Kapitel 4

Trace O’Halleran war genervt. Vielmehr total genervt, als er, ohne die Geschwindigkeitsbegrenzung zu beachten, die zehn Meilen von der Evergreen Elementary School zum Krankenhaus zurücklegte. Er hatte seinen Sohn abgeholt. Eli hatte sich beim Spielen auf dem Schulhof verletzt und musste nun geröntgt werden.

Irgendwer hatte nicht richtig auf seinen Jungen aufgepasst, und sobald Trace sicher sein konnte, dass Eli gut versorgt war, würde ihm dieser Jemand eine überzeugende Erklärung dafür liefern müssen.

»Halt durch, Kumpel«, sagte er zu seinem Sohn, der neben ihm in dem zerbeulten alten Pick-up saß.

Eli nickte und schniefte; entweder kämpfte er gegen die Tränen an oder gegen die unangenehme Erkältung, die er seit über einer Woche mit sich herumschleppte.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte Trace durch die Windschutzscheibe. Die ersten Schneeflocken wirbelten zu Boden. Er folgte dem fließenden Verkehr den Boxer Bluff hinunter zum unteren Teil von Grizzly Falls am Ufer des Flusses.

Eli, sieben Jahre alt, hielt seinen linken Arm, der bereits von einer überlasteten Schulkrankenschwester geschient und in eine Schlinge gesteckt worden war. Sie hatte Trace dringend geraten, unverzüglich einen Arzt aufzusuchen. »Ich habe bereits mit der Poliklinik in der A-Street telefoniert, damit Sie nicht warten müssen, was im Pinewood Community oder im St. Bartholomew Hospital durchaus der Fall sein könnte. Lassen Sie seinen Arm auf jeden Fall röntgen. Ich glaube zwar nicht, dass er gebrochen ist, aber womöglich findet sich eine Knochenfissur. Und wenn Sie schon mal da sind, lassen Sie die Ärzte doch bitte einen Blick in seine Ohren und in seinen Hals werfen. Ich habe seine Temperatur gemessen; er hat ein bisschen Fieber – achtunddreißig Komma drei.«

Trace hatte nicht widersprochen, sondern sich sogleich auf den Weg gemacht. Einmal hatte er geschlagene fünf Stunden in der Notaufnahme von St. Bart gesessen und darauf gewartet, dass sich jemand um seine zerfleischte Hand kümmerte. Sein Ehering hatte sich im Getriebe des Mähdreschers verfangen, als er die Weizenernte eingebracht hatte. Seinen Arm hatte er gerade noch befreien können, doch der Unfall hätte ihn um ein Haar seinen Ringfinger gekostet. Schlussendlich hatte man auch diesen retten können, doch die Nerven waren so stark geschädigt, dass der Finger taub blieb. Damals hatte er beschlossen, nie wieder seinen Ehering zu tragen. Es machte ohnehin keinen großen Unterschied, denn Leanna, Elis Mutter, war mit einem Fuß bereits zur Tür hinaus gewesen.

Nein, Trace wollte auf keinen Fall, dass sein Junge stundenlang auf irgendwelchen unbequemen Plastikstühlen hocken musste, wenn er es irgendwie vermeiden konnte. Also würden sie in die A-Street fahren, zu diesem niedrigen Gebäude, in dem seit fast siebzig Jahren Patienten behandelt wurden und das an das frisch renovierte und gerade wiedereröffnete St. Bartholomew Hospital angrenzte. Natürlich hatte man auch die Poliklinik während dieses Zeitraums mehrfach überholt.

