Kapitel 35

Noreen Johnson saß zusammengesunken auf der Pianobank, die schmalen Schultern nach vorn gebeugt, aber Alvarez bemerkte, dass sie den Kampf noch nicht aufgegeben hatte. »Um Himmels willen, Gerald, warum konntest du die Hosen nicht oben lassen? Erst Robert … und jetzt noch jemand? Wie konntest du nur?« Ihre Wangen waren flammend rot.

»Was geschehen ist, ist geschehen«, sagte Gerald matt. »Wir können später darüber sprechen. Ich denke, die Beamtinnen möchten uns ein paar Fragen stellen.«

»Es ist vorbei!«, flüsterte Noreen. »Das Leben, so wie es bislang für uns war, ist vorbei.«

Gerald räusperte sich und richtete den Blick auf Pescoli und Alvarez. »Was kann ich für Sie tun, Detectives?« Er lehnte sich vor und verschränkte die Hände zwischen den Knien.

Alvarez übernahm die Befragung. Gerald Johnson schwor, keinem der Opfer jemals begegnet zu sein. Er hatte nicht gewusst, dass sie Resultat seiner Samenspende waren, hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, bis Acacia Lambert am Nachmittag bei ihm aufgekreuzt war. Daher konnte er auch nicht sagen, ob eine der Frauen Feinde gehabt hatte, doch der Reaktion seiner Kinder bei der Familienkonferenz hatte er entnommen, dass sie genauso überrascht waren wie er.

Pescoli gab die stumme Beobachterin, und Alvarez bemerkte, dass ihre Partnerin mehr als einmal auf den Fernsehbildschirm mit dem Familienporträt blickte. Möglicherweise war das ihre Art, sich ihren Verdruss nicht anmerken zu lassen, aber nur zuzuhören und überhaupt nicht zu reagieren, entsprach so gar nicht ihrem Charakter.

Weshalb Alvarez ebenfalls einen schnellen Seitenblick auf den Fernseher warf, doch ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf. Das Foto war vor Jahren aufgenommen worden und zeigte ein fünfundzwanzig bis dreißig Jahre jüngeres Ehepaar Johnson, das seine Kinder um sich herum versammelt hatte. Sie alle trugen aufeinander abgestimmte Kleidung: die Jungen weiße Hemden, dunkelblaue Westen und khakifarbene Hosen, die drei Mädchen rote Kleider. Auch ihre Namen waren in die Aufnahme eingefügt worden.

»Wir haben Ihnen nichts zu sagen«, beharrte Noreen und warf ihrem Ehemann einen eindringlichen Blick zu, bevor sie erneut versuchte, ihre Kinder per Handy zu erreichen. Vergeblich. »Wo stecken die bloß alle?«, murmelte sie und schloss die Augen. »Wissen sie denn nicht, dass wir sie brauchen?«

»Sie hatten sieben Kinder?«, schaltete sich Pescoli unvermittelt ins Gespräch ein.

»Ich hatte sieben Kinder«, stellte Noreen klar und schnaubte entrüstet. »Gerald hatte offensichtlich ein paar mehr.«

»Was ist mit Ihren Töchtern geschehen? Agatha-Rae und Kathleen?«, fragte Alvarez’ Partnerin weiter.

»Ich möchte nicht darüber sprechen.« Noreens Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Sie schloss die Augen, ihr Gesicht verzog sich schmerzerfüllt.

»Agatha war unsere Nachzüglerin«, antwortete Gerald an ihrer Stelle. »Bei der Geburt gab es Komplikationen, und wir wussten schon früh, dass sie das nicht unbeschadet überstanden hatte. Sie würde geistig … zurückbleiben. Aber sie war …«

»Ein Engel.« Noreen blickte Pescoli durchdringend an. »Ich verstehe nicht, was das mit Ihrer Befragung zu tun hat.«

»Wie ist sie gestorben?«, hakte diese nach.

