Kapitel 5
Die Auslosung für das Weihnachtswichteln war heute Morgen!«, schimpfte Joelle Fisher, als Pescoli am frühen Nachmittag in den Aufenthaltsraum kam, um ihre Tasse Kaffee wieder aufzufüllen. Die ganze Cafeteria war das, was Pescoli »joellig« nannte: Überall blinkten Weihnachtslichter, in der Mitte eines jeden Tisches standen kleine Schneemänner, Tannenzweiggirlanden mit Schmuckbändern umrahmten die Tür, und die normalen weißen Servietten neben der Kaffeemaschine waren durch rote und grüne ersetzt worden.
Doch dabei würde Joelle es nicht belassen, ahnte Pescoli; schon bald würde die festliche Dekoration die Flure, Büros und den Empfangsbereich überschwemmen, wo bereits ein drei Meter hoher Tannenbaum nur darauf wartete, geschmückt zu werden, direkt hinter der schusssicheren Glasscheibe, die man vergangenes Frühjahr dort eingebaut hatte.
»Ich war um sieben kurz hier, danach hatte ich außerhalb zu tun«, redete sich Pescoli heraus und ärgerte sich sofort über sich selbst. Was sollte das denn, sie musste sich doch nicht vor der Rezeptionistin rechtfertigen!
»Nun, du bist nicht die Einzige, die nicht erschienen ist.« Joelles Augen funkelten, und Pescoli, der schlagartig klarwurde, dass sie noch lange nicht aus der Sache raus war, stöhnte innerlich auf. »Also …« Joelle nahm einen Korb, dekoriert mit Zuckerstangen, und hielt ihn hoch über ihren Kopf. Erwartete sie wirklich, dass Pescoli mogeln und versuchen würde, heimlich einen der zusammengefalteten Papierschnipsel zu mopsen, um herauszufinden, welcher Name daraufstand, um ihn gegebenenfalls wieder zurückzulegen? Eigentlich keine schlechte Idee.
»Und alle machen mit? Im Ernst?«, fragte Pescoli misstrauisch.
»Selbstverständlich!«
»Sogar der Sheriff?«
»Sogar der Sheriff.«
»Was ist mit Rule?«, hakte Pescoli nach. Kayan Rule, ein großer und kräftiger Afroamerikaner, würde wohl kaum einen Sinn für derartigen Unfug haben.
»Er hat sein Los bereits heute Morgen gezogen, genau wie Selena.«
Na großartig, dachte Pescoli, dann hob sie folgsam den Arm und griff in den Korb, wo sie einen der wenigen verbliebenen Schnipsel mit den Fingerspitzen herausfischte. Zu oft schon hatte man ihr vorgeworfen, nicht teamfähig zu sein.
»Wunderbar!« Joelle war sehr zufrieden mit sich. »Und jetzt vergiss nicht, ihm oder ihr bis Weihnachten kleine Geschenke zuzustecken, mindestens eins pro Woche!«
Pescoli faltete den kleinen Streifen auseinander und las den Namen: Cort Brewster.
Ihr drehte sich der Magen um.
»Ich muss noch einmal ziehen!«, platzte sie heraus.
Joelle drückte den Korb an sich und zog herablassend eine ihrer perfekt gezupften Augenbrauen in die Höhe. »Umtauschen gilt nicht, Detective. Das passiert nun mal, wenn man zu spät kommt.«
Pescoli wollte widersprechen, doch dann beschloss sie, wegen einer so unbedeutenden Sache nicht vor Joelle zu Kreuze zu kriechen. Als sie den Aufenthaltsraum mit seinen festlichen Schneemännern und blinkenden Lichtern verließ, um zu Alvarez’ Schreibtisch zu gehen, hätte sie beinahe ihre Tasse Kaffee vergessen.
Wie gewöhnlich war ihre Partnerin in Papierkram vertieft. »Tausch mit mir«, bat Pescoli.
»Wie bitte?« Alvarez blickte auf.
»Beim Weihnachtswichteln. Bitte, tausch mit mir.«
Ausnahmsweise einmal brach Selena in lautes Gelächter aus. »Auf gar keinen Fall.«
»Ich meine es ernst.«
»Ich auch.«
»Das Ganze ist doch lächerlich«, brummte Pescoli.
