Bademantel über. Jetzt war er ruhiger, hatte sich wieder ganz unter Kontrolle. Er setzte sich an den Schreibtisch und fuhr seinen Computer hoch. Auf dem Bildschirm erschienen die Informationen, die er über Elle zusammengetragen hatte, daneben ein Foto. Er würde sie bespitzeln müssen, aber das dürfte kein Problem sein. Sie war eine gedankenlose, zerstreute Frau, die zu beseitigen recht einfach sein dürfte.
Er würde ihr oberste Priorität einräumen.
Mit ein bisschen Geduld, da war er sich sicher, würde sich die perfekte Gelegenheit schon sehr bald ergeben.
Er wäre bereit.
All ihre Sorgen bezüglich der Auswahl des richtigen Hundes waren augenblicklich wie weggeblasen, als Kacey Bonzi am Samstag aus dem Tierheim abholte und ihn mit zu sich nach Hause nahm. Der Mischling, der von Natur aus ruhig war, schnüffelte die Umgebung ums Haus ab, erleichterte sich gleich an einem verkümmerten Rosenstock in der Nähe der Garage und akzeptierte das Hundebett, das sie ihm zuwies. Nun folgte er ihr mit klackernden Krallen auf Schritt und Tritt durchs Haus, die Ohren aufgestellt, die Augen glänzend vor Neugier.
Schon einen Tag später, am Sonntag, fand sie heraus, dass es ihm genügte, zweimal am Tag eine halbe Meile ausgeführt zu werden; den Rest des Tages verschlief er.
»Ein feiner Wachhund bist du«, neckte sie ihn, als sie ihr Abendessen zubereitete. Zur Antwort gähnte er ausgiebig. Sie dachte daran, Trace O’Halleran anzurufen und sich nach Eli und Sarge zu erkundigen, doch sie befürchtete, das würde zu sehr nach einer Ausrede klingen.
Zu ihrer Überraschung hatte sie den Freitagabend in Dinos Pizzeria genossen. Seitdem dachte sie unablässig an den Rancher und seinen Sohn – nein, um ehrlich zu sein: Sie träumte sogar von ihm. Ein paarmal schon hatte sie den Hörer abgehoben, um seine Nummer zu wählen, doch dann hatte sie es sich anders überlegt. Trotzdem hatte sie ihn nicht aus ihrem Kopf verbannen können. Zumindest nicht so leicht. Außerdem gab es da jede Menge Fragen, die sie ihm stellen wollte, über ihn und seinen Sohn, doch vor allem über Elis verschollene Mutter. Obwohl es nicht danach aussah, dass Trace derzeit eine Freundin hatte, war er noch vor kurzem mit Jocelyn Wallis liiert gewesen, auch wenn er behauptete, es habe sich um nichts Ernstes gehandelt.
Wie nah hatten sich die beiden wirklich gestanden?, fragte sie sich jetzt.
»Das geht dich nichts an«, sagte sie laut, doch das hielt sie nicht davon ab, weiter an ihn zu denken. Seit ihrer Scheidung war sie mit niemandem mehr ausgegangen, hatte nach JC den Männern abgeschworen, zumindest für eine Weile. Trace O’Halleran, das spürte sie, könnte das ändern.
Binnen einer Sekunde.
Elle trat aufs Gas. Ihr Minivan schoss mit gerade noch erlaubter Höchstgeschwindigkeit über die dunkle Straße, aber sie machte sich keine Sorgen, auch wenn der Abend sehr früh hereingebrochen war. Sie war es gewohnt, »halsbrecherische« Bergstraßen zu fahren, seit sie sechzehn war; für sie war das keine große Sache. Ein schmaler Halbmond stand hoch am tintenblauen Himmel, Eiskristalle glitzerten im Licht ihrer Scheinwerfer auf dem Asphalt.
Durch die Windschutzscheibe blickte sie auf eine wahre Winterwunderlandschaft. Die Straße zog sich wie ein schwarzes Band durch die weiten schneebedeckten Felder, die sich immer wieder mit dichten Espen- und Kiefernwäldchen abwechselten. Die Äste der Bäume bogen sich unter der glitzernden Schneelast.
Ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett zeigte ihr, dass es schon fast halb elf war; sie war gut zwei Stunden später dran als geplant. Sie war ziemlich lange im Einkaufszentrum von Spokane geblieben, und dann hatte sie, um der guten alten Zeiten willen, auch noch einen Abstecher nach Coeur d’Alene gemacht, wo sie ein schnelles Abendessen zu sich genommen hatte. Was ein großer Fehler gewesen war. Zweifelsohne machte Tom sich langsam Sorgen. Sie würde ihn anrufen müssen.
Elle fischte ihr Handy aus dem Handschuhfach, doch noch bevor sie auf die Kurzwahltaste drücken konnte, kündigte sich eine Hustenattacke an. Schnell warf sie das Telefon auf den Beifahrersitz, wickelte eine Hustenpastille mit Kirschgeschmack aus und lutschte eifrig. Sie fühlte sich ein bisschen fiebrig, aber das würde sie vor Tom und den Kindern nicht zugeben.
Die Dinge mussten erledigt werden, und wenn sie es nicht tat – wer dann?
Zwischen Thanksgiving und Weihnachten hatte sie immer viel zu tun, und dieses Jahr, mit einem neuen Haus in einer neuen Umgebung, war der Druck besonders groß. Sie hatte vor, ihr Haus im Aspen Circle mit dem prächtigsten Weihnachtsschmuck der ganzen Stichstraße zu versehen.
Plötzlich flammten Scheinwerfer hinter ihr auf. Geblendet kniff sie die Augen zusammen. Ab und zu war ihr auf der um diese Zeit verwaisten Strecke ein Fahrzeug entgegengekommen, und auch im Rückspiegel hatte sie gelegentlich Scheinwerferlicht bemerkt, doch meist in großer Entfernung. Nun, zumindest war sie nicht ganz allein auf diesem einsamen Highway-Abschnitt.
Sie wünschte sich, sie wäre schon zurück bei Tom und den Kindern. Er hatte angeboten, auf die beiden aufzupassen, damit sie ihren überstürzten Ausflug nach Spokane machen konnte, um Weihnachtseinkäufe zu tätigen. Im Einkaufszentrum hatte sie einen herzallerliebsten Neuzugang für ihre Weinreben-Rentierherde gefunden: einen Rudolph mit rot blinkender Nase, der neben der kleinen Tanne im Vorgarten stehen sollte.
Er würde Rudolph I. mit seiner verblassenden Nase bei weitem übertreffen, und er war im Angebot gewesen: zwanzig Prozent Nachlass mit dem Coupon, den sie aus dem Lokalblatt ausgeschnitten hatte. Sie konnte es gar nicht abwarten, ihn zusammen mit dem Rest der Herde auf dem schneebedeckten Rasen aufzustellen. Hoffentlich würde ihr diesmal niemand einen Streich spielen! Im letzten Jahr hatten es einige Jugendliche aus der Nachbarschaft für witzig gehalten, Rudolph I. eine Rentierdame besteigen zu lassen.
Elle hatte das gar nicht komisch gefunden. Was für eine Geschmacklosigkeit! Ein paar dieser jungen Ganoven waren echte Schwachköpfe gewesen. Nun, vielleicht hatte der Umzug nach Grizzly Falls ja doch etwas Gutes.
Sie hustete wieder und wünschte sich, diese Antibiotika würden endlich Wirkung zeigen. Okay, sie nahm sie erst seit gestern, aber sie kämpfte jetzt schon so lange gegen diesen Mist an. Dennoch hätte sie kein Bazillus von der Tiefpreisschlacht an diesem Wochenende fernhalten können. Den Schwarzen Freitag und den Schwarzen Samstag hatte sie verpasst, aber am Schwarzen Sonntag – oder wie immer man diesen Wahnsinns-Shopping-Tag nennen mochte – hatte sie ordentlich zugeschlagen.
Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, schloss sie ihr Smartphone an und wählte einen speziellen Weihnachtsmix, den sie selbst zusammengestellt hatte. Die Musik ertönte, und binnen Sekunden sang sie zusammen mit Faith Hill, während ihr Dodge Meile für Meile zurücklegte.