Zunächst schien Noreen keine Antwort geben zu wollen, aber dann sagte sie zögernd und mit gesenktem Kopf: »Es war ein Unfall. Ich bin schnell einkaufen gegangen, war keine halbe Stunde fort. Clarissa, unsere älteste Tochter, sollte auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen …« Sie seufzte und schaute auf, in Richtung des Fensters an der Vorderseite des Hauses, doch Alvarez wusste, dass sie nicht den Schnee sah, der dort vom Himmel fiel. Ihr Blick war nach innen gerichtet, auf etwas, an das sie lieber nicht erinnert werden wollte. »Soweit ich verstanden habe, spielten die Jungs ihre typischen Jungsspiele – immer in Bewegung. Aggie … hätte eigentlich ihr Mittagsschläfchen machen sollen …« Noreen blinzelte und schüttelte den Kopf, als wollte sie das, was sie vor sich sah, daraus vertreiben. »O Gott, das schaffe ich nicht!«

Wieder übernahm Gerald. »Wir wissen nicht genau, was passiert ist, aber wie Noreen schon sagte: Die Jungs rauften mit ihren Holzschwertern und rannten die Treppen auf und ab. Aggie wachte auf und tappte mit ihrer Kuscheldecke aus ihrem Zimmer. Einer der Zwillinge –«

»Cam«, ergänzte Noreen mit kläglicher Stimme.

»- ist gegen sie gerannt.« Ein Muskel an Geralds Kiefer zuckte. »Sie hat sich in ihrer Decke verwickelt und … ist die Treppe hinuntergestürzt. Es war ein Versehen. Ein Unfall.«

Alvarez fing Pescolis Blick auf.

Es war ein Unfall. Genau wie der von Shelly Bonaventure, die versehentlich eine Überdosis geschluckt hatte? Oder wie der von Jocelyn Wallis, die versehentlich über eine Brüstung gestürzt war? Wie der von Elle Alexander, die versehentlich mit ihrem Minivan von der Straße in den Fluss geschleudert war? Ganz zu schweigen von Karalee Rierson, deren Langlaufpartie ein tödliches Ende genommen hatte, als sie gegen einen Baum prallte – versehentlich?

 

Halb verrückt vor Sorge um Eli stapfte Kacey durch den knietiefen Schnee in Richtung Scheune.

Sie war soeben um die Ecke der Garage gebogen und fast am Tor angelangt, das Hof und Garten vom Scheunenhof trennte, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus.

Eli?

Schnell drehte sie sich um.

Nein, der dunkle Schemen, der sich ihr von der hinteren Veranda aus näherte, war viel zu groß für einen Jungen.

Trace?

Gott sei Dank!

Erleichterung durchflutete sie. »Trace!«, rief sie und ging auf die Gestalt zu, doch dann blieb sie abrupt stehen, gepackt von eiskalter Furcht.

Die Art und Weise, wie er sich bewegte, hatte sie aufmerken lassen. Sie spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten. Der heftige Schneesturm trübte die Sicht, aber jetzt, da sich die Entfernung zwischen ihnen verringert hatte, war klar, dass dieser Mann nicht Trace war. Von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, eine merkwürdig geformte Brille über der ebenfalls schwarzen Skimaske, ein Gewehr in der behandschuhten Hand, kam er auf sie zugelaufen.

Nein!

Sie spurtete los, rannte so schnell sie konnte, doch ohne recht vorwärtszukommen, durch den dicken Puderschnee. Sie hörte ihn hinter sich, hörte, wie er näher und näher kam.

O Gott!

Panisch riss sie das Handy aus der Tasche und drückte auf Wiederwahl, dann schrie sie: »Trace!«, doch ihre Stimme ging im Tosen des Sturms unter.

»Miststück!«, knurrte er dicht hinter ihr. Sie kämpfte sich vorwärts, machte sich auf eine Kugel gefasst, die ihr das Rückgrat zerschmettern würde.

Schneller! Schneller! Schneller!

»Trace!«, schrie sie wieder.

Wenn sie nur eine Waffe hätte, ein Messer, einen Stein, irgendetwas!

Wumm!

Heftiger Schmerz explodierte in ihrem Kopf.

Ihre Knie gaben nach, und sie stürzte mit dem Gesicht voran in den Schnee, die Arme ausgebreitet. Ihr Handy flog durch die Luft und landete in einer Schneewehe. Ihr Kopf schmerzte höllisch. Es ist vorbei, dachte sie. Ich sterbe.

