Kapitel 18
Ich werd verrückt.«
Trace lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und starrte auf den Bildschirm seines Computers. Er war die öffentlich verfügbaren Behördendaten durchgegangen und hatte herausgefunden, dass auch Jocelyn Wallis in Helena, Montana, geboren war.
Vier von vieren. War das möglich, vor allem in Anbetracht dessen, dass weder Helena mit seinen nicht mal dreißigtausend Einwohnern noch Grizzly Falls besonders groß waren?
Drei der Frauen hast du persönlich kennengelernt. Zufall?
Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? Nichts?
Natürlich nicht. Während der Drucker die Seiten ausspuckte, nahm er sich den ersten Stoß vor und überflog ihn noch einmal, versuchte, eine Verbindung herzustellen, doch es gelang ihm nicht. Er reckte eine Hand Richtung Decke, streckte seine verspannten Schultermuskeln und ließ den Kopf kreisen, dann fuhr er gähnend den Computer herunter und blickte auf die Uhr. Mitternacht war schon vorüber, und Eli war auf der Couch vor dem Fernseher eingeschlafen. Trace hatte versucht, ihn vorher ins Bett zu schicken, aber sein Sohn hatte protestiert. Er könne nicht allein in seinem Zimmer schlafen; er vermisse Sarge. Der Junge machte sich schreckliche Sorgen um den Hund.
Trace trat aus dem kleinen Raum, den er als Arbeitszimmer benutzte, und ging zu seinem Sohn, der ausgestreckt auf den zerdrückten Polstern lag. Im Schlaf sah Eli fast aus wie ein Engel, der seine Flügel gegen einen leuchtend blauen Gips eingetauscht hatte.
Der Junge hatte Trace’ Leben völlig umgekrempelt.
Bevor er Vater wurde, war Trace O’Halleran dafür bekannt gewesen, dass er gern einen über den Durst trank und sich mit den falschen Frauen umgab. Er hatte sich ordentlich die Hörner abgestoßen, doch damit war es in dem Augenblick vorbei gewesen, in dem Eli in sein Leben getreten war. Stets wurde behauptet, dass Kinder alles veränderten, aber er hatte nie wirklich darüber nachgedacht. Bis er selbst Vater geworden war.
Jetzt bückte er sich, um seinen Jungen von der Couch zu heben. Eli blinzelte nicht mal, als Trace ihn die alte Treppe zu seinem Kinderzimmer im oberen Stockwerk hinauftrug.
Das Zimmer war ein Saustall. Überall lagen Spielzeug und Bücher verstreut, zwischendrin Klamotten, das Bett war ungemacht. Durchs Fenster fiel das trübe grauweiße Licht einer frostigen Schneenacht auf die zerknitterte Bettdecke.
Vorsichtig legte Trace Eli aufs Bett und zog die Decke über ihn. Der Junge seufzte im Schlaf und rollte sich auf die Seite.
Sein Sohn.
Trace presste die Kiefer zusammen bei dem Gedanken an all die Geheimnisse, die er vor Eli verbarg. Eines Tages würde er reinen Tisch machen müssen, so viel war klar. Es war Elis Recht zu erfahren, dass Trace nicht sein leiblicher Vater war. Doch sobald der Junge das wüsste, kämen weitere Fragen, und die wären so schwierig zu beantworten wie die neulich, als Eli sich weinend nach dem Verbleib seiner Mutter erkundigt und von Trace verlangt hatte, sie ausfindig zu machen.
Und genau das war Trace nicht möglich. Er würde Elis Fragen nicht beantworten können.
Leanna hatte die Identität von Elis Vater nie preisgegeben. Trace hatte vermutet, dass sie ihn nur flüchtig gekannt und einfach nicht aufgepasst hatte. Ihre eigene Beziehung hatte als glühende Romanze in einer Bar begonnen; sie hatten beide zu viel getrunken, und am Ende war Leanna schwanger gewesen. Trace hatte daraufhin das Richtige getan: Er hatte Leanna geheiratet und Eli adoptiert. Irgendwann hatte er sich damit auseinandersetzen müssen, dass sie entweder eine Fehlgeburt oder aber gelogen hatte, denn es gab keinerlei Anzeichen mehr dafür, dass sie tatsächlich schwanger war.