»Dann muss es dich doch auch nicht kümmern. Kauf einfach ein paar Süßigkeiten oder eine DVD oder irgendetwas, leg es auf Brewsters Schreibtisch und lass es gut sein.«
»Du weißt es?«
»Ich bin Detective. Kein anderer Name hätte dich so auf die Palme gebracht.« Sie grinste. »Das könnte doch lustig werden.«
»So einfach ist das nicht«, widersprach Pescoli und dachte an das Debakel im letzten Jahr, als Jeremy eingebuchtet worden war. Damals war er mit Heidi Brewster zusammen gewesen, und ihr Vater war eingeschritten. Pescoli nicht, was ihr Sohn ihr nie verziehen hatte. Cort Brewster auch nicht. Er schien Pescoli nicht nur für das schlechte Benehmen ihres Sohnes, sondern auch für das seiner eigenen Tochter verantwortlich zu machen.
»Natürlich ist es das. Sonst klink dich halt aus.«
»Joelle hat gesagt –«
»– dass das Pflicht ist? Ernsthaft? Weihnachtswichteln? Das kann ich mir nicht vorstellen, aber ich werde sicherheitshalber noch einmal im Polizeihandbuch nachsehen.«
»Tu das«, erwiderte Pescoli gereizt.
Alvarez’ Grinsen wurde breiter, und sie schüttelte bedächtig den Kopf. »Überhaupt … seit wann hörst du eigentlich auf Joelle?«
»Seit ich nicht immer die Spielverderberin sein möchte.«
»Dann hör auf zu meckern, okay?« Selena wandte sich wieder dem Papierstapel vor ihr zu. »Ich hasse es, wenn du anfängst zu quengeln.«
»Ich kann nicht glauben, dass du da mitmachst«, erklärte Pescoli, dann stellte sie fest, dass sich das Gesicht ihrer Partnerin verfinsterte. Dennoch setzte sie nach: »Ist das hier das Büro des Sheriffs oder ein Bridge-Club?«
»Vielleicht könnten wir alle ein wenig Weihnachtsstimmung gebrauchen«, bemerkte Alvarez und fügte hinzu: »Gibt es nichts Wichtigeres, worüber du dich aufregen könntest?«
»Nur ungefähr eine Million andere Dinge.« Dinge, die nicht nur ihre Arbeit betrafen, sondern auch den Termin später bei der Schule, bei dem es um Biancas schwindendes Interesse an allem gehen sollte, was mit der Highschool von Grizzly Falls zusammenhing. Und dann war da noch Jeremy … immer wieder bereitete ihr Sohn ihr Sorgen.
»Dann vergiss das Wichteln. Wen kümmert’s schon?«
Vermutlich hatte Selena recht. Pescoli nippte an ihrem kalt werdenden Kaffee und wandte sich zum Gehen. Es war wirklich nur eine Kleinigkeit, und trotzdem hatte sie absolut keine Lust darauf. Mit Cort Brewster zusammenzuarbeiten und ihn zudem als Vorgesetzten zu haben, war schlimm genug; doch bei dem Gedanken, sich bei ihm einzuschleimen, indem sie ihm nette kleine Weihnachtsgeschenke zusteckte, drehte sich ihr der Magen um.
»Es könnte schlimmer sein!«, rief Alvarez ihr hinterher.
»Das kann ich mir kaum vorstellen.«
»Joelle könnte deinen Namen gezogen haben!«
Pescoli schloss die Augen und schauderte, als sie sich die Myriaden von Plastikwichteln vorstellte, dazu Karten, die Weihnachtslieder dudelten, griesgrämig dreinblickende Nussknacker zum Aufziehen und Schokoladenrentiere, die Joelle zweifelsohne schon gehamstert hatte. Schon bald könnte sich all das auf ihrem Schreibtisch ansammeln, wenn sie bis Weihnachten Tag für Tag ein neues, noch absurderes Kitschgeschenk zwischen den blutigen Bildern in ihren Mordakten fände.
»Da kann ich nur beten«, murmelte sie und machte sich auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz, auf dem sie bislang – glücklicherweise – noch keine kleinen Überraschungen von ihrem ganz persönlichen Weihnachtswichtel erwartete.