Ungefähr vor dreißig Jahren hatte ihn sein eigener Vater hierhergebracht, nachdem Rocky ihn abgeworfen hatte, der temperamentvolle braune Wallach, den O’Halleran senior gegen drei Rinder eingetauscht hatte. Rocky war einst Rodeo-Pferd gewesen, und als der neunjährige Trace versucht hatte, auf ihm zu reiten, war etwas von seinem alten Feuer wieder aufgeflammt, so dass Trace in hohem Bogen durch die Luft geschleudert worden war. Er hatte sich eine Gehirnerschütterung zugezogen, wie der alte Doc Mallory nach einer kurzen Untersuchung feststellte. »Um Himmels willen, Junge, nutz den Verstand, den Gott dir gegeben hat, und lass die Finger von Wildpferden!«, hatte der Arzt ihm damals geraten.

Jetzt blickte Trace auf seinen Sohn, der noch immer vorsichtig seinen verletzten Arm wiegte und dabei aus dem Beifahrerfenster starrte.

Eli hatte die Kiefer fest aufeinandergepresst; seine Augen waren gerötet, doch bislang kämpfte er tapfer gegen die Tränen. Sein Atem beschlug die Scheibe, die verschmiert war von der Nase ihres Hundes Sarge – ein buntgefleckter Streuner, der ihnen vergangenes Jahr halb verhungert zugelaufen war. Halb Australischer Schäferhund, halb weiß Gott was, war der Hund Teil ihrer kleinen Familie geworden. Als Trace nach dem Anruf von der Grundschule hinaus zu seinem Pick-up gelaufen war, war Sarge ihm nachgaloppiert und enttäuscht am Tor zurückgeblieben, als Trace »Nächstes Mal, alter Junge!« gesagt hatte. Trotz der Kälte und der Tatsache, dass er sich in die warme Scheune zurückziehen könnte, würde der Schäferhundmischling vermutlich die ganze Zeit über am Tor warten, bis sie endlich nach Hause kamen.

Als hätte er gespürt, dass sein Vater ihn ansah, murmelte Eli: »Ich hasse Cory Deter! Er ist so ein Blödmann.«

»Ist Cory schuld an deinem Unfall?«

Eli zuckte leicht die Schultern.

»Komm schon, Kumpel. Mir kannst du’s doch erzählen.«

Eli kritzelte mit dem Zeigefinger seiner unverletzten Hand Männchen auf die beschlagene Scheibe, hustete, zuckte zusammen und sagte: »Er hat mich geschubst. Wir waren auf dem Klettergerüst, wollten nach ganz oben, und er hat sich einfach hochgezogen und mich weggestoßen.«

»Und du bist runtergefallen.«

»Ja.«

»Wo waren die Lehrer?«

»Unter dem Vordach.« Er sah Trace von der Seite an. »Miss Wallis war nicht da.«

»Nach ihr habe ich nicht gefragt«, erwiderte Trace schärfer als beabsichtigt. Er schaltete den Scheibenwischer an.

»Ich weiß.« Wieder ein Schulterzucken.

Trace kam sich vor wie ein Idiot. Was hatte er sich bloß dabei gedacht, als er letztes Jahr mit der Lehrerin seines Sohnes ausgegangen war? Es war ein Fehler gewesen, das hatte er von der Sekunde an gewusst, als sie ihn zum Abendessen eingeladen hatte. Er hatte sich eingeredet, es wäre wegen Eli, sie wolle mit ihm über den Jungen und dessen schulische Probleme sprechen, doch im Grunde hatte er gespürt, dass es nicht darum ging.

Dennoch war er viermal mit ihr ausgegangen. Nun, fünfmal, wenn man den Abend mitrechnete, an dem sie versucht hatten, das wieder zu entfachen, was nie wirklich gebrannt hatte. Sie waren gescheitert – und sie waren beide enttäuscht gewesen.

Er seufzte. Jocelyn Wallis hatte geglaubt, die Wunde heilen zu können, die Leanna geschlagen hatte, als sie aus Elis und seinem Leben verschwunden war. Sie hatte nicht glauben wollen, dass Trace nicht an einer Beziehung interessiert war und es vorzog, sein Kind ohne weibliche Unterstützung großzuziehen.