Nicht dass das von Bedeutung gewesen wäre. Die Auseinandersetzungen zwischen ihnen hatten bereits begonnen, es hagelte bei jeder Gelegenheit Vorwürfe, und eines Nachts war sie einfach verschwunden. Er war in einem leeren Bett aufgewacht. Ihr Wagen war weg, ebenso ihre Kleidung, ihr Handy, der Laptop und ihre Toilettensachen.
Ihr Sohn war das Einzige, was sie dagelassen hatte.
Was ihm mehr als recht war.
Er warf einen Blick auf den schlafenden Eli und konnte sich nicht vorstellen, ein Kind mehr zu lieben als ihn. Er verstand nicht, warum sie gegangen war, doch als die Scheidungspapiere eintrafen und sie ihm das komplette Sorgerecht für ihren Sohn übertrug, hatte er schnell und ohne zu zögern unterschrieben.
Sie hatten ein paarmal miteinander telefoniert, und sie war ab und an vorbeigekommen, doch das war mit den Jahren immer weniger geworden. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal mit Leanna gesprochen hatte. Als Eli vor sechs Monaten versucht hatte, sie anzurufen, war der Anschluss abgemeldet gewesen.
Du musst sie ausfindig machen. Es steht ihm zu, seine Mutter zu kennen, ganz egal, was für ein herzloses Miststück sie ist. – Aber woher willst du wissen, dass sie nicht tot ist? Wie Shelly Bonaventure. Wie Jocelyn Wallis?
Trace beschloss, morgen früh ein paar Anrufe wegen Leanna zu tätigen. Erst letzten Monat hatte er mehrere alte Nummern auf einem Zettel in der Schreibtischschublade gefunden, als er nach einem neuen Scheckheft gesucht hatte. Eine Nummer hatte die Vorwahl von Phoenix – war nicht eine ihrer Freundinnen dorthin gezogen? –, eine andere war irgendwo aus Washington, doch damit konnte er nichts anfangen.
Seine Gedanken kehrten zu Acacia »Kacey« Lambert zurück, und er ermahnte sich, es für heute Nacht gut sein zu lassen. Es würde schon nichts Schlimmes dahinterstecken. Manchmal passierten eben merkwürdige Dinge. Er zog sein Hemd aus, Jeans und Socken und ließ sich aufs Bett fallen. Dann schloss er die Augen und stieß einen langen Seufzer aus.
Vor seinem inneren Auge erschien Kacey Lamberts Gesicht, und Trace stellte verärgert fest, was für ein unbelehrbarer Dummkopf er doch war.
Alvarez rief von ihrem Handy aus bei Jonas Hayes vom LAPD an und hinterließ ihm eine Nachricht auf der Mailbox. Obwohl sie nicht davon ausging, dass der Detective am Samstagmorgen nach Thanksgiving arbeitete, so nahm sie doch an, dass er seine Mailbox abhören und sie – hoffentlich bald – zurückrufen würde. Zwar wollte sie selbst nicht recht glauben, dass der Tod von Shelly Bonaventure mit dem von Jocelyn Wallis in Zusammenhang stand, aber sie ging lieber auf Nummer sicher.
Die Tatsache, dass die Opfer einander so ähnlich sahen, beunruhigte sie.
Sie gab der scheuen Mrs. Smith Futter, doch die Katze versteckte sich. Gib ihr Zeit, sagte sie sich, während sie in einem Zug ihren Powershake aus Heidelbeeren, Bananen, Joghurt und Weizenkleie hinunterstürzte. »Champions-Frühstück«, murmelte sie, dann schnappte sie sich ihre Sporttasche und eilte nach draußen.
Natürlich war der Schnee überfroren, die eisige Schicht glitzerte auf den Gehwegen, den Bäumen und Sträuchern der umliegenden Gärten, trotzdem fuhr sie mit ihrem Jeep von dem rutschigen Parkplatz und bog auf die Landstraße ein, die während der Nacht mehrfach geräumt und gestreut wurde.