»Lass besser die Finger davon.« Gail Harding hatte sich vorsichtig an Hayes’ Schreibtisch herangeschlichen. Im Department ging es geschäftig zu, Stimmengewirr drang über die halbhohen Trennwände der Großraumarbeitsplätze, Telefone klingelten, doch Jonas Hayes hatte kaum etwas davon bemerkt, so sehr war er in Gedanken versunken.
Shelly Bonaventures Akte, die Sterbeurkunde obenauf, lag aufgeschlagen auf seinem Schreibtisch; ihr Foto, eine Porträtaufnahme vom Vorjahr, starrte ihm entgegen.
»Ich werde von gar nichts die Finger lassen. Noch nicht.«
»Ihr Tod ist als Selbstmord eingestuft worden.« Harding tippte auf die entsprechende Zeile der Sterbeurkunde. »Siehst du? Todesursache: vermutlich Selbstmord.«
»Vermutlich ist das entscheidende Wort.«
»Der Fall ist abgeschlossen. Vorbei.«
Hayes schüttelte den Kopf und schob seinen Stuhl zurück. »Es schadet nicht, wenn ich ein wenig daran arbeite, in meiner Freizeit.« Er stand auf und überragte sie nun um fast eine Kopflänge. Sie gaben ein seltsames Paar ab, das wusste er. Er war ein ehemaliger Sportler, ein Afroamerikaner, der seinen Körper immer noch mit Ratball und Gewichten in Form hielt, sie dagegen war eine zierliche Angelsächsin, ein Mädchen mit roter Strubbelfrisur und riesigen Augen.
»Ich bin auf dem Weg zu einem ›Unfall‹ auf dem Sepulveda Boulevard, ein paar Blocks vom Flughafen entfernt. Ein Motorrad ist in den entgegenkommenden Verkehr gerast. Sieht aus, als wär’s Absicht gewesen. Der Fahrer der Honda-Maschine wurde von einem Geländewagen gerammt, der in die entgegengesetzte Richtung fuhr, obwohl es keinerlei Grund dafür gab. Kommst du mit?«
Hayes schnitt eine Grimasse. »Das würde ich mir doch niemals entgehen lassen.«
Er überflog noch einmal die aufgeschlagene Akte auf seinem Schreibtisch, dann klappte er sie zu und folgte Harding zu den Aufzügen. Wahrscheinlich hatte sie recht. Es war Zeit, Shelly Bonaventures Selbstmord zu den Akten zu legen, aber er konnte es einfach nicht.
Sie hatten die meisten ihrer Freunde und Familienmitglieder befragt, von denen keiner einen Selbstmord vorhergesehen hatte. Ja, es hatte geheißen, sie leide an Depressionen, und ja, mit ihrer Karriere war es nicht gerade bergauf gegangen, auch hatte sie im vergangenen Jahr nicht unbedingt vor Lebensfreude gesprüht, aber ein Selbstmord war dennoch unwahrscheinlich.
Der Barkeeper vom Lizards hatte erwähnt, sie habe mit einem Mann geflirtet, der in bar bezahlt hatte. Auf den Gebäudeüberwachungskameras war sein Gesicht nicht klar zu erkennen gewesen, aber er hatte die Bar zwanzig Minuten nach Shelly verlassen und war, so zeigte es die Kamera in der Nähe der Eingangstür, in die entgegengesetzte Richtung gegangen.
Nur eine Zufallsbekanntschaft in der Bar?
Oder mehr?
»He!«, sagte Harding, als sie die Türen aufstießen und in den warmen Wintersonnenschein hinaustraten. Sie hatten vierundzwanzig Grad, und doch waren die örtlichen Geschäfte bereits über und über weihnachtlich dekoriert, winterlich-festlich geschmückt mit künstlichen Tannenbäumen und noch künstlicherem Schnee. Weihnachtsmänner, Rentiere, Wichtel und Lebkuchenhäuser standen in der Auslage, dabei war es nicht mal Thanksgiving.
Bunte Lichterketten wanden sich um die Stämme der Königspalmen, ihre Wedel wogten in der milden Brise, die vom Pazifik herüberwehte.
Weihnachten in L.A.
Er glitt in Hardings Wagen. In dem Kombi war es drückend heiß. Hayes ließ das Seitenfenster herunter. »Okay, dann erzähl mir mal, warum du annimmst, dass Shelly Bonaventure ermordet wurde«, forderte sie ihn auf.