Da war sie nicht die Einzige. Auch Eli konnte nicht vergessen, dass sich sein Vater ein paar Male mit seiner Lehrerin getroffen hatte. Er hing sehr an Jocelyn Wallis und hätte es anscheinend gern gesehen, wenn sie öfter bei ihnen gewesen wäre.

Ja, er hatte wirklich Mist gebaut.

Jetzt sagte sein Sohn: »Sie war heute nicht in der Schule.«

»Miss Wallis? Nun, egal. Aber irgendwer muss die Aufsicht über den Pausenhof gehabt haben.«

»Mr. Beene hatte Aufsicht, weil Miss Wallis nicht da war. Er ist Vertretungslehrer.«

»Ich werde mit ihm reden müssen.«

»Es war nicht seine Schuld«, versicherte ihm Eli. »Schuld hatte der blöde Cory Deter!«

»Ich weiß, dass du stinksauer bist, trotzdem: keine Beschimpfungen, okay?«

»Aber es stimmt doch.« Eli wischte sich mit dem Jackenärmel die Nase und presste wieder die Kiefer aufeinander. »Er ist ein gemeiner Arsch.«

»Komm schon, Eli. Es ist nicht nett, so über jemanden zu sprechen –«

»Er hat mich geschubst!«

»Und das war falsch«, stimmte ihm Trace mit ruhiger Stimme zu.

»Ja, das war es!« Eli funkelte ihn an, wütend darüber, dass sein Vater nicht zu begreifen schien, wie unmöglich Cory Deter war.

»Na schön, vielleicht ist er tatsächlich ein gemeiner Arsch.«

Eli entspannte sich ein wenig.

»Aber das bleibt unter uns, klar?« Trace deutete mit dem Finger mehrmals zunächst auf Eli und dann auf sich. »Unser Geheimnis.«

»Jeder weiß doch, dass er ein Arsch ist.«

»Wie auch immer. Du musst es ja nicht noch mal sagen.«

»Aber Becky Tremont und ihre Freundin Tonia haben mich ausgelacht!« Elis Gesicht war plötzlich knallrot. Verlegen. Schon mit sieben Jahren zählte, was die Mädchen von einem dachten.

»Mach dir deswegen keine Sorgen«, beruhigte ihn Trace. »Und lass den Kopf nicht hängen, wir sind schon fast da.« Sie kamen gerade am Fuß des Hügels an, als die Lichter der Eisenbahnschranken zu blinken begannen und diese sich mit einem lauten Warnton schlossen. Trace biss die Zähne zusammen. Ein Zug mit graffitibesprühten Güterwaggons und leeren Flachwagen raste vorbei. Hinter den Schranken staute sich der Verkehr.

Komm schon, dachte Trace, ungehalten über diese Verzögerung. Er machte sich Sorgen um seinen Sohn, da er nicht wusste, wie ernsthaft er verletzt war. »Wir sind gleich da«, tröstete er ihn wieder und tätschelte Elis schmale Schulter.

Endlich war der Zug vorüber, die Schranken hoben sich, die Autoschlangen lösten sich auf. Noch eine Ampel, dann wären sie an der Poliklinik angekommen.

 

»Ich hab hier einen Notfall«, sagte Heather und steckte den Kopf durch die Tür zu Kaceys kleinem Büro. »Eli O’Halleran. Sieben Jahre alt. Hat sich auf dem Pausenhof verletzt. Die Schule hat seinen Vater angerufen und zu uns geschickt.«

»Ist er schon Patient bei uns?« Der Name sagte Kacey nichts. Sie saß an ihrem Schreibtisch und hatte sich zum Mittagessen gerade einen Becher Blaubeerjoghurt aufgemacht. Seit sie durch die Tür von Behandlungszimmer zwei getreten war, war sie nicht mehr zur Ruhe gekommen. Elmer Grimes, ihr erster Patient an diesem Tag, hatte das ihr zur Verfügung stehende Zeitlimit deutlich überschritten und sie ganz schön in Verzug gebracht.