Zum Glück war so früh am Morgen kaum Verkehr im Zentrum von Grizzly Falls; eine schwache Sonne ging langsam im Osten auf und zog rosa Streifen durch die grauen Wolken. Sie stellte das Radio an. Der Wetterbericht war gerade vorbei, »Up on the Rooftop« tönte aus den Lautsprechern, doch sie hörte kaum hin, so beschäftigt war sie damit, das peinliche Thanksgiving-Essen mit der Fünfziger-Jahre-Hausfrau Hattie und ihren beiden Kindern in Graysons Haus aus ihren Gedanken zu verbannen. Was für ein entsetzlicher Fehler war es doch gewesen, die Einladung des Sheriffs anzunehmen!
Schwägerin … na klar!
Albernerweise spürte sie, wie ihre Wangen rot wurden. »Nie wieder«, schwor sie sich und wechselte die Spur, um einen langsam fahrenden Pick-up mit einer Ladung Weihnachtsbäumen zu überholen, während aus dem Radio ein Chor von Kinderstimmen »Ho, Ho, Ho!« schmetterte.
Vor dem Fitnessstudio bog sie ab, auf einen nahezu leeren Parkplatz.
»Up on the housetop,
click, click, click,
down thru’ the chimney
with good Saint Nick.«
»Schluss damit!« Alvarez schaltete das Radio aus und stellte den Jeep in der Nähe des Haupteingangs ab. Das Gebäude war riesig, ein Olympiaschwimmbecken, mehrere Saunas, Krafträume und Basketballplätze waren darin untergebracht. Sie schrieb sich in die Anwesenheitsliste ein, schnappte sich ein Handtuch und ging zur Damenumkleide, wo sie ihre Tasche einschloss.
Beim Trainieren, so hoffte sie, würde sie endlich wieder den Kopf freibekommen. Heute würde sie ein fünfundvierzigminütiges Cardio-Workout am Crosstrainer machen, dann eine halbe Stunde Gewichte an verschiedenen Maschinen stemmen, um gezielt gewisse Körperpartien zu straffen.
Normalerweise schaltete sie nach ungefähr der Hälfte des Trainings ab, und sämtliche Fragen, die sie während eines Falls beschäftigten, lösten sich auf oder machten plötzlich Sinn, doch heute war das anders. Sie fand keine Antworten zum Tod von Jocelyn Wallis. Stundenlang war sie die Telefonlisten und Rechnungen der Frau durchgegangen, sogar ihren Müll, doch ihr war nichts Merkwürdiges oder Verdächtiges aufgefallen, und einen alles erhellenden Geistesblitz hatte sie auch nicht gehabt. Die Ex-Männer hatten Alibis; die Scheidungen waren stets gütlich verlaufen.
Ein Testament war nicht gefunden worden, zumindest noch nicht, die Lebensversicherung war nicht der Rede wert.
Die Lehrerin hatte nur wenige Freunde, Feinde waren keine bekannt, und sie hatte keinerlei Verbindung zu Shelly Bonaventure, abgesehen von ihrem Geburtsort und ihrem Äußeren. Der Fall war höllisch frustrierend.
Alvarez wischte sich mit dem Handtuch die Stirn, setzte sich an eine Beinpresse und stellte die Gewichte höher ein. Ihre Muskeln waren jetzt gelockert, und sie schaffte drei Einheiten mit je fünfzehn Wiederholungen. Als sie fertig war, drang ihr zwar der Schweiß aus jeder Pore, aber sie wusste nicht mehr als vorher.
Entmutigt ging sie unter die Dusche und redete sich ein, die Wahrheit würde schon ans Tageslicht kommen. Sie müsste sich nur etwas mehr Mühe geben, ein bisschen weiter nachforschen.
Kacey rieb sich ihren verspannten Nacken und blickte auf die Uhr in ihrem Büro. Viertel nach zwei. Der Vormittag war nur so verflogen. Ein Termin war auf den anderen gefolgt, und wieder waren mehrere Patienten dazwischengeschoben worden. Die Tatsache, dass es das Thanksgiving-Wochenende war – das Shopping-Wochenende des Jahres –, schützte die Leute nicht vor Grippeviren, Bronchitis, Erkältungsinfektionen oder ausgerenkten Daumen.
