Kapitel 14

Damit waren wir doch schon längst durch.« Pescoli stützte sich auf ihren Ellbogen und blickte auf ihn hinab. Sie lagen in Santanas großem Bett, aus dem Wohnzimmer flackerte das Licht des Kaminfeuers durch die offene Tür ins Schlafzimmer des Blockhauses. Seufzend blickte sie auf den Mann hinunter, den sie liebte, auch wenn sie es hasste, sich diese Tatsache einzugestehen. Mein Gott, sie war doch verrückt. Besonders nach ihm.

Es duftete nach Chili – Truthahn-Chili, hatte er ihr mitgeteilt –, vermischt mit dem Geruch der brennenden Holzscheite. Ihr Thanksgiving-Dinner war alles andere als traditionell gewesen, und dafür liebte sie ihn. Die meiste Zeit hatten sie genau hier verbracht, in seinem Bett; sein Hund, ein Husky namens Nikita, lag zusammengerollt auf dem Fußboden in der Nähe der Tür. Durchs Fenster sahen sie den Schnee fallen, und für ein paar wundervolle friedliche Stunden war es so, als gäbe es nur sie beide auf der Welt.

Santana war nackt, genau wie sie, seine Haut hob sich dunkel von den weißen Laken ab, das schwarze Haar fiel ihm zerrauft in die Stirn, seine tiefbraunen Augen glühten vor Leidenschaft, und sie fand ihn einfach nur unglaublich sexy. Immer noch, obwohl sie schon über ein Jahr zusammen waren.

Der Mistkerl hatte den Mut zu grinsen, seine Zähne blitzten weiß auf in dem dämmrigen Raum. »Ich denke, damit sind wir noch lange nicht durch, im Gegenteil: Wir werden das Thema wieder und wieder durchkauen, bis du endlich der Tatsache ins Auge siehst, dass du mich brauchst.«

»Brauchst?«

»Exakt. Genau das tust du. Finde dich damit ab.«

»Ich brauche –«

»– niemanden«, beendete er den Satz für sie. »Ja, ich weiß. Das habe ich schließlich oft genug gehört.«

»Warum setzt du mich dann unter Druck?« Er hatte sie gebeten, bei ihm einzuziehen. Wieder einmal. Vor einem Jahr, während ihrer Genesung von den seelischen und körperlichen Wunden, die ihr ein geistesgestörter Serienkiller beigebracht hatte, hatte sie ihm beigepflichtet, dass es eine gute Idee sei, zusammenzuwohnen. Die Vorstellung war verlockend gewesen, hatte ihr ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Aber jetzt …

»Komm schon, Regan. Wäre das denn so schlimm?« Er streckte seine warme, schwielige Hand nach ihr aus und ließ sie ihre Rippen hinaufgleiten. Ihre Haut kribbelte, wo er sie berührte, und sie spürte, dass sie erregt wurde. »Wir könnten so viel Spaß haben.« Er richtete sich auf und berührte mit der Zunge eine ihrer Brustwarzen. Sein Atem strich heiß über ihre schweißfeuchte Haut. »Denk darüber nach. Das könnten wir jeden Tag haben: Liebe spät in der Nacht, Liebe am Morgen …«

Sie verspürte das vertraute Verlangen tief in ihrem Innern. Als merkte er, wie stark sie auf ihn ansprach, ließ er seine Hand tiefer rutschen und spreizte die Finger zwischen ihren Beinen, so dass er mit den Fingerspitzen ihre empfindlichsten Punkte berührte. »Denk darüber nach«, wiederholte er flüsternd.

»Du kannst ein echter Mistkerl sein, Cowboy, wenn du es darauf anlegst.«

»Jahrelange Übung.« Wieder die Zunge. Eine kurze Berührung, die ihr Innerstes zum Schmelzen brachte.

Ihre Brustwarzen richteten sich auf. Sie stöhnte.

Sie wollte ihn, ja, verdammt, sie wollte ihn wirklich, konnte einfach nicht genug bekommen von diesem Mann.

