Kapitel 27

O’Halleran ist nicht unser Mann«, sagte Pescoli und schlüpfte in ihren Mantel.

»Sehe ich auch so.« Alvarez nickte. »Wäre ja auch zu einfach gewesen.«

»Das ist es leider nie.«

Zusammen wichen sie einem mit Handschellen gefesselten Mann aus, der von Trilby Van Droz, einer der Streifenbeamtinnen, hereingeführt wurde.

»Ich habe Ihnen nichts zu sagen!«, knurrte der Kerl mit dem strähnigen Haar und dem struppigen Fünftagebart. »Ich habe keinen verdammten Pick-up gestohlen, und das war meine Schrotflinte! Verfluchte Scheiße, was versucht ihr mir eigentlich anzuhängen?«

»Vorwärts«, befahl Trilby mit überdrüssiger Stimme.

»Nun mal langsam«, bettelte der Kerl, »schließlich ist bald Weihnachten.«

»Hier rein!« Van Droz öffnete die Tür zu einem der Vernehmungszimmer. »Frohes Fest.«

Pescoli unterdrückte ein Grinsen, das ihr jedoch ohnehin beim Anblick des Empfangstresens vergangen wäre. Joelles Schreibtisch war mit blinkenden Lichtern übersät, in einer Ecke drehte sich genau wie auf dem Tisch im Aufenthaltsraum ein Christbaum mit kleinen Kugeln, Lametta und Lämpchen und darunterliegenden Minigeschenken. »Im Aufenthaltsraum gibt es Früchtekuchen«, verkündete Joelle, als sie gerade die Eingangstür öffnen wollten. Heute hatte sie sich einen Wichtel in die platinblonden Haare gesteckt. »Ein Rezept meiner Urururgroßmutter!« Sie schenkte ihnen ein strahlendes Lächeln. Im selben Augenblick kamen zwei Teenager herein, einen Schwall arktischer Luft und eine schmelzende Schneespur hinter sich herziehend.

»Irgendein Wahnsinniger hat versucht, mich zu überfahren!« Das Mädchen, mit Zahnspange und großer Brille, war offenbar zutiefst erschüttert. »Neben dem Safeway. Er muss betrunken gewesen sein! Hat mich komplett mit Schnee vollgespritzt!«

»Er fuhr einen grünen Honda, tiefergelegt. Er kam viel zu schnell um die Ecke geschossen und ist wie verrückt durch die Gegend geschlittert«, ergänzte ihr Begleiter, ein Junge mit einer ausgefransten Mütze. »Das haben alle gesehen!«

»Ich war auf dem Zebrastreifen! Er hat einfach Gas gegeben!«

»Und ist auf sie zugeschleudert!«

»Wenn Lanny mich nicht zur Seite gerissen hätte, wäre ich jetzt tot!«, jammerte das Mädchen. Es stand kurz davor zu hyperventilieren, und Pescoli wollte schon eingreifen, doch Joelle schob ihm eine Schachtel mit Papiertaschentüchern zu und griff zum Telefonhörer. Gleichzeitig wedelte sie mit den Fingern in Pescolis und Alvarez’ Richtung, um ihnen zu bedeuten, dass sie gehen konnten.

»Beruhige dich, Herzchen«, sagte die Sekretärin mit einem mütterlichen Lächeln, als das Mädchen in Tränen ausbrach. »Alles wird gut. Ich hole jemanden, der dir helfen kann.«

Da die Situation ganz offensichtlich unter Kontrolle war, stieß Pescoli die Tür auf und marschierte hinaus. Die Kälte schnitt ihr ins Gesicht. Alvarez zog den Reißverschluss der dicken Daunenjacke, die sie heute trug, höher und senkte den Kopf vor dem eisigen Wind. Ihr Handy klingelte.

»Alvarez«, meldete sie sich und schloss, die Schneeflocken wegblinzelnd, die ihr in die Augen trieben, zu Pescoli auf, die gerade ihre Handschuhe überstreifte.

Die Hände tief in den Taschen vergraben, marschierten sie die drei Blocks zu einem kleinen Deli, wo sie Sandwiches kaufen wollten.

Nur wenige Fußgänger hatten sich bei dem Wetter hinausgetraut, der Verkehr floss langsam. Das Klink, Klink, Klink der Schneeketten sorgte für eine Art weihnachtlicher Hintergrundmusik.