Sie hatte heute Vormittag schon in so viele Hälse und Ohren geblickt wie sonst an einem ganzen Tag. Samstags hatte die Poliklinik eigentlich nur bis fünfzehn Uhr geöffnet, aber das klappte nur selten, da die meisten berufstätigen Eltern ihre Arzttermine auf diesen freien Tag legen mussten.
Glücklicherweise arbeitete Kacey nur jeden zweiten Samstag, die beiden anderen Wochenenden übernahm Martin. Sie wechselten sich auch an den Freitagen ab, so dass sie zwei aufeinanderfolgende Tage in diesen Wochen frei hatten. Genauso machte es auch der Rest der Belegschaft.
Jetzt knurrte ihr der Magen und erinnerte sie daran, dass sie seit der Banane um sechs Uhr in der Früh nichts mehr gegessen hatte. Die drei anschließenden Tassen Kaffee hatten sie auch nicht unbedingt gestärkt. Sie griff in ihre Schreibtischschublade, in der sie ihren Vorrat an Granola-Keksen und Schokoriegeln aufbewahrte, fischte ein Snickers heraus und nahm sich selbst das Versprechen ab, am Abend einen gesunden Thunfischsalat mit tonnenweise Gemüse zu essen.
Vielleicht.
Lass Worten Taten folgen, zitierte sie ihre verstorbene Großmutter Ada, als sie die Folie aufriss. Wie oft hatte sie ihren Patienten geraten, gesunde, ausgewogene Mahlzeiten zu sich zu nehmen, acht Gläser Wasser pro Tag zu trinken und nicht zu viel Zucker zu essen? »Viel zu oft«, murmelte sie, blickte auf die Patientenakten, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten, und biss genussvoll seufzend in den Schokokaramellriegel.
Den ganzen Tag schon hatte sie sich nicht ganz wohl gefühlt, was sie einer unruhigen Nacht zugeschrieben hatte, in der sie von Eindringlingen und dunklen Pick-ups verfolgt worden war und nicht zuletzt von weitaus erfreulicheren Phantasien über Trace O’Halleran.
Er ist der Vater eines deiner Patienten, rief sie sich in Erinnerung, und damit strikt tabu, doch nachdem sie ihm gestern in der Tierklinik über den Weg gelaufen war und mit Eli und ihm Pizza gegessen hatte, fiel es ihr noch schwerer, den rauhbeinigen Rancher aus ihren Gedanken zu verdrängen.
Sie hatte sich gerade den letzten Bissen Snickers in den Mund geschoben, als es klopfte und Nadine, die Rezeptionistin, die an den Wochenenden da war, den Kopf zur Tür hereinstreckte. »Ihr nächster Termin hat angerufen, eine neue Patientin, Mrs. Alexander. Sie kommt fünfzehn Minuten später, aber Helen Ingles ist da und fragt, ob Sie sie dazwischenschieben würden.«
Kacey nickte.
Nadine, eine gepflegte Frau, die auf die sechzig zuging, hatte ein energisches Kinn und schmal gezupfte Augenbrauen; sie trug nur wenig Make-up und eine lavendelfarbene Brille, ihr kurzes, fransig geschnittenes Haar umrahmte ihr Gesicht. Ihre blassen Lippen waren missbilligend verzogen.
»Ist noch etwas?«, fragte Kacey.
»Heute Morgen war ich als Erste da, und die verflixte Hauptsicherung war wieder herausgesprungen. Kein einziges Licht hat gebrannt!«
Ein immer wiederkehrendes Thema. »Würden Sie bitte dem Vermieter Bescheid geben?«
»Ich habe ihm bereits eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen und ihm eine E-Mail geschrieben«, erklärte sie pikiert. Nadine Kavenaugh hatte einst beim Militär gedient und war eine kleinliche Pedantin, die Leute nicht ausstehen konnte, die – so drückte sie es aus – »nichts auf die Reihe brachten«. Die alltägliche Routine durfte auf keinen Fall durcheinandergeraten.
»Gut.« Kacey drehte sich auf ihrem Schreibtischstuhl herum, warf die Snickers-Folie in den Papierkorb und griff nach ihrem Arztkittel. Als sie Nadine anblickte, bemerkte sie, dass diese ihre dünnen Augenbrauen zusammengezogen hatte. Offenbar durfte es auch keine Unregelmäßigkeiten in Kaceys Terminplan geben.