Santana lachte, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Ich meine es ernst.«

»Ich auch.« Geschmeidig wie eine Raubkatze rollte er sich auf sie und drückte sie auf die Matratze. In seinen Augen loderte ein dunkles, heftiges Feuer. »Wir reden jetzt lange genug davon zusammenzuziehen.«

»Ich weiß, aber ich habe immer noch Kinder zu Hause …«

»Denen eine starke Vaterfigur guttun würde.«

»Oh …«, sagte sie, doch sein Gewicht, das genau auf den richtigen Stellen lastete, machte es ihr schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Was zum Teufel stimmte nicht mit ihr? Obwohl sie auf die vierzig zuging, war sie mit einem Mal so scharf wie ein Teenager. Zumindest, wenn es um diesen verfluchten Santana ging, und das Schlimmste war: Dieser Mistkerl wusste das!

»Es läuft doch gut«, sagte sie.

»Es könnte besser laufen«, widersprach er.

»Oder schlechter.«

»Komm schon, Regan, nun riskier doch mal was.« Er küsste sie voller Leidenschaft, dann knabberte er an ihrer Unterlippe.

»Wenn du denkst, du kannst mich überreden, indem du … oooh.« Seine Hand wanderte wieder zwischen ihre Beine, und sie konnte nicht anders, als sich ihm entgegenzuwölben, ihr Blut rauschte, ihr Herz schlug einen Trommelwirbel. Die Finger ins Laken gekrallt, schloss sie die Augen und gab sich ihm hin. Als er in sie eindrang, stöhnte sie laut auf und spürte, wie sie die vertraute Woge der Erregung durchflutete, als er anfing, sich in ihr zu bewegen, keuchend, die Haut feucht vor Schweiß.

War der Gedanke an eine gemeinsame Zukunft wirklich so schlimm? Der Gedanke, den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen?

Doch jetzt konnte sie nicht weiter darüber nachgrübeln und wollte es auch gar nicht. Im Augenblick wollte sie nur die Nacht mit ihm genießen, und zwar ganz.

 

Kacey blickte aus den großen Fenstern auf der Rückseite der Rolling-Hills-Seniorenresidenz und stellte fest, dass sie länger bei ihrer Mutter geblieben war, als sie vorgehabt hatte. Draußen glitzerten die großen Schneeflocken im Licht der Außenbeleuchtung, die strategisch über das Gelände verteilt war. Ein offener Pavillon, dekoriert mit weißen Lichterketten, erstrahlte in der Ferne, auch eine der Koniferen war festlich erleuchtet.

Einige andere Gäste hatten ihr Festessen beendet und winkten Maribelle auf ihrem Weg aus dem Speisesaal zu oder blieben an ihrem Tisch stehen, um ihr ein frohes Thanksgiving zu wünschen. Maribelle stellte sie Kacey vor und wünschte ihnen ebenfalls frohe Feiertage.

Kacey wollte gerade aufstehen, als ein großer, stattlicher Mann mit kahlrasiertem Kopf und militärischer Haltung zu ihnen trat und sie unbefangen anlächelte.

»Ist das deine Tochter?«, fragte er, und Maribelle beeilte sich, Kacey David Spencer vorzustellen, der verkündete, er sei »bezaubert«. Als wären sie am Set eines Films aus den fünfziger Jahren. »Sie sind so schön wie Ihre Mutter«, bemerkte er und zwinkerte Maribelle zu, die tatsächlich errötete. »Die beste Bridge-Spielerin von Rolling Hills, wenn nicht der ganzen Stadt. Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Acacia.« Er tätschelte zärtlich die Schulter ihrer Mutter, bevor er durch die Doppeltür zum Foyer verschwand.

»Verstehst du, warum es mir hier gefällt?«, fragte ihre Mutter, den Blick auf Spencers steifen Rücken geheftet.

»Ja, ich denke schon. Und ich verstehe jetzt, warum du so versessen darauf warst, dass ich herkomme. Du wolltest, dass ich ihn kennenlerne, hab ich recht?«

Ihre Mutter machte Anstalten zu leugnen, dann zuckte sie die Achseln. »Du hast mich ertappt.«

»Ist es etwas Ernstes zwischen euch?«

»Aber nein!« Maribelle lachte, ein glockenhelles Lachen, das Kacey schon seit Jahren nicht mehr gehört hatte. »Ich nenne ihn den Commander«, vertraute sie ihr kichernd an.