»Ich weiß es nicht.«
»Sie hatte keine Feinde, keine wütenden Lover oder Ex-Lover, keine Lebensversicherung, kein Testament und weniger als dreihundert Dollar auf der Bank. Ihre größten Schätze waren ein Toyota, Baujahr fünfundneunzig, und ihre Katze. Wer sollte sie umbringen wollen?«
»Ich weiß es nicht«, wiederholte er, während sie aus der Parklücke setzte und Gas gab.
»Noch nicht«, sagte Harding und raste in Richtung Sepulveda Boulevard. »Du hast deinen Satz nicht zu Ende gesprochen. Du weißt es noch nicht. Ich bin mir sicher, du wirst dich nicht von weiteren Ermittlungen abbringen lassen.«
»Ich möchte nur mit dem Typ aus der Bar sprechen, persönlich. Er ist der Letzte, der sie lebend gesehen hat. Womöglich hat er etwas bemerkt.«
»Viel Glück. Hast du schon mal was von der berühmten Nadel im Heuhaufen gehört?«
»Hab ich.«
Sie grinste und bog ein wenig zu schnell um die Kurve. »Vielleicht findest du ihn nie.«
Dem konnte er nicht widersprechen. Trotzdem hätte er sich nur zu gern mit dem geheimnisvollen Unbekannten aus der Bar unterhalten.
Trace ging beim dritten Klingeln an sein Handy. Es war fast vier, und die Anruferkennung zeigte ihm an, dass die Evergreen Elementary School dran war. Elis Schule. »Hallo?«, meldete er sich.
»Mr. O’Halleran? Hier spricht Barbara Killingsworth, die Rektorin der Evergreen Elementary. Ich wollte mich nach Eli erkundigen.« Trace sah die Frau vor sich: Mitte vierzig, unvorstellbar dünn, verkniffene Gesichtszüge und breite Lippen, die sie stets zu einem gezwungenen Lächeln verzogen hatte.
»Es geht ihm ganz gut«, sagte Trace und blickte zu seinem Sohn hinüber, der auf dem Sofa schlief, den Arm in Gips. Im Fernsehen lief irgendein Film, von dem er nichts mitbekam, der Hund hatte sich zu seinen Füßen zusammengerollt. »Aber ich wüsste gern, wer die Pausenaufsicht hatte.« Er ging in die Küche des alten Farmhauses und zog die Schwingtür hinter sich zu, damit er Eli im Wohnzimmer nicht störte.
»Es waren mehrere Lehrer zur Aufsicht eingeteilt.«
»Und keiner von denen hat diese gefährliche Situation bemerkt …?« Er ließ die Frage verklingen und zwang sich, seinen Ärger im Zaum zu halten. Was brachte das schon? Unfälle passierten nun mal. Keiner der Lehrkräfte an der Evergreen Elementary hatte mit Vorsatz oder auch nur fahrlässig gehandelt. Die Jungs hatten sich gebalgt, und sein Sohn war verletzt worden. Ende. Er wollte sich nicht wie eine Glucke aufführen, doch wenn es um Eli ging …
»Es tut mir sehr leid.«
»Ich weiß. In der Poliklinik hat man neben der Knochenfissur an der Elle eine beidseitige Ohrenentzündung festgestellt, außerdem besteht Verdacht auf Streptokokken, so dass er in den nächsten Tagen zu Hause bleiben muss.«
»Seine Lehrerin wird Ihnen die Aufgaben per E-Mail übermitteln, und richten Sie Eli bitte aus, dass wir alle an ihn denken.«
»Das werde ich«, sagte er und legte gerade auf, als er draußen ein Rumpeln hörte. Durchs Fenster sah er Ed Zukovs Pick-up die Fahrrillen seiner langen Auffahrt hinaufrollen.
Sarge, der noch Sekunden zuvor tief und fest geschlafen hatte, hob seinen struppigen Kopf und bellte laut.
»Schscht!« Schnellen Schrittes ging Trace durch die Küche zur Hintertür, Sarge auf den Fersen.