»Eli O’Halleran ist noch nicht hier gewesen. Sein Kinderarzt ist Dr. Levoy drüben in Middleton.«

»Und der hat sich letztes Jahr zur Ruhe gesetzt.« Kacey nickte und schob schon den Joghurtbecher zur Seite. Sie hatte einige Patienten übernommen, deren Eltern mit Dr. Levoys Nachfolger nicht zufrieden gewesen waren, und auch wenn sie Allgemeinmedizinerin war, so hatte sie während ihrer Ausbildung viel Zeit in der Pädiatrie verbracht. Sie mochte Kinder und hatte mehrfach überlegt, sich auf Kinderheilkunde zu spezialisieren, doch dann war in ihrem Privatleben die Hölle ausgebrochen und sie hatte beschlossen, diesen Plan vorerst zurückzustellen und nach Grizzly Falls zurückzukehren.

»Die Schule hat ihn zu uns geschickt, damit sie nicht so lange warten müssen wie nebenan im Krankenhaus. Sie sind vor ungefähr fünf Minuten angekommen; ich habe schon die persönlichen Daten aufgenommen und den Versicherungskram geklärt, außerdem habe ich bei Dr. Levoy angerufen und die Patientenakte angefordert.« Sie grinste. »Ich dachte, wir könnten ihn vor den Nachmittagspatienten einschieben, du willst ihn doch bestimmt nicht abweisen.«

»Na schön, dann werde ich ihn mir gleich mal ansehen.« Kacey schob ihren Schreibtischstuhl zurück.

»Er sitzt mit seinem Vater in Behandlungszimmer drei. Die wichtigen Vorabinformationen sind schon auf dem Computerbildschirm.«

»Gut.« Kacey schlüpfte wieder in ihren Arztkittel. Sie war daran gewöhnt, dass ihre tägliche Routine jederzeit zu den ungünstigsten Augenblicken unterbrochen werden konnte. Das gehörte zu ihrem Job als Allgemeinmedizinerin in einer Kleinstadt dazu. »Du sagst, du hast bereits mit jemandem von der Schule gesprochen?«

»Ja, mit der Schulkrankenschwester, Eloise Phelps.« Heather verschwand wieder in Richtung Rezeption, während Kacey zu Behandlungszimmer drei eilte und nach einem leisen Klopfen eintrat.

Ein magerer Junge mit einem dunkelblonden Wuschelkopf saß auf dem Untersuchungstisch. Sein Gesicht war schneeweiß, er schniefte und kämpfte ganz offensichtlich gegen die Tränen. Vorsichtig hielt er seinen linken Arm, der in einer Schlinge lag. Neben ihm stand sein Vater, einen grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht.

Er war groß, über eins fünfundachtzig, kräftig gebaut und hatte breite Schultern. Ein dunkler Zweitagebart bedeckte sein markantes Kinn. Bekleidet war er mit abgewetzten Jeans, einem karierten Hemd und abgetragenen Stiefeln, die typisch waren für diese Gegend von Montana. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah sie aus tiefliegenden, zornig dreinblickenden Augen an, als wolle er Nägel spucken.

»Ich bin Dr. Lambert«, stellte sie sich dem Jungen vor und blickte auf die Patientenakte, die Heather ihr auf den Computerbildschirm gestellt hatte. »Du musst Eli sein.«

Der Junge nickte und presste die Lippen aufeinander. Er versuchte, tapfer zu sein. Seine Angst, so schätzte sie, war vermutlich schlimmer als die Verletzungen.