»Hast du dich verliebt?«

»Nun, das weiß ich nicht.«

»Mom. Lüg mich nicht an. Das liegt doch klar auf der Hand. Warum habe ich vorher nie von ihm gehört?«

»Es gab nichts zu erzählen, wirklich nicht.« Doch das Funkeln in ihren Augen strafte ihre Worte Lügen. »Was denkst du?«

»Über ihn oder über dich?«

»Über uns.«

»Ich möchte nur, dass du glücklich bist«, hörte sich Kacey sagen, doch auch wenn sie den beiden ihren Segen gab, so hatte sie Fragen, und eine davon war, warum ihre Mutter in all den Jahren, die sie mit Kaceys Vater verheiratet gewesen war, nie so unbefangen glücklich gewirkt hatte. Warum hatte Kacey die Ehe ihrer Eltern stets als angespannt empfunden? Sie war zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter ihren Vater nie wirklich geliebt hatte, dass sie der Ansicht gewesen war, unter ihrem Stand geheiratet zu haben, als sie die Frau eines Handwerkers geworden war, wo sie doch Bildung, eine Karriere vorweisen konnte. Maribelle hatte als Krankenschwester an einer anerkannten Klinik gearbeitet und sich womöglich zu Höherem berufen gefühlt, zu etwas, das sie jetzt in David Spencer sah.

Kacey fragte sich auch, wie gut sie ihre Mutter kannte. Wie gut sie sie je gekannt hatte. Maribelle war voller Geheimnisse, eine Frau, die die Wahrheit nur zu gern verschleierte.

 

»Na so was! Sie sind tatsächlich da!«

Dan Grayson stand im Türrahmen, übers ganze Gesicht grinsend, und riss die Tür weit auf, damit Alvarez eintreten konnte.

Sie hätte beinahe auf dem Absatz kehrtgemacht, als sie den Wagen neben der Garage entdeckt hatte, so hoch mit Schnee bedeckt, dass es ihr unmöglich war, die Marke festzustellen. Er sah aus wie ein Kleinwagen.

»He, Hattie! Wir haben Gesellschaft!«, rief er über die Schulter, und Alvarez sank der Mut. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Es ist höllisch kalt draußen!« Er gab die Schwelle frei und winkte sie ins Haus. Selena zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn ihr ganz und gar nicht danach zumute war.

Was hatte sie da bloß für einen Fehler gemacht! Er bat sie nur herein, weil er höflich sein wollte, das war alles. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr; sie würde sich einfach so schnell wie möglich entschuldigen und auf den Heimweg machen. Beklommen trat sie in die Diele und hörte donnernde Schritte.

Zwei Mädchen um die sieben, eineiige Zwillinge, bogen um die Ecke. Eine war rosa gekleidet, die Haare von einem passenden Haarband aus dem Gesicht gehalten, die andere, ganz in Grün, trug einen Pferdeschwanz, aus dem sich einzelne Strähnen lösten. Sie lächelte, und Alvarez bemerkte die Lücke in ihren Schneidezähnen.

»Mädchen, das ist Detective, ähm, Ms. Alvarez«, stellte er sie vor, dann, an Selena gewandt: »Selena, das sind McKenzie und Mallory.«

»Hi«, sagte das Mädchen in Rosa, McKenzie. Ihre Schwester starrte Alvarez kritisch an. Plötzlich waren weitere Schritte zu vernehmen. Eine Frau, die einer Fünfziger-Jahre-Sitcom hätte entsprungen sein können, trat zu ihnen. Groß, schlank, mit hohen Absätzen und einem wie angegossen sitzenden Etuikleid, bedachte sie Alvarez mit einem strahlenden Lächeln.