»Okay. Ja. Per E-Mail wäre gut. Danke!« Alvarez legte auf und warf Pescoli einen Blick zu. »Shelly Bonaventures DNS-Profil ist eingetroffen. Hayes hat ein paar Strippen gezogen und das ganze Prozedere beschleunigt. Er schickt es rüber.«

»Wenn es überhaupt etwas mit unserem Fall zu tun hat.«

»Das werden wir dann sehen.«

Sie brauchten eine Pause, dachte Pescoli, als sie über den Parkplatz des Einkaufszentrums gingen, worin sich der Deli befand. Ihnen fehlte einfach ein konkreter Zusammenhang. »Glaubst du, an dem, was Acacia Lambert behauptet, ist etwas dran?«, fragte sie.

»Ich denke schon«, erwiderte Alvarez.

»Ich kapier’s nicht. Jetzt werde ich erst mal was essen und dann nach den Kids sehen.«

»Und ich werde versuchen, die ehemalige Mrs. O’Halleran ausfindig zu machen. Mal sehen, was die uns zu sagen hat.«

»Okay. Es ist bestimmt interessant zu hören, warum sie sich aus dem Staub gemacht und ihren Jungen bei O’Halleran gelassen hat – vorausgesetzt, er hat uns die Wahrheit erzählt.« Sie drückte mit der Schulter die Tür des kleinen Feinkostladens auf. Warme Luft und der Duft nach Gewürzen und gebratenem Fleisch überwältigten Pescoli. Ihr Magen knurrte, als sie sich mit Alvarez in die Schlange einreihte, um ihre Bestellung zum Mitnehmen aufzugeben.

Es dauerte eine Weile, weil sich das ältere Paar vor ihnen Zeit ließ. Der Mann konnte schlecht hören, und die Frau war besorgt wegen ihrer Allergien. Schließlich entschieden sie sich für ein Thunfischsandwich, mit Käse überbacken, und Schinkenspeck auf Roggentoast. Doch damit war’s noch nicht getan. Zu allem Überfluss hatten sie auch noch ihren Enkel dabei, einen Jungen um die vierzehn, der zwar nicht in der Schule war, dafür aber tief in seine Musik versunken, während er auf seinem Handy entweder irgendein Spiel spielte oder SMS verschickte. Widerwillig ließ er sich ebenfalls ein Thunfischsandwich – »keine Tomaten, kein Salat, keine Zwiebeln, aber eine Extratüte Chips« – bestellen.

Hinter Alvarez stauten sich bereits die Kunden, als die geduldige Frau hinter der Theke den alten Leuten und ihrem Enkel endlich ihre Bestellung ausgehändigt hatte und sich Pescoli zuwandte. Diese orderte einen Spinatsalat mit Hühnerbrust für Alvarez, dazu einen gesunden Tee, und für sich ein Reuben-Sandwich mit Corned Beef, Emmentaler und einer Extraportion Sauerkraut, dazu eine Cola light. Sie trugen ihr Mittagessen zurück zum Department, wo sich ihre Wege trennten: Pescoli stieg in ihren Wagen und machte einen Abstecher nach Hause, während Alvarez am Schreibtisch aß und dabei ihre E-Mails checkte. Der Bericht mit dem DNS-Profil, den Jonas Hayes geschickt hatte, erschien auf dem Bildschirm, und sie leitete ihn ans Labor weiter.

Eine Stunde später kehrte Pescoli zurück und gab Alvarez ein Zeichen, mit ihr in den Aufenthaltsraum zu kommen, wo wie versprochen Joelles Früchtekuchen auf einem Kuchenständer thronte. Über die Hälfte fehlte schon, ein paar Stücke waren bereits aufgeschnitten, der Rest – einfach vollkommen mit seinen kandierten Ananasscheiben und den leuchtend roten Kirschen – wartete darauf, zerteilt und verschlungen zu werden. Der Tisch, auf dem Servietten mit lächelnden Weihnachtsmännern lagen, war voller Krümel.

»Wie war’s?«, fragte Alvarez, während Pescoli die verbliebene Hälfte ihres Reuben-Sandwiches auspackte.