»Trace O’Halleran.« Der Cowboy stellte sich selbst vor und streckte eine Hand aus, den Blick auf das Namensschild an ihrem Kittel geheftet: DR. ACACIA LAMBERT. Er hatte eine große Hand. Schwielig und kräftig. Sein Gesicht war gebräunt und gegerbt von Wind und Sonne, sein braunes Haar durchzogen von hellen Strähnchen, die, so vermutete sie, ebenfalls von der Arbeit draußen stammten. Seine Augen waren außergewöhnlich blau, seine Nase machte den Eindruck, als wäre sie mindestens einmal gebrochen gewesen, das Lächeln schien ihm schwerzufallen. »Ich bin Elis Vater.«

Sie schüttelte seine Hand. »Also, was ist passiert?«

»Ein Unfall auf dem Pausenhof«, erklärte Trace. »Erzähl’s ihr«, forderte er den Jungen auf und versetzte ihm einen sanften Stups.

»Man hat mich vom Klettergerüst geschubst.« Zorn flackerte in den braunen Augen des Jungen auf.

»Warum erzählst du mir das nicht, während ich deinen Arm untersuche?«, schlug Kacey ihm vor.

Eli schaute seinen Vater an, der nickte.

Rasch wusch sie sich die Hände in dem kleinen Waschbecken, trocknete sie mit einem Papiertuch ab und streifte sich ein Paar Latexhandschuhe über. Dann entfernte sie vorsichtig Schlinge und Schiene, ein kleines Wattepolster und ein Kühlpad. Elis Gesicht wurde noch weißer. »Tut weh, nicht?«

Der Junge brachte kein Wort heraus, aber er nickte mit Tränen in den Augen, was ihn verlegen zu machen schien.

»Wie ist es zu dem Unfall gekommen?«

»Cory Deter hat mich vom Klettergerüst geschubst.« Eli blinzelte jetzt heftig. Seine Lippen wurden schmal. »Er ist ein blöder Arsch.«

»Nun, da muss ich dir recht geben, wenn er dafür verantwortlich ist«, stimmte sie ihm zu. »Was genau ist denn passiert?«

»Ich bin runtergefallen! Und … und ich habe meine Hände so nach vorne gehalten …« Er streckte die Arme aus, zuckte zusammen und atmete scharf ein. Sein linker Arm fiel zurück an seine Seite, und er wurde wieder aschfahl.

»Okay, dann hast du den Sturz also mit den Armen abgefangen.« Kacey nickte. »Wann genau war das?«, fragte sie, an den Vater gerichtet.

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete dieser. Er blickte sie durchdringend an, als versuche er, aus ihr schlau zu werden. »Ich habe den Anruf von der Schule vor ungefähr vierzig Minuten bekommen; vermutlich gleich, nachdem es passiert ist.«

»Gut.« Sie wandte sich wieder Eli zu. »Jetzt muss ich mir deinen Arm ein wenig genauer ansehen. Einverstanden?«

Der Junge blickte sie unter seinen dichten Augenbrauen hinweg misstrauisch an.

»Das ist schon in Ordnung«, beruhigte ihn sein Vater und legte seine große Hand auf die des Kindes, doch er wirkte genauso beunruhigt wie sein Sohn.

»Na schön«, stimmte Eli schließlich zu.

Vorsichtig untersuchte sie den Arm. Prüfte sein Bewegungsvermögen, fuhr mit den Fingern über die Muskeln und Gelenke, beobachtete Elis Reaktionen. Die ganze Zeit über wich Trace nicht von seiner Seite.

»Ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist«, sagte sie schließlich, »aber das können wir erst nach dem Röntgen ausschließen. Es besteht immer die Möglichkeit einer Stressfraktur.«

Ein Muskel an Trace’ Kinn zuckte. »Das hat die Schulkrankenschwester auch gesagt, und sie meinte, er habe Fieber. Er hat eine Erkältung, die er einfach nicht loswird.«

»Wenn du schon mal da bist«, sagte Kacey zu Eli, »sollten wir auch deine Temperatur messen und anschließend in deinen Hals und vielleicht auch in deine Ohren sehen.«

Zögernd willigte Eli ein. Seine Temperatur lag nach wie vor bei achtunddreißig drei, seine Lymphknoten waren leicht geschwollen, die Trommelfelle gerötet und sein Hals so entzündet, dass sie einen Streptokokkenabstrich machte. »Sieht aus, als würdest du ein Antibiotikum brauchen«, sagte sie schließlich. »Ich wette, dein Hals tut ganz schön weh.«

»Höllisch«, bestätigte Eli und nickte zustimmend mit dem Kopf.