»Ich bin Hattie«, begrüßte sie sie mit warmer Stimme. Sie trug tatsächlich eine Perlenkette und hatte eine dieser zarten, völlig überflüssigen Schürzen um ihre Wespentaille gebunden. Ihr Haar war zurückgekämmt und mit einem eleganten Kamm festgesteckt.

»Selena«, stellte sich Alvarez vor und reichte Hattie, die ganz offensichtlich die Gastgeberin war, peinlich berührt die Weinflasche.

»Ich freue mich, dass Sie es geschafft haben, noch dazu rechtzeitig!«, rief diese und fuhr, an Grayson gewandt, fort: »Nun nimm ihr doch bitte mal den Mantel ab. Meine Güte, Dan, also wirklich!« Sie blickte auf die Flasche. »Cabernet! Mein Lieblingswein!«

Rette mich!, flehte Alvarez innerlich, reichte Grayson ihren Mantel und folgte Hattie ins Esszimmer. Auf dem Tisch lag eine sorgfältig gebügelte Decke, frisches Grün und ein Preiselbeerzweig waren rund um die dicken weißen Kerzen in der Mitte dekoriert. Vier Platzteller aus Porzellan standen auf den Tischsets und schrien förmlich heraus, dass man sie nicht erwartet hatte.

»Dan, kannst du die bitte öffnen?«, fragte Harriet und reichte ihm mit einem Zwinkern die Flasche, dann verschwand sie durch einen Durchgang, vermutlich in die Küche.

»Alles klar!« An Selena gewandt, erklärte er: »Hattie ist … war … meine Schwägerin. Die Mädchen sind meine Nichten.«

»Oh.«

Das erklärte nicht viel, und als habe er ihr ihre Verwirrung angemerkt, fügte er hinzu: »Hattie ist die Schwester meiner Ex-Frau.«

Ach du liebe Güte, das wurde ja immer komplizierter!

Sie gingen in die Küche, wo Hattie einen weiteren Teller aus dem Schrank nahm. Auf der Anrichte stand ein perfekt gebratener Truthahn, daneben eine offene Flasche Chablis mit zwei nicht zueinanderpassenden Weingläsern.

Alvarez stöhnte innerlich, während Hattie in der Besteckschublade klapperte und Messer, Gabel und Löffel zusammensuchte.

Mach das Beste daraus, ermahnte sie sich. Halte einfach die nächsten Stunden durch und lächle. Auch wenn das hier dein ganz persönlicher Alptraum ist, du schaffst das. Wie schwierig kann ein bisschen Smalltalk schon sein, verglichen mit der Suche nach Hinweisen zum Tod von Jocelyn Wallis oder den Ermittlungen am Tatort eines sadistischen Killers? Es ist doch nur ein Essen –!

»Dan, warum fängst du nicht schon mal an, den Truthahn zu tranchieren?«, schlug Hattie vor, während Grayson den Rotwein öffnete.

»Gute Idee.«

Alvarez steckte die Nase in das Glas, das er ihr anbot. Diese Seite hatte sie noch nie an Grayson gesehen. Den entspannten Familienmenschen. Ja, was hatte sie denn gedacht?

Hattie glasierte die Süßkartoffeln bis zur Vollendung, dann rührte sie die Bratensoße für die Kartoffeln an. Preiselbeersoße und eine Kürbis-Pie kühlten auf dem Tresen ab. Martha Stewart, Amerikas berühmte Vorzeigehausfrau, war nichts gegen Graysons Schwägerin. So viel häuslicher Perfektionismus war einfach zu viel für Alvarez. Warum war sie bloß hierhergekommen? Sie kam sich wie ein Eindringling vor.

Sie nahmen am Tisch Platz; Alvarez den Zwillingen gegenüber, Grayson an einem Ende des Tisches, Hattie am anderen. In Gedanken spielte Alvarez alle möglichen Fluchtmöglichkeiten durch. Hattie bestand darauf, dass die Mädchen ein Dankgebet sprachen. Mallory kriegte kein Wort heraus, aber McKenzie sagte ein Kindergebet auf, das sie offenbar für diesen Anlass gelernt hatte.