Ed und seine Frau Tilly – ihre Nachbarn – wohnten eine Viertelmeile die Straße hinunter und waren Freunde seines Vaters gewesen. Trace kannte das Paar, das mittlerweile in den Siebzigern war, schon sein ganzes Leben.
Der Wind nahm zu, brachte die alten Balken zum Ächzen und rüttelte die kahlen Zweige der Bäume im Obstgarten durch. Der Schnee fiel jetzt ununterbrochen, große weiße Flocken wirbelten durch die Luft und bedeckten den Boden. Neben dem Pumpenhaus bremste der alte Pick-up ab.
Sobald ihr Ehemann den Motor abgestellt hatte, hüpfte Tilly – flink wie eine Dreißigjährige – aus der Fahrerkabine. »Wir haben von Elis Unfall gehört«, sagte sie und marschierte um die Kühlerhaube des alten Dodge herum. Wie immer trug sie eine Baseballkappe auf dem Kopf, an ihrem Arm baumelte ein Esskorb, was ebenfalls nicht ungewöhnlich war. In Krisensituationen pflegte Tilly Zukov ihre Speisekammer zu plündern und den Ofen anzuwerfen.
»Es wird ihm bald bessergehen.« Da Tilly eine Meisterin im Sich-Sorgen-Machen war, beschloss er, die Ohrenentzündung zu verschweigen. »Wie hast du davon erfahren?«
»Ich habe eine Nichte, die in der Grundschulküche arbeitet.«
»Wir leben eben in einer Kleinstadt«, sagte Ed, ein stämmiger Mann mit beträchtlichem Bauchumfang und Armen, dick wie Baumstämme, und schlug die Tür seines Pick-ups hinter sich zu. Er folgte seiner Frau die beiden Stufen hinauf zu der geschützten Veranda hinter dem Haus. »Allmächtiger, ist das kalt!«
»Ed! Du sollst den Namen unseres Herrn nicht missbrauchen«, wies Tilly ihn zurecht, als sie durch die Küchentür traten. In ihrer karierten Jacke und den verwaschenen Jeans wirkte sie winzig, nur etwa halb so groß wie ihr Mann, doch ganz offensichtlich hatte sie die Hosen an. Ihr dauergewelltes Haar war stahlgrau, auf ihrer kleinen Nase saß eine randlose Brille, durch die sie mit wachen, dunklen Augen in die Welt blickte. Jetzt wandte sie sich an Trace und teilte ihm mit: »Ich bringe euch etwas Eintopf und frisch gebackenes Maisbrot, außerdem ein paar Ranger-Cookies.« Die Knusperkekse mit Cornflakes, Haferflocken und Kokosraspeln mochte Eli am liebsten.
»Sie hat auch eine Pie mitgebracht«, fügte Ed hinzu. Er nahm seine Truckerkappe ab und entblößte so die kahle Stelle in seinem schlohweißen Schopf, dann öffnete er den Reißverschluss seiner Daunenjacke, worunter er eine Latzhose und ein Flanellhemd trug.
»Das musste sein!«, beharrte Tilly. »Ich wollte dieses neue Rezept ausprobieren, das ich in der Better Homes and Gardens gefunden hatte, in der Weihnachtsausgabe vom letzten Jahr. Es ist eine Kürbistorte mit Sauerrahm.«
Trace beäugte den Kuchen. »Klingt großartig. Aber das war wirklich nicht nötig.«
»Natürlich nicht.« Tilly stellte die Kürbistorte in den leeren Kühlschrank. »Es soll ja auch nur ein Test sein, bevor ich sie an Thanksgiving auf den Tisch bringe. Eds Schwester Cara ist ziemlich heikel, was das Essen angeht, also betrachtet euch als meine Versuchskaninchen.«
»Das alte Rezept war auch nicht verkehrt«, brummte Ed.
»Das mit dem Kürbispüree aus der Dose? Das hatten wir jetzt seit fünfundvierzig Jahren! Es wird höchste Zeit für etwas Neues!«
»Es ist Tradition«, widersprach Ed ungerührt.
Tilly verdrehte die Augen. »Nun sei doch mal ein bisschen originell, Ed.«
»Cara mag es«, betonte dieser.