»Bianca hat geschlafen. Weit und breit kein Chris Schultz, Gott sei Dank. Jeremy hat vor seinen Videospielen gesessen und wollte die Hälfte von meinem Sandwich abhaben.«

»Aber du hast sie ihm nicht gegeben?«

»Wo denkst du hin? Ich hab eine Hälfte dort gegessen und die andere mitgenommen. Für Bianca habe ich gegrillten Käse gemacht und Jeremy gezeigt, wie das geht. Vermutlich hat er ihren gegessen, aber das wird sie mir schon erzählen. Ich muss irgendwas unternehmen wegen dem Jungen.«

Pescoli biss in ihr Sandwich und blendete nicht nur den Früchtekuchen von Joelles Urururgroßmutter aus, sondern auch die Weihnachtsdekoration und das große Schild, das Joelle ans Schwarze Brett gepinnt hatte. Es sollte die Belegschaft ans Weihnachtswichteln erinnern und an die Party, die sie in der Woche vor Weihnachten geplant hatte. Immerhin blieb ihr noch jede Menge Zeit, sich zu überlegen, welches besondere Geschenk sie dem stellvertretenden Sheriff machen würde.

Und Gott sei Dank durfte sie nicht mehr als zehn Dollar dafür ausgeben.

Was in ihren Augen immer noch viel zu viel war.

»Ist das DNS-Profil reingekommen?«, erkundigte sie sich.

»Ist schon im Labor, wo es mit dem von Jocelyn Wallis verglichen wird. Dann werden wir weitersehen. Ich habe bereits Druck gemacht.«

»Meinst du, das nützt was?«, fragte Pescoli skeptisch. »Die haben ziemlich viel zu tun.«

»Sie tun, was sie können.«

»Glaubst du, die Ärztin ist ein potenzielles Ziel?« Pescoli konnte sich das nur schwerlich vorstellen. »Nur weil sie so aussieht wie die anderen und behauptet, sie sei verwanzt? Ich sehe da keine wirkliche Verbindung.«

»Abgesehen von Trace O’Halleran.«

»Womit wir wieder bei unserem Rancher wären.« Pescoli kaute nachdenklich. Es war allgemein bekannt, dass manche Serienmörder einem bestimmten Frauentypus nachjagten. Das hatte sich immer wieder bewahrheitet. Ted Bundy war beispielsweise ein solch klassischer Fall gewesen. Es war die eine Sache, wenn sich ein Psychopath von langen Haaren oder blauen Augen oder was auch immer angezogen fühlte, aber eine ganz andere, nach genetisch verwandten Frauen mit gemeinsamen Vorfahren Ausschau zu halten.

Wie konnte jemand auf so etwas kommen? Meine Güte, es war schon für das Department schwer genug, ein DNS-Profil zu erstellen, und sie hatten immerhin Zugang zum kriminaltechnischen Labor! Aber sollte die DNS tatsächlich eine Rolle spielen, dann musste die genetische Abstammung der Frauen der Schlüssel sein.

»Wenn die Opfer durch ihr Erbgut miteinander in Verbindung stehen, sollten wir vielleicht mit Grayson besprechen, ob es nicht besser wäre, uns an die Öffentlichkeit zu wenden.«

Alvarez versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als Pescoli ihren Boss erwähnte. Ob es ihr gefiel oder nicht: Sie arbeiteten für ihn. »Ja, das denke ich auch«, sagte sie daher. »Reden wir mit Grayson.«

»Aber noch ist alles so schwammig«, gab Pescoli zu bedenken. Das Einzige, was sie bislang konkret wussten, war, dass jemand versucht hatte, Jocelyn Wallis zu vergiften; dafür, dass ein Serienkiller sein Unwesen trieb, fehlte ihnen jeglicher Beweis.

Alvarez beäugte den Kuchen, und als hätte sie Pescolis Gedanken gelesen, sagte sie: »Ich erkundige mich mal bei anderen Departments, staatenübergreifend. Als Erstes nehme ich mir Idaho, Oregon, Washington und Kalifornien vor. Mal sehen, ob ihnen in letzter Zeit irgendwelche verdächtigen Todesfälle untergekommen sind, bei denen die Opfer aus dieser Gegend oder aus Helena stammten. Ich will auch Elle Alexanders Eltern anrufen, um herauszufinden, ob sie tatsächlich in Idaho geboren ist.«

»Klingt alles noch ziemlich dünn, oder?«

Alvarez ließ sich jedoch nicht beirren und schüttelte abwehrend den Kopf. »Sollte Shelly Bonaventure ebenfalls dazugehören, dann kommt unser Mann viel herum. Vielleicht hat er einen Job, bei dem er quer durch die Staaten reisen muss. Wenn dem so ist, hinterlässt er womöglich eine Spur von Opfern, alle bei verschiedenen Unfällen ums Leben gekommen.«

»Und wenn Bonaventure, die laut offiziellen Angaben des Los Angeles Police Department Selbstmord begangen hat, gar nicht zu den Opfern unseres Mannes zählt?«, fragte Pescoli und schluckte den letzten Bissen hinunter.