Das Essen schmeckte köstlich, der Truthahn war saftig, die Süßkartoffeln ein Gedicht, aber trotzdem konnte Alvarez das Ganze nicht richtig genießen.

Als Hattie das Dessert servierte und Grayson zuckersüß anstrahlte, tastete sie verstohlen nach ihrem Handy und drückte heimlich eine Taste, die es zum Klingeln brachte. Mit vorgetäuschtem Unmut zog sie das Telefon aus der Tasche und meldete sich: »Alvarez.« Dann schob sie mit besorgtem Gesicht ihren Stuhl zurück, stand auf und ging in die Diele. »Ja? Ist gut … Verstanden … Ja, selbstverständlich …« Nach etwa drei Minuten kehrte sie ins Esszimmer zurück. »Es tut mir leid, ich muss los«, sagte sie. »Bleiben Sie sitzen. Ich hole mir meinen Mantel selbst.«

»Ärger?« Grayson war bereits aufgestanden.

»Nichts Ernstes.« Zumindest das war nicht gelogen.

»Dann bleiben Sie doch noch zu Kaffee und Pie«, bat Hattie, die vorbildlich geschwungenen Augenbrauen besorgt gekräuselt. McKenzie ahmte den Ausdruck ihrer Mutter nach, während Mallory probehalber einen Finger in die Schlagsahne tauchte, die auf ihrer warmen Kürbis-Pie schmolz.

»Es tut mir leid, das geht wirklich nicht. Vielen Dank fürs Essen. Es war großartig.« Alvarez wich Graysons Blick aus. Sie, die stets Geradlinige, hasste es, Ausflüchte zu Hilfe zu nehmen.

Grayson folgte ihr in die Diele und nahm ihren Mantel von einem Garderobenhaken neben der Tür. »Was immer es sein mag – kann es nicht warten?«

»Ich glaube nicht.«

Er fasste sie beim Ellbogen. »Was ist denn los?«

»Etwas mit den Laboranfragen und Berichten ist durcheinandergeraten – ein ganz schöner Schlamassel.« Er ließ sie los. Fast hätte sie vor Erleichterung aufgeseufzt. »Wie ich schon sagte: nichts Ernstes. Ich will das Ganze nur sofort in Ordnung bringen.« Er half ihr in den Mantel. Plötzlich kam sie sich albern vor. Sie griff nach ihrem Schal, der ebenfalls an dem Garderobenhaken hing, und öffnete gleichzeitig die Haustür. »Vielen Dank für die Einladung. Das Essen war unglaublich gut«, sagte sie und eilte hinaus zu ihrem Wagen.

Beim Jeep angekommen, warf sie einen Blick über die Schulter und sah, dass Grayson noch immer auf der Schwelle stand und ihr hinterherblickte.

»Dan?«, ertönte Hatties gedämpfte Stimme aus dem Esszimmer.

Alvarez steckte energisch den Schlüssel ins Zündschloss. Der Motor erwachte zum Leben, die Scheibenwischer fegten den Schnee beiseite, der sich schon wieder auf der Windschutzscheibe angesammelt hatte. Sie setzte zurück und trat aufs Gas. Im Rückspiegel sah sie, wie sich die Tür von Graysons Blockhaus schloss. Das warme Licht war verschwunden, sie war allein in der dunklen, kalten Winternacht.

Enttäuschung machte sich in ihrem Herzen breit. Was hatte sie erwartet?, schalt sie sich selbst. Ein intimes Dinner zu zweit mit dem Sheriff, bei dem sie ihren mitgebrachten Wein tranken und sich womöglich sogar küssten?

Der Gedanke war mehr, als sie im Augenblick verkraftete. Sie bog in die Hauptverkehrsstraße ein, nur um hinter einem Schneepflug stecken zu bleiben, der gemächlich den Schnee an den Straßenrand schob und mit seiner gewaltigen Schaufel über die Eisschicht schabte.

Alvarez bremste auf fünfzehn Meilen pro Stunde ab und nahm sich vor, nie wieder eine solche Dummheit zu begehen.

 

Sie war noch immer nicht zu Hause.