»Ich schicke Mrs. Ingles in Behandlungsraum zwei«, sagte sie in leicht schnippischem Ton, »und Mrs. Alexander, sollte sie irgendwann eintreffen, in Raum eins.«
»Ich komme, sobald Randy die Vitalwerte gemessen hat.«
Nadine schnaubte und schloss die Bürotür. Durch das dünne Türblatt hörte Kacey, wie sie energischen Schrittes in die Rezeption zurückkehrte.
Sie zog ihren Arztkittel über, vergewisserte sich, dass sie ihr Stethoskop eingesteckt hatte, dann warf sie einen letzten Blick auf den Monitor, um ihre E-Mail-Eingänge zu prüfen. Sie hatte gehofft, dass die von ihr angeforderten Geburtenregister eingetroffen wären, wenngleich sie wusste, dass keine staatliche Behörde während des verlängerten Thanksgiving-Wochenendes arbeitete. Du darfst das Pferd nicht von hinten aufzäumen, Fräulein, hatte sie ihr Großvater stets gewarnt, und wie erwartet war noch keine Antwort gekommen. Vielleicht machte sie ohnehin unnötig die Pferde scheu – um bei den Pferderedensarten von Großvater Alfred zu bleiben. Nur weil zwei Frauen, die ihr ähnlich sahen, gestorben waren und ihre Mutter sich beim Thema »Familie« ein wenig seltsam verhielt, musste sie doch nicht ausflippen.
Sie schloss ihren E-Mail-Account und eilte den kurzen Gang zu den Behandlungszimmern entlang. Helen Ingles beklagte sich, dass sie die ganze Zeit über müde sei. »Diese verfluchte Müdigkeit bringt mich noch um«, sagte sie und versicherte gleichzeitig, dass sie jeden Morgen gewissenhaft ihre Glukosewerte überprüfe, sich entsprechend ernähre und ihre Übungen mache. »Vielleicht liegt es ja auch daran, dass meine Tochter mit ihrer Achtjährigen bei mir eingezogen ist. Sie lässt sich von ihrem Mann scheiden und hat keine Arbeit.« Helens Blick verfinsterte sich.
»Erzählen Sie mir davon«, bat Kacey und verbrachte die nächsten zehn Minuten damit, der älteren Frau zuzuhören. Es stellte sich schnell heraus, dass die Sorge um ihre Tochter genauso zu Helens Problem beitrug wie ihr Diabetes. Kacey riet ihr, in der nächsten Woche einen neuen Labortest machen zu lassen, und schlug vor, eine Familientherapeutin aufzusuchen.
»Etwa eine Psychologin?«, fragte Helen entsetzt. »Ich bin doch nicht verrückt!«
»Sie haben einen Einschnitt in ihre Lebensgewohnheiten erfahren. Das ist immer schwierig. Hier, nehmen Sie die Karte und machen Sie einen Termin aus – wenn Sie möchten.« Als sie sah, wie ihre Patientin zögerte, fügte sie hinzu: »Was schadet es schon?«
»Es schadet meinem Stolz, denke ich. Ich bin stets davon ausgegangen, sämtliche Probleme allein in den Griff zu bekommen.«
»Manchmal brauchen wir alle jemanden, der uns zuhört.«
Damit verabschiedete sich Kacey von Helen Ingles, die ernsthaft über ihre Worte nachzudenken schien, und ging weiter zu Behandlungsraum eins. Sie nahm die Akte ihres nächsten Patienten aus einem Korb an der Tür und überflog die Daten. Elle Alexander war fünfunddreißig, hatte rund zehn Kilo Übergewicht und litt unter einem hartnäckigen Husten, der sie nachts wach hielt. Ihr bisher behandelnder Arzt war in Coeur d’Alene, Idaho, ansässig.
Noch immer lesend, klopfte sie an und trat ein. »Mrs. Alexander? Ich bin Dr. Lambert.«
Die Patientin saß mit baumelnden Füßen auf dem Untersuchungstisch. Sie hatte kurzes rotes Haar und rosige Wangen, und sie lächelte breit.