Trace runzelte die Stirn. »Du hast gar nichts gesagt.«

»Hat ja vorher auch nicht weh getan«, gab sein Sohn zurück.

»Das kann plötzlich auftreten. Sieht nach einer beidseitigen Ohrenentzündung aus; vermutlich hat er auch Streptokokken«, erklärte Kacey, an Trace gewandt, dann blickte sie wieder seinen Sohn an. »In ein paar Tagen wird es dir bessergehen, Eli«, versprach sie. »So, und jetzt werden wir erst mal ein Röntgenbild von deinem Arm machen, ja? Das Labor ist im Gebäude nebenan.« Sie setzte sich an den Computer und machte sich eine Notiz, die sie an ihren Laptop weiterleitete, dann wandte sie sich an Trace: »Sie können ihn jetzt sofort hinbringen. Ich rufe Sie wieder auf, sobald ich einen Blick auf das Röntgenbild geworfen habe. Es wird nicht lange dauern. Dann kann ich Ihnen auch sagen, ob ich es für nötig halte, dass Sie einen Orthopäden aufsuchen; ich kann einen Termin bei Dr. Belding in Missoula für Sie vereinbaren. Oder bei wem immer Sie möchten.«

Sie lächelte ihn ermutigend an, doch ihr Lächeln blieb unerwidert. »Ich habe schon öfter mit Dr. Belding zusammengearbeitet. Sie ist gut.«

Trace nickte knapp. »Danke.« Er half seinem Sohn vom Untersuchungstisch und sagte: »Lass uns gehen, Kumpel.«

Im selben Augenblick erschien Heather mit den Laborformularen. »Brauchst du noch etwas?«, fragte sie Kacey.

»Ich denke, wir haben alles. Vielen Dank.«

Heather kehrte zu ihrem Schreibtisch am Empfang zurück, während Kacey Trace die Formulare aushändigte. Um den Jungen aufzumuntern, sagte sie immer noch lächelnd: »Ich kenne eine Abkürzung, Eli. Wenn ihr einverstanden seid, begleite ich euch schnell rüber. Nur für den Fall, dass sich dein Dad verläuft.«

»Das wird er nicht! Er war bei den Army Rangers.«

Trace schnaubte und hielt ihnen die Tür auf. »Das ist schon ein paar Jahre her.«

»Aber du warst da!«, beharrte Eli.

»Damals, im finsteren Mittelalter«, scherzte er, als sie durch eine Reihe von Fluren und zu einer Hintertür hinauseilten. Der Wind pfiff durch Kaceys Arztkittel, Schnee sammelte sich in den Pflanztöpfen.

»Hier entlang«, sagte sie und hielt mit einer Hand ihren Kittel zusammen, während sie den kurzen Verbindungsweg entlangliefen. Noch bevor sie die Tür zum benachbarten Gebäude erreicht hatte, zog Trace sie schon auf und wartete, bis sie mit seinem Sohn hineingegangen war.

Drinnen war es sehr warm, Weihnachtsmusik spielte in den Gängen.

»So, von hier an müsst ihr allein zurechtkommen«, sagte sie, als sie die beiden bei einer der Laborantinnen ablieferte. »Ich sehe euch in ungefähr einer Stunde, dann habe ich mir die fertigen Bilder angesehen.«

»Okay«, sagte er. Ihre Blicke trafen sich, und sie bemerkte etwas Dunkles, Undefinierbares in seinen Augen.

Das bildest du dir nur ein.