Ihr wurde schwarz vor Augen, und sie wartete darauf, das Bewusstsein zu verlieren, als sie plötzlich seine Hände spürte. Grob umfasste er ihre Knöchel und schleifte sie durch den tiefen Schnee.

Sie hörte ihn keuchen. Fluchen. Schimpfen.

»… hochnäsiges Miststück … macht alles kaputt … eine Ärztin … ja, richtig … hält sich für verdammt clever …«

Kacey versuchte, sich zu wehren, um sich zu treten, aber ihr Gehirn verweigerte seinen Dienst. Sie spürte, wie er sie die Verandastufen hochschleifte, ihr Kinn schlug gegen die vereisten Stufen. Wumm! Wumm! Wumm! Die Haut platzte auf. Der Nasenknorpel knirschte. Ihr Gesicht war eine einzige Wunde. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie stöhnte. Ihre Haut stach, als hätte sich ein ganzes Nest voller Wespen auf sie gestürzt, und sie sah, dass sie eine Blutspur hinter sich her bis ins Haus zog.

Sie musste bei Bewusstsein bleiben.

Wer war der Mann?, fragte sie sich, obwohl das im Grunde egal war. Er hatte sie am Leben gelassen, was bedeutete, dass er andere Pläne hatte … schreckliche, grauenhafte Pläne.

Denk nach, Kacey! Gib nicht auf! Du darfst nicht ohnmächtig werden! Halt durch …

Er zerrte sie weiter über den Linoleumboden durch die Küche ins Wohnzimmer vor den Kamin, in dem das Feuer fast heruntergebrannt war. Als er sie auf den Rücken drehte, spürte sie, wie ihr das Blut übers Gesicht rann.

»Darauf habe ich jahrelang gewartet«, knurrte er. Ihr Blick fiel auf die Mündung seines Gewehrs, an der Blutstropfen und Haare klebten, und ihr wurde klar, dass er nicht auf sie geschossen, sondern ihr von hinten auf den Kopf geschlagen hatte. »Verdammt, ich wünschte, ich hätte dich schon beim letzten Mal erledigt.«

Im Parkhaus, dachte sie. Dieser schwarz gekleidete Kerl ist derselbe, der dich damals überfallen hat! Wer zum Teufel mochte er sein?

»Aber dann würde ich das jetzt nicht genießen können.« Die Stimme … o Gott, er war einer von den Zwillingen! Cameron? Colton? Spielte das eine Rolle? Er sah hinter seiner schwarzen Skimaske auf sie herab, und sie stellte sich vor, wie er lächelte, ein kaltes, überlegenes Lächeln.

Sie blinzelte und versuchte, seinem Blick standzuhalten.

»Du bist eine von ihnen«, sagte er. »Eine von den ›Unwissenden‹, wenn du als Tochter einer Hure auch nicht zu Geralds Reagenzglas-Brut zählst. Weibliche Abkömmlinge. Erbärmliche, geisteskranke Weiber.«

Wie bitte? Ihre Schmerzen raubten ihr fast das Bewusstsein, doch sie gab sich alle Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen. Verstohlen sah sie sich nach einer Waffe um, nach irgendetwas, das sie gegen ihn einsetzen konnte, auch wenn er mit einer seiner großen Hände noch immer ihre Fußknöchel und mit der anderen das Gewehr umfasst hielt.

»Weibliche Abkömmlinge, geistig zurückgeblieben wie Aggie, depressiv wie Kathleen. Lebensmüde, hat es geheißen, aber das gründete tiefer. Sehr viel tiefer. Ein genetischer Defekt, den sämtliche weibliche Nachkommen von Gerald in sich tragen. Es ist nicht immer gleich ersichtlich, aber irgendwann kommt es heraus.«

»Das ist doch verrückt«, stieß sie mühsam hervor. Ihr Instinkt sagte ihr, dass sie den Spieß umdrehen musste. »Du bist verrückt.«

Er zuckte zusammen, dann schüttelte er den Kopf. »Tu das nicht«, warnte er sie und zog scharf die Luft ein. Ihre Worte machten ihm offenbar zu schaffen, denn er verstärkte den Griff um ihre Knöchel. »Es ist mir egal, was du denkst, Acacia, denn du bist eine von ihnen. Eine von denen, die alles ruinieren könnten. Von den durchgeknallten Weibern.«

Gerald Johnsons Sohn wirkte auf Kacey völlig unzurechnungsfähig. Offenbar hatte er sich irgendeine kranke, alptraumhafte Wahnvorstellung über die weiblichen Abkömmlinge seines Vaters zusammengesponnen. »Was ist mit Clarissa?«, fragte sie mit schmerzhaft geschwollenen Lippen.