Das konnte er an den nicht vorhandenen Wagenspuren erkennen und an den Lichtern, die in einem bestimmten Abstand gemäß der Zeitschaltuhr an- und ausgingen. Die Schreibtischlampe im Arbeitszimmer schaltete sich um fünf Uhr morgens ein, die Tischlampe unten um halb vier nachmittags. Immer pünktlich, Tag für Tag.

Andere Lichtpfützen waren durch die nackten Zweige der umstehenden Bäume nicht zu erkennen. Im Frühling und im Sommer war ihr Haus auf dem Gelände der ehemaligen Farm ihrer Großeltern von der Straße aus nicht zu sehen, doch um diese Jahreszeit trugen die Pappeln, Espen und Traubenkirschen keine Blätter und boten freie Sicht.

Er war vorsichtig gewesen, da er nicht wusste, ob sie heute noch nach Hause zurückkehren würde; sie sollte nicht durch seine Fußabdrücke im Schnee auf ihn aufmerksam werden. Dennoch war er hier, denn auch wenn ihm ein Überfall im Augenblick vermutlich mehr Aufmerksamkeit bescheren würde, als ihm lieb war, wollte er eine günstige Gelegenheit ergreifen, sobald sie sich ergab. Außerdem boten ihm die Feiertage eine gewisse Deckung: Es waren mehr Menschen unterwegs als sonst, und die Leute waren beschäftigt und abgelenkt. Zurzeit hatte sie weder eine Alarmanlage noch einen Wachhund noch einen Mitbewohner, doch all das konnte sich von jetzt auf gleich ändern. Er musste schnell sein, handeln, solange es noch machbar war.

Langsam war er an ihrer Auffahrt vorbeigerollt, dann noch einmal, um sicherzugehen, dass sie nicht aufgetaucht war, und hatte beschlossen, diese Chance zu nutzen.

In anderthalb Meilen Entfernung stellte er den Wagen hinter einem Geröllhaufen in einem alten Steinbruch ab und schnallte seine Langlaufski an. Glücklicherweise grenzte die Farm ihrer Familie an einen Nationalpark, so dass er nur über wenige Zäune steigen musste. Zahlreiche Wege und Pfade wanden sich durch die Pinien-, Lärchen- und Wacholderbestände; gut, dass er zuvor die kürzesten Routen ausgekundschaftet hatte.

Ausgerüstet mit einem Nachtsichtgerät, glitt er vorsichtig durch den stillen Wald, schreckte einen Schneehasen auf, der schnell in ein Dickicht aus tief verschneiten Kiefern hoppelte.

Adrenalin pulste durch sein Blut, und er sperrte die Ohren auf und scannte mit Hilfe seines Nachtsichtgeräts die Umgebung, dann lief er weiter. Ein Reh verharrte wie erstarrt, als er vorüberglitt, ein Marder schlich durchs Unterholz.

Er rammte die Skistöcke in den Schnee und durchquerte den Wald bis zu dem Zaun, der den Besitz der Collins vom Nationalpark trennte. Nachdem er eine Minute gezögert, erneut die Ohren gespitzt und die vor ihm liegenden Felder nach Anzeichen von Leben abgesucht hatte, schnallte er die Ski ab und stieg in seine Schneeschuhe, dann kletterte er über den Zaun.

Auf der anderen Seite bewegte er sich so schnell und leise wie Jahre zuvor in der Wüste, als er bei den Marines gewesen war. Er hielt sich dicht am Zaun, damit seine Spuren nicht allzu sehr auffielen, und schlich zu den Nebengebäuden. Trotz der Minustemperaturen schwitzte er; seine Nerven waren straff wie Drahtseile, seine Muskeln angespannt. Er war bereit.

An der Rückseite des Stalls angekommen, hielt er inne und atmete tief durch, dann drückte er sich an den Außenmauern entlang in Richtung Haus. Warmes Licht fiel aus dem Arbeitszimmerfenster.

Wider Willen musste er schmunzeln.

Ihr Bestreben, das Haus so erscheinen zu lassen, als sei jemand anwesend, war amateurhaft, wenn nicht naiv.