Vielleicht war Trace einfach nur besorgt um seinen Jungen, doch sein offensichtliches Misstrauen ihr gegenüber empfand sie als der Situation völlig unangemessen. Nun, vielleicht misstraute er Ärzten oder der Medizin im Allgemeinen. Doch sie hatte ohnehin keine Zeit, sich über seine Marotten Gedanken zu machen.

Zusammen mit Randy, ihrem jungen MTA, kümmerte sie sich ungefähr eine Stunde lang um weitere Patienten: Cathy Singer kämpfte gegen eine Erwachsenenakne; zwei Jugendliche kamen mit Grippesymptomen vorbei; Kevin Thomas’ Mutter war überzeugt, ihr Sohn habe Läuse, da ein Fall in der Schule aufgetreten war; und Helen Ingles, die offensichtlich doch noch einen Babysitterersatz für ihren Neffen gefunden hatte, schaute herein, um ihren Diabetes überwachen zu lassen.

Pünktlich nach einer Stunde waren die O’Hallerans vom Labor zurück in Behandlungszimmer drei. Kurz zuvor waren die Röntgenbilder bei Kacey eingetroffen: Eine kleine Fraktur an Elis linker Elle war darauf zu erkennen. »Sieht aus, als würdest du einen Gips brauchen«, teilte sie Vater und Sohn mit und zeigte den beiden die Knochenfissur. »Du hast die Wahl«, fügte sie, an Eli gewandt, hinzu. »Rosa oder Blau.«

»Rosa?«, fragte Eli entsetzt. Seine Nase kräuselte sich vor Abscheu. »Auf keinen Fall!«

»Also blau«, sagte sie mit einem Grinsen, während Randy das entsprechende Set aus einem Schrank nahm und ihr beim Anrühren der Gipsmasse half. Eli war absolut tapfer, fast so, als wäre er selbst bei den Army Rangers gewesen, und versuchte, genauso stoisch zu wirken wie sein Vater.

Als der Gips saß und der MTA die Reste und Verpackungen wegräumte, erteilte Kacey den beiden Anweisungen. »Die Hauptsache ist, dass du die Elle nicht wieder verletzt. Du musst es daher in nächster Zeit ruhig angehen lassen.« Sie warf dem Jungen einen eindringlichen Blick zu. »Kein Klettergerüst, und lass dich nicht wieder von Cory Wie-auch-immer schubsen.« Sie beugte sich vor, so dass sie auf Augenhöhe mit Eli war. »Glaubst du, du schaffst das?«

Der Junge nickte, dann blickte er auf seinen Gips. »Vielleicht könnten Sie ihm das sagen? Er ist ein echter Vollidiot.«

Trace stieß einen langen Seufzer aus. »Ich dachte, das wäre unser Geheimnis. Erinnerst du dich?«

»Aber das weiß doch jeder!«, rief Eli.

»Nun, ich schätze, das Geheimnis ist gelüftet«, sagte Kacey grinsend, dann wandte sie sich wieder an Eli: »Aber ich würde mir keine Sorgen machen wegen Cory … ähm …«

»Cory Deter«, ergänzte Trace.

»Richtig … wegen Cory Deter. Ich denke, dein Dad als ehemaliger Army Ranger wird das für dich regeln. Soweit ich weiß, sind diese Jungs ziemlich tough.«

»Ja, das sind sie!«, pflichtete Eli ihr eifrig bei, und Trace machte ein Gesicht, als wollte er im Erdboden versinken.

»Wir gehen jetzt besser«, sagte er und griff nach der Jacke seines Sohnes, als dieser herausplatzte: »Sie sehen aus wie Miss Wallis!«

Kacey blickte den Vater an, der sichtlich zusammenzuckte. »Ist das gut oder schlecht?«

»Gut, nehme ich an.« Trace nickte ohne große Überzeugung.

»Na prima.« Zuerst Shelly Bonaventure, jetzt die unbekannte Miss Wallis. Es schien ihre Doppelgängerinnen-Woche zu sein.