»Zu gegebener Zeit … es muss alles nach Plan gehen … Unfälle … wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist …«

Sie musste diesem Irren entkommen! Musste sich retten und Eli in Sicherheit bringen!

Im Kamin knackte ein Scheit.

Der Kopf ihres Angreifers schnellte herum, dann richtete er seine grimmig glänzenden Augen hinter der Skimaske wieder auf Kacey. »Schluss jetzt! Du wirst mir nicht mehr in die Quere kommen!«

Jetzt!

Mit aller Kraft warf sich Kacey herum.

Ihre Knöchel entglitten seinen Fingern.

Sie war frei!

»Verdammte Scheiße!«

Sie konzentrierte sich auf seinen Schritt und trat nach oben.

So fest sie konnte.

Direkt in die Weichteile.

Treffer!

Er krümmte sich zusammen und zog pfeifend die Luft ein. »Oooooh! Verflucht! Du … verdammtes … Miststück!«

Eilig versuchte Kacey, sich hochzurappeln, noch während er außer Gefecht gesetzt war, und stieß sich die Schulter an der Sofakante. Sie fühlte sich noch immer benommen von dem Schlag auf den Kopf. Wo zum Teufel steckte Trace? Endlich gelang es ihr, sich aufzurichten und in die Küche zu taumeln. Hier war es noch dunkler als im Wohnzimmer, allein der Lichtschein des heruntergebrannten Kaminfeuers fiel noch durch den Türbogen. Sie musste hier raus und Trace finden! Eli finden! Oder hatte dieses Monster die beiden längst umgebracht?

Ihr Peiniger geiferte vor Zorn und stieß wirre Verwünschungen aus.

Beweg dich!

Kacey hörte, wie er hinter ihr herkam.

» … schmutzige Hurentochter … dafür wirst du bezahlen …«

Trace’ Handy lag auf dem Küchentresen … irgendwo im Dunkeln … wenn sie es nur finden und damit hinaus in die Nacht laufen könnte … Dann hätte sie womöglich eine Chance! Sie könnte die Neun-eins-eins anrufen oder Alvarez oder … Ihr Kopf dröhnte, ihr Gesicht schmerzte, trotzdem stürzte sie vor.

Klick!

Das unverkennbare Geräusch eines Gewehrs, das entsichert wurde.

»Du wirst nirgendwohin gehen«, sagte er mit rauher Stimme. »Nicht, nachdem ich all die Jahre auf diesen Moment gewartet habe.«

Plötzlich bemerkte sie auf dem Tresen etwas Silbriges. Trace’ Handy! Keinen Meter von ihr entfernt!

Sie spürte die kalte Gewehrmündung in ihrem Rücken.

»Einen Schritt, und ich drücke ab«, drohte er.

Sie erstarrte. Draußen heulte der Sturm. Wie mochten ihre Chancen stehen?

»Wenn ich dich hier treffe« – er drückte ihr die Mündung direkt über den Pobacken ins Kreuz –, »wird es eine Weile dauern, bis du verblutet bist. Du wirst alles ganz genau mitbekommen, spüren, wie langsam das Leben aus dir heraussickert.«

Sie schloss die Augen. Wartete auf den Schuss. Auf den brennenden Schmerz, der durch ihr Fleisch schnitt. Warum drückte er nicht endlich ab?

Weil er will, dass es aussieht wie ein Unfall. Genau wie bei den anderen Frauen. Eine Schusswunde im Rücken konnte nichts anderes bedeuten als Mord. Denk nach, Kacey! Du bist in der Küche. Vielleicht kannst du dir ein Messer schnappen …

»Denk nicht mal dran«, flüsterte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Ich habe keine Probleme damit, deinen süßen Hintern in die Hölle zu befördern.«

»Warum tust du’s dann nicht endlich?«

Wumm!

Ihr Kopf explodierte, und sie brach auf dem Fußboden zusammen.