»Ach, sie hat doch keine Ahnung.«
»Du versuchst nur, sie zu beeindrucken.«
»Ich wüsste nicht, warum«, gab Tilly zurück. »Hast du jemals ihre Bananencreme-Pie gegessen? Lappige Kruste, überreife Bananen. Grauenhaft! Einfach … grauenhaft!«
»Dann hör auf, sie weiter übertrumpfen zu wollen, und nimm wieder das verdammte Püreerezept!« Ed stieß einen langen Seufzer aus, dann verzog er das Gesicht zu einem Grinsen, wobei er seine Zähne zeigte, die vom jahrelangen Tabakkauen gelbbraun gefleckt waren. »Ich sage immer: Man soll nicht reparieren, was nicht kaputt ist.«
»Du hast schon immer viel gesagt, da höre ich gar nicht mehr drauf! Und jetzt lass uns aufhören zu zanken; ich wärme lieber mal den Eintopf auf.«
»Sie ist ganz schön herrisch, stimmt’s?«, fragte Ed, an Trace gewandt.
»Und dir gefällt es!« Trotz ihrer harschen Worte warf sie ihm einen liebevollen Blick zu, genau wie vor über fünfzig Jahren auf der Highschool.
»Scheinbar funktioniert das bei euch beiden«, stellte Trace fest.
»Das kommt daher, dass er gewöhnlich das tut, was ich sage.«
Sie fing an, am Herd zu hantieren.
Ed wandte sich an Trace. »Ich dachte, ich helfe dir mit den Tieren«, schlug er vor. »Schließlich kannst du dich nicht gleichzeitig um das Vieh und den Jungen kümmern. Tilly hat sich gleich Sorgen gemacht, wie du das alles schaffen sollst, solange Eli krank ist.«
»Nun, es ist in der Tat unmöglich, Eli zu versorgen, wenn du gleichzeitig mit den Rindern beschäftigt bist«, bekräftigte diese.
»Dad?«, rief Eli aus dem Wohnzimmer.
»Bin gleich da, Kumpel!« Trace trat durch die Schwingtür. Eli hatte sich aufgerichtet, doch er wirkte ziemlich angeschlagen. »Alles in Ordnung?«
»Ja. Wer ist da?«
»Die Zukovs. Komm doch rüber in die Küche.«
»Ist das mein Junge?«, rief Tilly, und zum ersten Mal an diesem Tag lächelte Eli und beeilte sich, die Decke beiseitezuschieben.
»Ich glaube, sie hat dir etwas mitgebracht.«
»Aber natürlich habe ich das!«, bestätigte Tilly mit lauter Stimme und fügte hinzu: »Eli, komm rüber und setz dich an den Tisch. Es gibt Kekse und Milch, und wir könnten eine kleine Partie Dame spielen. Das heißt, wenn es dir nichts ausmacht, dass ich dich schlage!«
»Das glaubst auch nur du! Ich bin ziemlich gut.« Eli war bereits durch die Schwingtür geschlüpft und holte mit einer Hand die Schachtel mit dem Damespiel von dem Regal in der Essecke.
»Nun, dann lass uns mal sehen, wie gut du bist … O weh, sieh dir nur diesen Gips an, Ed!« Tilly hatte einen Teller Kekse auf den Tisch gestellt und Eli ein Glas Milch eingegossen. Jetzt starrte sie auf seinen Arm. »Blau wie der Sommerhimmel!«
»Das stimmt«, pflichtete ihr Mann ihr bei.
Eli strahlte, kletterte auf seinen Stuhl und nahm das Spielbrett aus der ramponierten, mit Tesafilm zusammengehaltenen Schachtel.
Ed schnappte sich ein Plätzchen und marschierte zur Hintertür. »Wir kümmern uns um das Vieh.«
Trace nahm seine Jeansjacke von einem Haken neben der Tür und stieg in seine Stiefel. Dann folgte er Ed über einen schmalen Asphaltweg, der auf der anderen Seite des Gatters, das Hof und Garten vom Scheunenhof trennte, in einen Trampelpfad überging.
Noch immer schneite es pausenlos, auf dem Boden lag bereits eine dünne Schicht, aus der gerade noch die Spitzen der Grashalme schauten. Die meisten Rinder waren bereits in der Scheune, und als Trace die breiten Tore aufschob, schlug ihm der Geruch von Heu, Staub und Dung entgegen. Das Vieh muhte und scharrte ungeduldig mit den Hufen.