Alvarez runzelte die Stirn. »Dann stehen wir wieder ganz am Anfang.«

 

Um zwei Uhr rief die Frau von Herbert Long, dem Mann mit Verdacht auf Nebenhöhlenvereiterung, an und teilte ihnen widerstrebend mit, dass ihr Gatte seinen Termin absagen müsse. Kacey, der es nicht gelungen war, Dr. Martin Cortez diesen Patienten aufs Auge zu drücken, da er bereits doppelt eingeteilt war, stieß die Faust in die Luft. So konnte sie früher nach Missoula fahren als geplant, und obwohl sich dunkle Wolken über der Hügelkette, die das Tal umgab, zusammenballten, hatte der heftige Schneefall ein wenig nachgelassen, genau wie der Wetterbericht laut Heather vorhergesagt hatte.

Sie holte sich eine Flasche Wasser aus dem kleinen Kühlschrank im Belegschaftszimmer, zog ihren Mantel über und ging zum Auto. Zu Mittag hatte sie ohne großen Appetit ein Thunfischsandwich heruntergewürgt, dann hatte sie Trace angerufen, angeblich, um sich nach Eli zu erkundigen, und hatte erfahren, dass er mit der Polizei über die Mikrophone gesprochen hatte. »Ich denke, sie werden dein Haus entwanzen und dabei vermutlich auch nach Fingerabdrücken suchen.«

»Ich sollte sie an Bonzi erinnern.«

»Sie möchten, dass du ebenfalls anwesend bist.«

»Okay. Ich rufe sie später an.«

Sie erzählte ihm nicht, was sie vorhatte, obwohl es ihr auf der Zunge lag. Doch sie fürchtete, er könnte versuchen, ihr dieses Vorhaben auszureden oder würde sogar mitkommen wollen, und sie wollte diese Begegnung unbedingt allein hinter sich bringen.

Sie hatte beschlossen, Gerald Johnson von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, um zu sehen, was ihr neu gefundener Dad dazu zu sagen hatte. Außerdem wollte sie herausfinden, warum ihre Mutter ihn so anbetete.

Ihre Beziehung war, zumindest in Maribelles nostalgisch verklärten Augen, etwas ganz Besonderes gewesen, eine tragische Liebesgeschichte, ähnlich der von Antonius und Cleopatra, Romeo und Julia – wenn nicht noch tiefer gehend.

Das unglaublich pathetische Märchen von Gerald und Maribelle.

»Verschone mich«, murmelte sie, als sie ihren allradgetriebenen Ford Edge auf die Interstate 90 lenkte und sich zurechtlegte, was sie dem Vater sagen sollte, der laut Maribelle von ihrer Existenz nie etwas gewusst hatte.

Großartig.

Ihr Mut schwand, je mehr Meilen sie zurücklegte. Sie hatte gründlich recherchiert. Keines von Gerald Johnsons ehelichen Kindern lebte weiter als fünfzig Meilen vom Elternhaus entfernt. Keines war auf ein College an der Ostküste gegangen und hatte sich dort niedergelassen, keines hatte nach San Francisco oder Birmingham oder Chicago geheiratet oder dort einen Job angenommen.

Nein, sämtliche überlebenden Sprösslinge wohnten nach wie vor in der Nähe von Daddy und – wie sie annahm – seinem beträchtlichen Vermögen. Das sind unhaltbare Unterstellungen, wies sie sich zurecht, als sie die Stadtgrenze von Missoula erreichte. Eines ließ sich allerdings nicht leugnen: Gerald Johnson war ein schwerreicher Mann.