Ein Problem – abgesehen von der scheußlichen Grippe oder vielleicht sogar Lungenentzündung – war, dass sie sich in dieser Gegend nicht so gut auskannte. Wie sie schon der Ärztin erzählt hatte, war sie ein waschechtes Idaho-Girl und nie aus ihrem Bundesland hinausgekommen – mit Ausnahme des einen Sommers, in dem sie nach L.A. gefahren war und sich das Haar hatte blond färben lassen. Sie hatte davon geträumt, im Bikini Rollschuh zu laufen und sich eine Wohnung in Strandnähe zu suchen, vielleicht in Venice oder Malibu oder sonst einem Ort, der nur exotisch genug klang.
Was für ein Unsinn!
Es war viel zu heiß gewesen. Zu überlaufen. Und es hatte viel zu viele andere schöne Blondinen gegeben.
Vier Monate später war sie reumütig nach Boise zurückgekehrt und hatte beschlossen, dass es gar nicht so schlecht war, eine »Hinterwäldlerin« zu sein.
Tom hatte sie trotzdem kennengelernt. Die Liebe ihres Lebens. Zumindest war er das am Anfang ihrer Ehe gewesen. Nach über einem Dutzend gemeinsamer Jahre und zwei Kindern war ein Großteil der einstigen Leidenschaft verpufft. In letzter Zeit hatte Tom ziemlich distanziert gewirkt.
Der Gedanke machte ihr zu schaffen. In ihre Grübeleien vertieft, fuhr sie an einem Straßenschild vorbei, das sie gerade noch aus dem Augenwinkel erkannte. »Verdammter Mist!«
Sie hatte die Abzweigung verpasst. An der nächsten Haltebucht bremste sie und wendete. Manche der Straßen hier waren so schlecht beschildert! Noch dazu kam, dass es stockdunkel war, keine einzige Straßenlaterne weit und breit! Kurz hinter der Abzweigung nach Grizzly Falls stellte sie fest, dass das Fahrzeug, das ihr in der Ferne gefolgt war, näher gekommen war. Es war ebenfalls in Richtung Stadt auf die zweispurige Straße abgebogen, die am Flussufer entlangführte.
Wieder blickte Elle aufs Armaturenbrett. Vor elf wäre sie nicht zu Hause. Tom würde sich schreckliche Sorgen machen. Sie sollte wirklich anrufen.
Im Rückspiegel sah sie, dass der Wagen hinter ihr zu ihr aufschloss, das grelle Scheinwerferlicht strahlte ihr direkt in die Augen. »Blödmann«, brummte sie, dann stellte sie ihr Bluetooth an, doch natürlich funktionierte es nicht.
Super.
Sie hatte vergessen, das Ding aufzuladen. Auch das war ein Problem. Sie musste einfach an zu vieles denken, den Ansprüchen der Familie gerecht werden, den Haushalt machen, für die Schule zur Verfügung stehen und nicht zuletzt gegen dieses verdammte Grippevirus ankämpfen.
Elle nahm ihr Handy vom Beifahrersitz und drückte die Kurzwahltaste für zu Hause. Tom meldete sich nach dem dritten Klingeln.
»He«, sagte er. Offenbar hatte er zuvor auf die Anruferkennung geschaut. Im Hintergrund waren die gedämpften Geräusche des Fernsehers zu vernehmen. »Wo bist du?«
»Das wüsste ich selbst gerne. Auf der richtigen Straße, glaube ich. Hoffe ich.« Auf dem Schild hatte doch Grizzly Falls gestanden, oder? Der andere Wagen war jetzt direkt hinter ihr. »Mist, da blendet mich einer mit seinen Scheinwerfern im Rückspiegel.«
»Dann fahr langsamer und lass ihn überholen.«
Von wegen! Der Kerl konnte ihr mal den Buckel runterrutschen. Sie war müde und wollte nichts als nach Hause, da würde sie sich nicht auch noch von so einem Idioten ärgern lassen! »Ich denke, ich brauche noch zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Minuten«, sagte sie ins Telefon. »Die Angebote waren einfach unwiderstehlich. Was machen die Kinder?«
»Sind sauer, weil ich sie um zehn ins Bett geschickt habe. Sie sind noch nicht wieder ganz auf die Schule gepolt. Ich musste den« – er senkte die Stimme – »gefürchteten Schlafvollstrecker spielen.«
»Was ihnen natürlich gar nicht gefallen hat.«
»Du hast’s erfasst.«
Sie lachte und nahm einhändig eine Kurve. Der Wagen hinter ihr verlangsamte nicht. Im Gegenteil: Er schien noch näher zu kommen, war jetzt Stoßstange an Stoßstange mit ihr! Ihre Reifen gerieten leicht ins Schleudern, dann griffen sie zum Glück wieder. Elles Lachen wich einem weiteren Hustenanfall. Mein Gott, sie hatte das Kranksein wirklich satt! »Oh … Tom …«, brachte sie heraus, abgelenkt von dem Wagen hinter ihr, und schnappte nach Luft. »Ich … ich muss … Scheiße! … Tom!« Vor lauter Husten tränten ihre Augen, sie verzog das Lenkrad, der Wagen raste Richtung Seitenstreifen.
