Sobald Honey den Mann sah, erkannte sie ihn. »Aber Sie haben doch gesagt, Sie wären Pole!«
Jan grinste verlegen. »Wir hielten es für das Beste.«
»Sie sind Schwede, genau wie das andere Paar.« Doherty schaute auf seine Liste. »Oh, Verzeihung, das waren ja Norweger.«
»Wir sind miteinander verwandt. Ein paar von uns haben sich an der Online-Auktion beteiligt, um zurückzubekommen, was uns von Rechts wegen zusteht. Die Filmrollen gehörten meinem Ururgroßvater, Lorne Stevenson. Der war Passagier auf der Titanic, im Zwischendeck. Wie die meisten, die dort gereist sind, schaffte er es nicht, in eines der Rettungsboote zu kommen. Also hat er die Rollen jemandem gegeben, der überlebt hat.«
»Dem Urgroßvater von Lady Templeton-Jones?«
Der junge Mann nickte. »Die Filmrollen gehören von Rechts wegen meiner Familie.«
»Haben Sie sie?«, fragte Doherty.
»Nein. Wandas Vetter hat sie mir angeboten. Meine Familie hatte einen ordentlichen Betrag zusammenbekommen, aber Bridgewater verlangte mehr. Wanda – Lady Templeton-Jones – hatte mir diesen Film versprochen. Sie hielt es nur für rechtens, dass er wieder in die Familie des Mannes kommen sollte, der die Aufnahmen gemacht hatte. Sie war eine sehr faire Person. Nun begann ich, Bridgewater zu verfolgen. Er warf seine Netze auch nach anderen Käufern aus. Ich hatte mir vorgenommen, mich an alle heranzumachen, die sich interessiert zeigten. Ich wollte herausfinden, ob sie die Absicht hatten, den Film einem Museum zu stiften. Cameron Wallace war einer der beiden letzten Mitbieter. Ich habe ihn geradeheraus gefragt. Er hat es rundweg abgelehnt. |315|Ich habe auch Mr. George in seinem Hotel besucht, ihn aber nicht zu sehen bekommen. Seine Frau war gerade gestorben. Ich wusste, dass Bridgewater das Geschäft schon bald abschließen wollte, und bin ihm gefolgt. Ich war mir sicher, dass er vorhatte, sich mit Wallace zu treffen, aber das stimmte nicht. Es ist nicht Wallace gekommen, sondern das Mädchen.« Er schüttelte heftig den Kopf.
Doherty verzog das Gesicht. Er sah aus, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. »Entschuldigen Sie, wenn ich so dämlich frage. Aber wieso haben Sie nichts davon verlauten lassen, dass die Filmrollen eigentlich Ihnen gehörten? Warum die Scharade dieser Internet-Auktion mitmachen?«
Honey mischte sich ein. »Weil die Filmrollen sofort verschwunden wären, sobald jemand einen legitimen Anspruch erhoben hätte. Man hätte sie nie wieder gesehen, und sie würden nur noch als Mythos weiterleben. Alle würden sich fragen, ob es sie wirklich gab oder nicht.«
Doherty nickte. »Ich verstehe, was du meinst. Aber Wanda hatte die Filmrollen in jener Nacht gar nicht bei sich, nur eine digitalisierte Fassung.«
»Und irgendjemand hat sie in diesen leerstehenden Laden gelockt. Da gibt es noch ein anderes Problem – die Filmrollen hätten zum nationalen Kulturerbe erklärt werden können. Dann hätte sich jeder erst eine offizielle Erlaubnis beschaffen müssen, ehe er sie ins Ausland verkaufen durfte. Das ist so bei Gemälden und dergleichen. Und es würde sicherlich auch für Filmmaterial gelten.«
»Das stimmt«, sagte Stevenson und streckte seine langen Beine unter den Tisch. »Meine Familie hätte den Film immer für sechs Monate verliehen. Das schien uns nur angemessen zu sein.«
Doherty schüttelte den Kopf. »Es sieht so aus, als hätte Ihre Ladyschaft versucht, die Sache fair zu regeln, ehe sie genau aus diesem Grund umgebracht wurde. Um ihrer eigenen Sicherheit willen hatte sie schon beschlossen, in ein anderes Hotel umzuziehen. Und sie suchte einen sicheren Aufbewahrungsort für die |316|Filmrollen. Klugerweise hat sie sie nicht auf den Gespensterspaziergang mitgenommen.«
Stevenson hörte genau zu und schaute Honey unverwandt mit seinen ruhigen grauen Augen an. »Sie hat gesagt, sie würde die Rollen für mich besorgen. Sie meinte, es wäre nur recht und billig. Sie war froh, dass sie nach England gekommen war, um sie dem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Wir haben uns getroffen, ehe sie auf diesen Gespensterspaziergang aufbrach. Damals hat sie sich gerade zu dieser Lösung entschlossen. Ihr Urgroßvater hatte den Untergang der Titanic überlebt, meine Familienangehörigen jedoch nicht. Sie meinte, auf diese Weise hätten wir eine gute Erinnerung an den Verstorbenen.«
Honey runzelte die Stirn. »Ihr Urgroßvater ist irgendwann in den zwanziger Jahren nach England zurückgekommen und hat die Filme seinem Sohn vererbt. Der ist vor Kurzem gestorben, und deswegen ist sie angereist. Sie hat das ziemlich geheim gehalten. Warum?«
»Sie wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Hätte es Gerüchte über den Grund ihres Besuchs gegeben, dann wäre es vielleicht zu Problemen gekommen.«
»Aber Sie haben sich auch nicht gemeldet, nachdem man sie umgebracht hatte.«
»Ich hatte für den nächsten Tag einen Rückflug gebucht. Meine Großmutter lag im Sterben. Ich musste nach Hause. Bei meiner Rückkehr nach England habe ich erfahren, was geschehen war. Ich hielt es für das Beste, kein Aufsehen zu erregen.«
Honey erinnerte sich auf einmal an die Liste der Habseligkeiten ihres verstorbenen Mannes, der bei einem Unfall auf See ums Leben gekommen war. Von einigen Dingen hatte sie nicht einmal gewusst, dass er sie besessen hatte.
Lady Templeton-Jones musste sehr überrascht gewesen sein, als sie auf die Filmrollen stieß. Vielleicht aber hatte sie derlei schon geahnt.
»Warum ist sie dann zu Simon Taylor gegangen?«
»Es gab ein Link zwischen der Website von Noble Present und der Website für die Auktion«, sagte Honey. »Sie ist zufällig darauf |317|gestoßen und ist gleich hergekommen, um die Sache in Ordnung zu bringen. Die Filmrollen befanden sich unter den Erbstücken ihres Urgroßvaters in Northend … bei Bridgewater, diesem Schleimer!«
Doherty konnte sie gerade noch daran hindern, loszupreschen, um dem Mann, den sie auf den ersten Blick nicht gemocht hatte, ernsthaft Schaden zuzufügen. Honey konnte an seiner Miene ablesen, dass er dies nicht für eine sonderlich gute Idee hielt. Genau in diesem Augenblick kam ein Anruf für Doherty dazwischen.
»Also, unser Telefon-Marketing-Mann ist so platt wie eine Flunder.« Er berichtete ihr die weiteren Einzelheiten. »Er war auf der A4 unterwegs, kam gerade aus der Richtung Bradford-on-Avon.«
Die Blicke, die sie wechselten, sagten alles. Sobald Doherty Verstärkung angefordert hatte, machten sie sich im Laufschritt auf den Weg.