Bei ihren Recherchen hatte Kacey auch herausgefunden, dass die meisten seiner Kinder für ihn arbeiteten. Die Älteste, Clarissa, hatte einen Abschluss in Betriebswirtschaftslehre in Stanford gemacht; sie war für das Marketing zuständig. Verheiratet, Mutter zweier Kinder, war sie seit Jahren für die Firma tätig. Nach Clarissa hatte Gerald binnen dreier Jahre zwei Söhne gezeugt: Judd und Thane, beides Anwälte. Judd arbeitete für die Firma, Thane beriet ihn von seiner eigenen Kanzlei aus. Keiner von beiden war verheiratet. Dann kamen die Zwillinge, Cameron und Colton. Über sie hatte Kacey nicht viel herausgefunden, nur dass sie ebenfalls in der Gegend wohnten. Sie wettete, dass auch die beiden in irgendeiner Funktion auf der Gehaltsliste der Firma standen. Das Letzte von Geralds Kindern war die unglückselige Kathleen gewesen, die kurz vor ihrer Hochzeit verunglückt war.

Ein paarmal war ein siebtes Kind erwähnt worden, also hatte Kacey noch weiter nachgeforscht. Als sie die archivierten Todesanzeigen durchgegangen war, war sie auf eine weitere Tochter gestoßen. Agatha-Rae, »Aggie«, war im Alter von acht Jahren bei einem Sturz ums Leben gekommen. Agatha-Rae hatte genau eine Woche vor Kacey Geburtstag, so dass sie beide im selben Alter wären, würde Geralds Tochter noch leben. Kacey schauderte innerlich und fasste das Lenkrad des Fords fester. Kein Wunder, dass ihre Mutter sich nur vage zu Johnsons Kindern geäußert hatte.

Es fing wieder an zu schneien, und sie stellte die Scheibenwischer an. Geleitet von ihrem tragbaren GPS, fuhr sie durch Missoula, eine größere Stadt, gemessen an Montana-Standards, die in einem Tal nahe dem Fluss lag, umrahmt von schneebedeckten Bergen. Sie kam an Restaurants und Ladenfronten vorbei und an einem alten Sägewerk, das in mehrere individuelle Geschäftseinheiten umgewandelt worden war, dann überquerte sie eine breite Brücke und gelangte zum Johnson-Industriepark. Frisch freigeschaufelte Wege verliefen zwischen den Gebäuden und um eine Reihe von gefrorenen Ententeichen herum, doch schon wieder legten sich die Flocken auf den Asphalt.

Obwohl die Bauten alle gleich aussahen, schienen sie so gruppiert zu sein, dass sie jeweils einen anderen Teil von Gerald Johnsons Reich beherbergten. Sie waren durch überdachte Übergänge verbunden, an die mehrere Parkplätze grenzten.

Geld, dachte sie unbehaglich, als sie die kurvige Straße entlangrollte, vorbei an Schildern mit der Aufschrift HERSTELLUNG, FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG, TECHNOLOGIE und schließlich VERWALTUNG.

»Bingo«, flüsterte sie, stellte den Wagen auf dem Besucherparkplatz ab und machte den Motor aus. Noch einmal sprach sie sich Mut zu, dann nahm sie ihre Handtasche und stieg aus.

Draußen empfing sie ein schneidender Wind, der ihr winzige, harschige Schneeflocken ins Gesicht blies. Mit schnellen Schritten ging sie den Fußweg zum Eingang entlang und betrat eine riesige Empfangshalle mit meterweise grauem Industrieteppich und weißen Wänden, an denen Auszeichnungen und Bilder hingen.

Ein breiter Empfangstresen trennte die Besucher von den Büros im Gebäudeinneren.

»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine junge Frau in den Zwanzigern hinter dem großen Computermonitor auf ihrem Schreibtisch hervor. Sie hatte ein elfenhaftes Gesicht und trug ihr Haar kurz geschnitten, so dass man ihre zahlreichen Ohrringe sehen konnte. Auf ihrem Namensschild stand ROXANNE JAMISON.

»Ich würde gern Gerald Johnson sprechen.«

Die glatte Haut auf ihrer Stirn runzelte sich. »Haben … Sie … einen Termin?«, fragte sie und schaute wieder auf ihren Bildschirm.