Er kletterte die Metallsprossen zum Heuboden hinauf und schob mehrere Ballen durch die Öffnung in den alten Bodendielen. Sie landeten mit einem dumpfen Aufprall. Ed schnitt die Stricke durch und verteilte das Heu in der Futterkrippe für die Hereford- und Angusrinder.
Den Rest der Ballen trugen sie nach draußen zu einem geschützten Unterstand mit einer Futterkrippe und einem Wassertrog.
Die Rinder traten von einem Huf auf den anderen und muhten, das schwarze oder rotbraune Fell war nass, dort, wo Schneeflocken darauf geschmolzen waren. Ihr Atem bildete Nebelwölkchen in der eisigen Luft.
Nachdem die Herde versorgt war, gingen Trace und Ed hinüber zum Pferdestall, und das Ganze begann von neuem. Doch da Trace nicht mehr als vier Pferde besaß, hatten sie entsprechend weniger zu tun. Während sie Hafer in die Futterbehälter füllten, streichelte Trace die Nüstern des Palominos und kraulte den Falben hinter den Ohren, der stürmisch den Kopf zurückwarf.
Als sie ins Haus zurückkehrten, erfüllte ein Duft nach Knoblauch und Rosmarin die Küche. Tillys Eintopf köchelte auf dem Herd, und es sah ganz danach aus, als würde Eli seine erfahrene Gegnerin und Mentorin beim Damespiel schlagen.
»Du hast ganz sicher nicht geschummelt?«, neckte Tilly ihn.
»Absolut nicht!«, beharrte Eli. Sein Milchglas war zur Hälfte leer, und die Krümel auf dem Tisch vor ihm zeigten, dass er mindestens einen von Tillys Keksen gegessen hatte.
Trace hatte gerade seine Stiefel ausgezogen, als sein Handy klingelte.
»Das ist schon das zweite Mal, während du draußen warst«, sagte Tilly, deren letzter Spielstein soeben von einem strahlenden Eli vom Brett gefegt wurde.
»Dann sollte ich wohl besser drangehen.« Trace klatschte seinem Sohn die Hand ab, dann meldete er sich: »Hallo?«
»Trace? Hier spricht Mia Calloway. Ich bin die Sekretärin von der Evergreen Elementary, und … nun, wie geht es dem Jungen? Eli?«
»Besser. Ich habe bereits mit der Rektorin gesprochen.« Er ging aus der Küche ins Wohnzimmer, um ungestörter sprechen zu können.
»Ja, ja, ich weiß … Aber ich rufe nicht wegen Eli an«, räumte sie leicht nervös ein, »es geht um Jocelyn Wallis.«
Sein Magen verkrampfte sich, aber er sagte nichts, sondern ließ sie weitersprechen.
»Sie ist heute nicht in der Schule erschienen und hat nicht angerufen, um sich zu entschuldigen. Es ist auch kein Unterrichtsplan für ihre Vertretung eingegangen – nichts. Niemand hat etwas von ihr gehört, aber ich weiß … Nun, sie hat mir erzählt, dass Sie beide miteinander ausgegangen sind, daher dachte ich, Sie wüssten vielleicht …« Ihre Stimme verklang.
»Ich habe keine Ahnung, warum sie nicht aufgetaucht ist«, sagte er.