Beinahe wäre Kacey das Herz stehengeblieben, denn auch diese Frau sah ihr auffallend ähnlich. Noch eine?, dachte sie ungläubig.
»Hi«, grüßte Elle.
Kacey versuchte sich einzureden, dass sie sich bloß etwas einbildete, dass sie sich von Heather oder Rosie Alsgaard, der Schwester aus der Notaufnahme, hatte anstecken lassen, doch der Blick von Randy Yates, der eben mit dem Blutdruckmessen fertig war, sagte alles.
»Sind Sie miteinander verwandt?«, erkundigte sich der medizinisch-technische Assistent. Elle blickte die Ärztin an und lachte.
»Nein, nein, keineswegs«, wehrte sie ab, »ich habe lediglich eines dieser Allerweltsgesichter – ständig erinnere ich andere Leute an irgendwen.« Sie zuckte die Schultern und grinste. »Sei’s drum. Obwohl wir beide uns nicht wirklich ähnlich sehen. Wir haben doch eine ganz andere Statur!«
Das stimmte. Kacey war gut sieben Zentimeter größer und fünfzehn Kilo leichter, doch die Struktur von Elles Gesicht, ihre schrägen Wangenknochen, das ausgeprägte Kinn, die Form der Augen waren genau wie die von Kacey. Elles Haare waren heller und röter – vielleicht waren sie gefärbt –, und ihre Augen waren mehr blau als grün, aber trotzdem … Außerdem war sie ungefähr im richtigen Alter.
Wofür?
»Langsam glaube ich, ich könnte einen Doppelgängerinnen-Club gründen«, fuhr sie fort. »Seit ich in dieser Stadt bin, habe ich schon mehrere Leute getroffen, die so aussehen wie ich.«
»Ist das wahr?«, hakte Kacey vorsichtig nach.
»Ja, sicher, denken Sie nur an die arme Lehrerin, die verunglückt ist! Eine meiner Fitnesstrainerinnen sieht auch so aus. Ihr Name ist … wie war er noch gleich? … Gloria, glaube ich. Sie müssen wissen, ich habe gerade erst beim Fit Forever angefangen, deshalb bin ich mir nicht sicher. Und jetzt begegne ich Ihnen!«
Während Randy seine Untersuchungsergebnisse in Elle Alexanders Akte auf seinem Laptop eintippte, gab sich Kacey alle Mühe, die Alarmglocken zu ignorieren, die in ihrem Kopf schrillten. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht, dachte sie und begann mit der Untersuchung. Sie hörte die Lungen der Frau ab, die ihr erzählte, dass ihr Husten trotz verschiedener Antibiotika in den letzten drei Monaten nicht abgeklungen sei, und machte zwei Abstriche. »Sie waren in Coeur d’Alene in ärztlicher Behandlung?«
Elle nannte ihr den Namen des Mediziners, dann wühlte sie in ihrer Handtasche und reichte Kacey die Karte eines Arztes einer Poliklinik in Idaho. »Ich habe ihn aufgesucht, kurz bevor wir hierhergezogen sind«, erklärte sie.
»Haben Sie Ihre Lunge röntgen lassen?«
Elle schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Dann lassen Sie uns damit anfangen und Streptokokken und eine Lungenentzündung ausschließen.«
»Eine Lungenentzündung? Ach du liebe Güte …« Sie wirkte erschrocken. »Ich meine, ich hatte noch nie im Leben eine Lungenentzündung! Ein-, zweimal eine Bronchitis, aber …«
»Warten wir ab, was die Röntgenbilder sagen. Unser Labor ist samstags nicht geöffnet, aber ich werde für Montag eine entsprechende Überweisung ausstellen. Die Bilder werden mir zugeschickt. Die Abstriche gehen ebenfalls ins Labor, wo sie auf Streptokokken untersucht werden.« An den MTA gewandt, sagte sie: »Bitte setzen Sie sich mit der Röntgenabteilung in Verbindung.« Sie steckte die beiden Abstriche in verschiedene Plastikbeutel. Während Elle ihr Kleid zurechtzog und Randys Augen am Bildschirm hafteten, ließ sie heimlich einen davon in ihre Kitteltasche gleiten. »Das hier muss zum Streptokokkentest«, sagte sie zu dem MTA und legte ihm den anderen Plastikbeutel auf die Ablage neben dem Computer.