»Nein.«

»Es tut mir leid. Sie müssen einen Termin ausmachen.«

»Bitte sagen Sie ihm, Acacia Collins Lambert sei hier, Maribelle Collins’ Tochter.«

Die Rezeptionistin zog die Augenbrauen hoch. »O…kay.« Sie drückte einen Knopf auf dem eleganten Telefon und wiederholte die Nachricht voller Skepsis. »Ja … hier am Empfang … selbstverständlich, Mr. Johnson.« Als sie aufsah, lag Respekt in ihrem Blick. »Er wird Sie jetzt empfangen«, teilte sie Kacey mit. »Ich bringe Sie zu seinem Büro.« Sie stand von ihrem Schreibtischstuhl auf, öffnete ein Türchen im Empfangstresen und führte Kacey mehrere Gänge entlang, vorbei an zahlreichen Glastüren, bis sie schließlich um eine letzte Ecke bog und mit Kacey durch eine große, offen stehende Doppeltür aus Walnussholz trat. Offenbar wurden sie erwartet.

Kacey verspürte einen Anflug von Furcht, ähnlich wie Lampenfieber, als sie Miss Jamison hineinfolgte.

Gerald Johnson saß an seinem Schreibtisch, die Hemdsärmel über seinen gebräunten Armen hochgekrempelt, die Augen auf die Tür gerichtet, das silberne, noch volle Haar sorgfältig aus dem Gesicht gekämmt.

»Mr. Johnson, das ist Ms. Lambert«, teilte ihm die elfenhafte Rezeptionistin mit.

Er stand auf. »Danke, Roxie. Bitte schließen Sie die Türen hinter sich.«

Die Rezeptionistin tat, worum er sie gebeten hatte, und Johnson, etwa eins fünfundachtzig groß, die Schultern noch immer breit und kräftig, wandte seine ganze Aufmerksamkeit der Tochter zu, die er nie kennengelernt hatte. Er machte sich nicht die Mühe zu lächeln, sondern sagte schlicht: »Hallo, Acacia. Ich habe dich erwartet.«

 

Seine Hände umklammerten das Lenkrad seines Lexus, sein Herz raste, sein Hemd war schweißnass. Trotz des dichten Schneefalls raste er mit Höchstgeschwindigkeit über die Straße.

Sie wusste es!

Das Miststück hatte es herausgefunden.

Hatte herausgefunden, dass der elende Wurm, der sie gezeugt hatte, Gerald Johnson war, und jetzt käme es zum Showdown.

Er hätte sie schon viel früher erledigen sollen!

Sein ganzes Werk stand kurz davor, zerstört zu werden.

All seine Pläne, die er so sorgfältig erarbeitet hatte, würden auffliegen.

Um sich zu beruhigen, atmete er ein paarmal tief ein und aus und redete sich ein, dass er lediglich vor einer weiteren Herausforderung stünde, einem klitzekleinen Hindernis, das es aus dem Weg zu schaffen galt.

Mit konzentriert zusammengekniffenen Augen fuhr er weiter. Er ging auch nicht vom Gas, als ihm auf der anderen Straßenseite ein großes Fahrzeug mit der Aufschrift STBARTHOLOMEW HOSPITAL entgegenkam, das Richtung Grizzly Falls rollte. Erst als er nach Missoula hineinkam, wurde er langsamer, um sich dem Stadtverkehr anzupassen.

Reiß dich zusammen, ermahnte er sich selbst und trat vor einer Fußgängerampel auf die Bremse, um eine Frau mit Handy über die Straße zu lassen, die die wartenden Autos kaum zu bemerken schien und zielstrebig auf ein Geschäft mit in festlichem Rot und Grün gekleideten Schaufensterpuppen zuhielt.

Die Hände in seinen Autofahrerhandschuhen waren klamm, sein Oberkörper trotz der niedrigen Temperatur im Wagen noch immer schweißgebadet.

Er blickte in den Rückspiegel und vergewisserte sich, dass ihm niemand folgte.

Natürlich nicht. Sobald die Ampel auf Grün sprang, drückte er das Gaspedal durch.

Den Rest der Fahrt kam er unerträglich langsam voran, so kam es ihm vor, seine Gedanken dagegen rasten mit Überschallgeschwindigkeit durch seinen Kopf. Kurze, scharfe Bilder von denen, die er seine Geschwister nannte – tot und lebendig –, sowie von dem Miststück, das ganz versessen darauf zu sein schien, alles zu zerstören.

Er zwang sich äußerlich zur Ruhe und lenkte den Lexus auf den Parkplatz am Verwaltungsgebäude der väterlichen Firma. Ihr Wagen stand auch da.

Sein Magen verkrampfte sich, und er musste sich zwingen, daran zu glauben, dass nicht alles verloren war.

Noch nicht.