»Sie ist die Freundin meines Vaters«, fügte Eli erklärend hinzu.

Trace erstarrte. »Eli, ich habe dir doch gesagt, dass Miss Wallis und ich – nicht zusammen sind. Sie ist nicht meine Freundin.« Peinlich berührt wandte er sich an Kacey: »Entschuldigung. Miss Wallis war letztes Jahr in der ersten Klasse Elis Lehrerin.«

»Und ihr seid miteinander ausgegangen!«, rief Eli und funkelte seinen Vater an.

Dieser blickte entschuldigend zu Kacey: »Wir sind in der Tat ein paarmal miteinander essen gegangen, und ja, Sie sehen ihr in der Tat ähnlich.«

»Offenbar habe ich ein recht geläufiges Gesicht.«

Trace schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf, das Licht der Neonlampen fing sich in seinen hellen Strähnen. »Wenn ich nun schon komplett in Verlegenheit bin, können Sie mir bestimmt verraten, wie ich einen quirligen Siebenjährigen bremsen soll?«

»Das ist vermutlich unmöglich, aber du, Eli, solltest daran denken, dich zu schonen. Keine Raufereien. Verstanden?«

Er nickte feierlich.

»Versprochen? Pfadfinder-Ehrenwort?«

»Ich bin kein Wölfling.«

»Okay, dann glaube ich dir eben so«, sagte sie und zog skeptisch die Augenbrauen hoch.

»Versprochen!«, bestätigte Eli ernst.

»Gut. Dein Dad wird mir Bericht erstatten.« Sie lächelte Trace an, der ihr Lächeln diesmal immerhin zögerlich erwiderte, obwohl es sogleich erstarb, als sie ihn bat, sich bei ihr zu melden, sollten die verordneten Schmerzmittel seinem Sohn nicht helfen. Er nickte grimmig.

Während sie das Rezept ausstellte, fügte sie hinzu: »Ich werde Sie ohnehin wegen der Streptokokken anrufen. Und dich« – sie deutete mit ihrem Stift auf Eli – »möchte ich in zehn Tagen wiedersehen. Meinst du, das geht?« Der Junge nickte eifrig. »Wunderbar.« Sie riss das Rezept vom Block und reichte es Trace. »Es wird ihm bald wieder gutgehen, doch ich denke, er sollte ein paar Tage zu Hause bleiben.«

»Jaaa!«, rief Eli und stieß seinen gesunden Arm in die Luft, was Kacey zeigte, dass es ihm bereits besserging.

»Rufen Sie mich auf alle Fälle an, wenn er starke Schmerzen bekommt oder wenn Ihnen sonst etwas merkwürdig vorkommen sollte. Das Team kann mich rund um die Uhr erreichen, und Dr. Cortez oder ich werden Sie dann umgehend zurückrufen.«

Trace steckte das Rezept in die Tasche und wirkte etwas entspannter. Behutsam legte er seinem Sohn die Jacke über die Schultern.

»So, Eli, du wirst brav sein, ja? Tu, was dein Vater dir sagt, und mach ihm keinen Ärger. Ach, und halt dich von Raufbolden fern«, riet ihm Kacey zum Abschied.

»Danke.« Trace’ tiefblaue Augen blickten ernst drein, und als er diesmal ihre Hand schüttelte, hatte sie den Eindruck, er hielte sie etwas länger fest als normal. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein.

Sie brachte die beiden zur Tür, während Randy am Computer einen kurzen Bericht schrieb, danach ging es gleich in Behandlungszimmer zwei weiter. Kacey konzentrierte sich nun auf Delores Sweeney, eine Mutter von vier Kindern, die stets gegen eine Erkältung, einen grippalen Infekt oder eine Pilzinfektion ankämpfte, und versuchte, alle Gedanken an den attraktiven Cowboy aus ihrem Kopf zu verbannen …