Ohne aufzublicken tippte Randy die nötigen Anweisungen ein. »Alles klar!«
»Gut.« Kacey drehte sich wieder zu Elle um, während der junge Mann den Beutel nahm und das Behandlungszimmer verließ. »Ich rufe Sie an, sobald ich mir die Bilder und die Laborergebnisse angesehen habe. Bis dahin verordne ich Ihnen ein stärkeres Antibiotikum. Das sollte die Dinge etwas vorantreiben.« Sie schrieb ein Rezept aus und bat Elle, in der nächsten Woche wiederzukommen. »Sie können sich an der Rezeption einen Termin geben lassen.«
»Das werde ich«, versprach die Frau.
Obwohl ihr der Beutel in der Kitteltasche brannte, fragte Kacey: »Sind Sie in Coeur d’Alene aufgewachsen?«
»In Boise. Warum?«
»Nur so.« Kacey zuckte die Achseln, als wäre sie bloß neugierig, doch ihre Gedanken rasten. Du überreagierst wirklich. So sehr ähnelt sie dir gar nicht. Zumindest nicht so sehr wie die Schauspielerin und Jocelyn Wallis.
»Ich habe mein ganzes Leben in Idaho verbracht«, erzählte Elle. »Dort bin ich geboren und groß geworden. Deswegen ist mir der Umzug auch so schwergefallen. Aber Tom – das ist mein Mann – hat einen Job hier angenommen und uns alle entwurzelt. Die Kinder hatten sich gerade in der Schule eingelebt, da mussten wir fort.« Ihre Augen verdunkelten sich. »Es liegt an der Wirtschaft. Selbst Anwälte sind davon betroffen.«
»Ich bin sicher, Sie werden hier bald Freunde finden, und die Schulen sind ausgezeichnet.«
»Das hoffe ich. Mein Sohn hat keine Probleme, sich einzufügen, aber meine Tochter … Für sie ist es schwieriger. Sie ist dreizehn, versucht gerade herauszufinden, wer sie eigentlich ist, und ja, das ist schwer.« Sie seufzte.
»Grizzly Falls ist eine wirklich angenehme Stadt.«
»Ich hoffe, Sie haben recht.« Sie wirkte nicht überzeugt.
»Geben Sie sich etwas Zeit.«
»Mir bleibt vermutlich ohnehin keine Wahl.« Sie griff nach ihrem Mantel, und Kacey verabschiedete sich von Elle Alexander, ihrer letzten Patientin für heute, dann eilte sie in ihr Büro. Sie wartete, bis die Behandlungszimmer aufgeräumt und gereinigt und Nadine und Randy nach Hause gegangen waren. Als sie sicher war, dass alle die Klinik verlassen hatten, zog sie den Plastikbeutel mit dem Abstrich aus ihrer Kitteltasche. Ihr ganzes Leben schon war sie fasziniert gewesen von Verschwörungstheorien, was immer wieder zu Auseinandersetzungen geführt hatte, zunächst mit ihrer Mutter, dann mit ihrem Ex-Mann. JC hatte sie für verrückt erklärt, doch sie war noch immer – zumindest halb – davon überzeugt, dass hinter der Ermordung John F. Kennedys kein Einzeltäter steckte, dass Prinzessin Diana von ihren Feinden oder einem Mitglied der königlichen Familie umgebracht wurde und dass Kurt Cobain keineswegs Selbstmord begangen hat.
Egal, was ihr Ex-Mann dazu sagte.
Du machst aus einer Mücke einen Elefanten, schalt sie sich. Trotzdem schickte sie den Beutel ins Labor mit der Bitte um Elle Alexanders DNS-Profil.
Und dann war da noch die Trainerin aus dem Fit Forever … Gloria Irgendwer, die ihr laut Elle ähnlich sah. Kacey beschloss, dem Fitnessstudio so bald wie möglich einen Besuch abzustatten und herauszufinden, ob auch Gloria zum »Club der Doppelgängerinnen« gehörte.
»Bizarr«, sagte sie laut und knipste die Lichter aus.