Er betrat den Garten hinter dem kleinen Farmhaus und blieb wieder stehen. Prüfend sah er sich um, vergewisserte sich, dass tatsächlich niemand darin war, dann schlich er durchs Gebüsch zur Rückseite der Garage.

Der Schnee fiel so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen erkennen konnte; die nächtliche Stille wurde nur von seinen eigenen Atemgeräuschen und dem Klopfen seines Herzens durchbrochen.

Er wäre ungestört, fragte sich nur, wie lange.

Schnell löste er die Schneeschuhe von seinen Stiefeln, dann schlich er um die Garage herum und leuchtete mit seiner Taschenlampe durch das Fenster der Seitentür.

Kein Auto.

Sie war nicht zurückgekehrt.

Noch nicht.

Vorsichtig setzte er seine Füße genau in die Trittspuren, die sie zuvor hinterlassen hatte, bis er an der hinteren Verandatür angekommen war. Aus den Tiefen seiner Jackentasche förderte er einen Schlüsselbund zutage und suchte den heraus, den er neu hatte anfertigen lassen. Er grinste, als er daran dachte, wie er die Heizung außerstand gesetzt und so getan hatte, als sei er vom Reparaturdienst. Nachdem er die Schlüssel aus ihrer Handtasche gefischt hatte, hatte er behauptet, ein Ersatzteil besorgen zu müssen, und war schnurstracks zum nächsten Schlüsseldienst gefahren. Anschließend hatte er die Schlüssel in ihre Handtasche zurückgelegt und die Heizung mit dem »Ersatzteil« repariert, das er zuvor ausgebaut hatte. So simpel. So leicht. Und genauso leicht öffnete er jetzt die Tür.

Er zog seine Stiefel aus, versteckte sie hinter einem Stapel Gartenmöbel und tappte auf Socken in Acacias Zuhause. Verschiedene Gerüche umhüllten ihn: kalter Kaffee, eine dunkle Pfütze in der Glaskanne der Kaffeemaschine; verschiedene Düfte von den Duftkerzen, die überall in den Zimmern verteilt waren; selbst ein Hauch ihres Parfums hing in der Luft.

Er griff in seine Jackentasche, zog ein kleines Glasfläschchen heraus und schüttete das Puder in den gemahlenen Kaffee, der auf einem Regal neben der Kaffeemaschine stand. Dann – genau wie er es bei seinem Einsatz in Afghanistan gelernt hatte – verteilte er Wanzen in ihrem Schlafzimmer, im Wohnzimmer, in der Küche und im Arbeitszimmer. Sie hatten eine große Reichweite, so dass er Gespräche auch über eine weite Entfernung mithören oder aufzeichnen konnte.

Perfekt.

Immer noch grinsend, brachte er das letzte winzige Mikrophon unter ihrem Bett an und fragte sich, was er da wohl zu hören bekäme.

Dann blickte er auf die Uhr und verließ das Haus auf demselben Weg, auf dem er es betreten hatte, zuversichtlich, dass der heftige Schneefall seine Spuren verwischen würde. Er schloss die Tür hinter sich ab, zog seine Stiefel an und achtete auch diesmal darauf, genau in ihre Fußstapfen zu treten. Käme sie nicht gleich in der nächsten halben Stunde nach Hause, würde ihr niemals auffallen, dass ihre Schritte zuvor kleiner gewesen waren.

O ja, sie war eine ganz Clevere, diese Acacia Lambert, aber sie hatte keine Ahnung, mit wem sie es zu tun hatte.

Doch das wusste keine von ihnen, und es gab noch so viele andere, auf die er sein Augenmerk richten musste.

Lächelnd stellte er sein Nachtsichtgerät ein und fand seine Schneeschuhe genau da, wo er sie abgestellt hatte.

Er malte sich aus, wie das Miststück am Morgen die erste Tasse Kaffee trinken würde. Acacia Lambert hätte absolut keine Chance gegen ihn. Nicht die geringste.

Das würde ihr nur allzu bald klarwerden.

Doch dann wäre es schon zu spät.