»Ach … ja – ich bin einfach nur beunruhigt. Wir sind befreundet, und ich bin zu ihrem Haus gefahren. Auf mein Läuten hin hat sie nicht geöffnet. An allen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen oder die Jalousien heruntergelassen, so dass ich nicht hineinsehen konnte. Es brannte Licht, so viel konnte ich erkennen, aber das muss ja nichts bedeuten. Ich weiß, dass sie sich nicht wohl gefühlt hat, deshalb habe ich versucht, sie anzurufen, doch es ist bloß der Anrufbeantworter drangegangen. Was soll ich nur davon halten? Ob sie die Stadt verlassen hat? Oder einfach zu krank ist, um ans Telefon oder an die Haustür zu gehen?« Sie ließ die Frage in der Luft hängen, und als Trace nichts erwiderte, fügte sie hinzu: »Wie ich schon sagte: Ich mache mir Sorgen und versuche herauszufinden, was mit ihr passiert ist.«
»Wenn ich etwas von ihr höre, rufe ich Sie an.«
»Oh … danke. Ähm, Sie haben nicht zufällig ihren Schlüssel? Ich meine, bevor jemand die Polizei ruft, wäre es vielleicht gut, in die Wohnung zu gehen?«
»Nein, ich habe keinen Schlüssel«, teilte er ihr mit. »Außerdem habe ich Jocelyn seit Monaten nicht gesehen.«
»Ach. Sie sagte, sie habe Sie gestern angerufen …«
»Das hat sie nicht.«
»Nun, dann … entschuldigen Sie bitte die Störung. Sollten Sie etwas von ihr hören, richten Sie ihr doch bitte aus, sie möge Mia anrufen.«
»Ich denke zwar nicht, dass das der Fall sein wird, aber ja, selbstverständlich. Kann sie Sie in der Schule erreichen?«
»Sicher, aber auf dem Handy wäre es mir lieber.« Mia Calloway klang ernstlich besorgt. »Das passt so gar nicht zu ihr. Jocelyn ist eine äußerst korrekte, engagierte Lehrerin. Sie würde ihre Schüler niemals im Stich lassen. Das macht doch alles keinen Sinn. Nun, vielen Dank.«
Er legte auf und drehte sich um. Tilly stand in der Schwingtür und versuchte nicht einmal zu vertuschen, dass sie gelauscht hatte. »Das war die Schule, stimmt’s? Wegen Jocelyn Wallis?«
»Eine Freundin von ihr hat angerufen«, gab er zu.
Tillys Gesicht verfinsterte sich. »Von meiner Nichte habe ich gehört, dass sie heute nicht zum Unterricht erschienen ist. Seltsam.«
»Mal wieder die Nichte!«, rief Ed.
»Ihre Freundin behauptet, sie habe mich gestern angerufen, aber ich habe keine Nachricht erhalten.« Trace bemerkte, dass Eli auf seinem Stuhl tiefer rutschte. »Oder etwa doch?«
Der Junge schüttelte den Kopf, aber Trace ging zu dem altmodischen Wandtelefon hinüber, das einen Anrufbeantworter hatte. Das kleine Licht, das anzeigte, ob eine Nachricht eingegangen war, blinkte nicht, doch als er den Knopf für die Liste der eingegangenen Anrufe drückte, erschien WALLIS, J. auf dem Display.
»Hast du eine Nachricht von Miss Wallis abgehört?«, fragte er seinen Sohn, doch Eli schüttelte bereits den Kopf.
»Äh-ähm … da war keine Nachricht.« Der Junge blickte schuldbewusst drein, dennoch glaubte Trace ihm. Rasch ging er sämtliche noch nicht gelöschten Nachrichten durch, doch von Jocelyn war keine darunter. Trace spürte, wie ihm ein kaltes Kribbeln das Rückgrat hinablief, und hängte den Hörer zurück. Tilly starrte ihn an.
»Vielleicht solltest du besser mal nachsehen«, schlug sie vor. »Wir bleiben so lange bei Eli.«
»Aber ich will mitkommen«, protestierte der Junge.
»Wie bitte?«, fragte Tilly mit gespieltem Entsetzen. »Und dich vor einer Revanche drücken? Keine Chance, mein Lieber! Jetzt werde ich dich besiegen!« Sie warf Trace einen schnellen Blick zu, und er verstand.
»Ich bin bald zurück«, sagte er und marschierte durch die Hintertür zu seinem Pick-up, Sarge auf den Fersen. »Na schön, diesmal kannst du mitkommen.« Er öffnete die Fahrertür, und der Hund sprang in die Kabine, wo er es sich sogleich an seinem Lieblingsplatz auf dem Beifahrersitz bequem machte.
Trace setzte sich ans Steuer, ließ den alten Chevy an und fragte sich, was er wohl in Jocelyn Wallis’ Apartment vorfinden würde.
»Vermutlich gar nichts«, redete er sich ein, legte den Gang ein und stellte die Scheibenwischer an. Doch das Gefühl, dass ihn etwas Schlimmes erwartete, wollte sich nicht legen. Er starrte durch die Windschutzscheibe hinaus in eine Dämmerung, die tiefste Finsternis vorausahnen ließ.