Wumm!
Metall knirschte, und ihr Minivan machte einen Satz nach vorn. Der Sicherheitsgurt straffte sich.
»Was zum Teufel soll das?« Sie blickte in den Rückspiegel und sah den riesigen Pick-up hinter sich. War er ihr draufgefahren? Was für ein Idiot war das denn? Doch ihr blieb keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen. Der Dodge schlingerte. »Du Scheißkerl!«, brüllte sie, ließ das Handy fallen und umfasste das Lenkrad mit beiden Händen.
Zu spät.
Der Minivan war bereits außer Kontrolle. Sie schleuderte auf den Randstreifen und den tosenden Fluss dahinter zu.
»Verdammt!«
Als das Vorderrad auf den Randstreifen traf, lenkte sie gegen, bremste vorsichtig ab und versuchte, ruhig zu bleiben, auch wenn ihr Puls raste, ihr Herz wummerte und ihre Hände von einer Sekunde auf die andere schweißnass waren.
»Elle?«, hörte sie Toms Stimme aus dem Handy, das jetzt im Beifahrerfußraum lag.
»Der Scheißkerl ist mir hinten aufgefahren!«, schrie sie.
»Was?«
»Ich sagte: … o nein!«
Im Rückspiegel sah sie, wie das Monstrum von Pick-up erneut auf sie zugerast kam, seine grellen Scheinwerfer brannten wie die Feuer der Hölle. Was hatte er bloß vor? O mein Gott, er wollte sie schon wieder rammen!
Voller Panik lenkte sie vom Randstreifen auf die Gegenfahrbahn, dann riss sie das Steuer erneut herum und rutschte über den eisigen Asphalt zurück auf den Randstreifen.
Der Pick-up war immer noch direkt hinter ihr.
»Tom!«, schrie sie. »Ruf die Neun-eins-eins! Der Typ versucht, mich … O mein Gott!« Die Kurve war nur etwa dreißig Meter entfernt, eine scharfe Kehre direkt vor der Brücke.
Der Motor des Pick-ups dröhnte ohrenbetäubend, die hoch eingestellten Scheinwerfer reflektierten in ihrem Seitenspiegel. Der Idiot überholte sie!
Gut! Soll er vorbeifahren. Denk dran, dir sein Nummernschild zu merken!
Der Kühlergrill war jetzt dicht an ihrer linken Heckseite. Zu dicht. Entsetzt wurde ihr klar, dass der Fahrer keineswegs vorhatte, sie zu überholen. Er wollte sie erneut von hinten rammen!
Ihr blieb keine andere Wahl. Obwohl sich der Dodge noch nicht wieder gefangen hatte, trat sie aufs Gas, um ihn abzuhängen.
Zu spät.
Wumm!
Ein weiterer Stoß. Diesmal von der Seite, so heftig, dass er ihr fast das Genick gebrochen hätte.
Ihr Wagen brach nach rechts aus. Sie stieg auf die Bremse, doch die Reifen drehten sich weiter und rasten auf den Randstreifen und den dahinterliegenden Fluss zu.
Die Brücke … wenn sie nur die Brücke erreichen könnte!
Wumm! Wieder knirschte Metall auf Metall, und sie spürte, wie ihr Wagen von der Straße abhob und durch die Luft flog.
Über den Randstreifen hinaus, über das verschneite Ufer hinweg, dann tauchte der Dodge Minivan mit der Schnauze voran in den reißenden, eiskalten Fluss.