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Draußen beim Auto sprang Mary Jane auf und ab. »He!«, rief sie und fuchtelte mit dem Kreuzschlüssel herum. »Erinnern Sie sich noch an mich?«

Hamilton George winkte nicht zurück.

Mary Jane schmollte enttäuscht. Ihre Unterlippe bebte. »Er hat nicht zurückgewinkt.«

Sanft, aber bestimmt hinderte Lindsey sie daran, hinter Honey her zum Haus zu rennen.

»Vielleicht hatte das was mit dem Kreuzschlüssel zu tun.«

Mary Jane schien sie gar nicht zu hören. »Das ist nicht seine Frau, weißt du. Das ist eine Schlampe – durch und durch! Wie konnte er sie nur so gemein behandeln? Und er hat sich nicht mal die Mühe gemacht und zurückgewinkt. Findest du nicht auch, dass das sehr unhöflich ist?«

»Manche Leute sind eben so.«

Mary Janes Gesicht wurde ernst, ihre Augen waren nur noch schmale Schlitze. »Das ist die Fremdenführerin.«

»Ich glaube, meine Mutter weiß das«, erwiderte Lindsey.

Selbst aus dieser Entfernung konnte Lindsey den Gesichtsausdruck ihrer Mutter erkennen. So schauen Draculas Opfer, wenn sie das Blut von den spitzen Fangzähnen des Grafen triefen sehen.

Plötzlich zuckte Mary Jane die Achseln. »Vielleicht habe ich vorschnell geurteilt. Vielleicht besteht zwischen den beiden gar keine körperliche Anziehung. Sie interessieren sich beide für Computer, das haben sie gemeinsam. Ich frage mich nur, wo seine Frau ist?«

Eine verschwundene Gattin, ein Mord und zwei Leute, die plötzlich zusammen waren und nicht zusammen sein durften. Lindsey beschwor Mary Jane, sich nicht vom Fleck zu rühren, |205|und sprintete den Gartenpfad hinauf. Man wusste ja nie, ob Mr. George und der neuen Frau in seinem Leben der Sinn nach Mord stand. Da wollte sie lieber kein Risiko eingehen.

Schließlich hatte sie nur eine Mutter und keineswegs die Absicht, die so schnell zu verlieren. Na gut, vollkommen war sie nicht. Sie weigerte sich, genau wie Großmutter Cross, standhaft, in Würde zu altern. Und in Größe 40 würde sie auch nie passen, geschweige denn klapperdürr werden.

Der Pfad zur Tür bestand aus einer Reihe alter, von losem Kies umgebenen Steinplatten. Honey hörte Lindsey knirschend näher kommen und schaute über die Schulter zu ihr zurück. Erleichterung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab.

»Das ist meine Tochter«, erklärte sie. Dann stellte sie Hamilton George und Pamela Windsor vor.

Lindsey nickte den beiden kurz zu und rang sich ein steifes Lächeln ab.

»Mr. George hat kürzlich seine Frau verloren«, erklärte Honey. Wie er und Pamela zusammengefunden hatten, dazu hatte Mr. George keine Einzelheiten verlauten lassen. Das konnte Honey ihrer Tochter also nicht mitteilen.

Lindsey drückte ihr Beileid aus. Gleichzeitig registrierte sie den Gesichtsausdruck ihrer Mutter: schockiert, vielleicht auch ein wenig enttäuscht. Lindsey überlegte kurz, worin das Problem liegen könnte. Wenn man von Natur aus neugierig war, dann war Detektivarbeit eine feine Sache. Irgendwie musste ihre Mutter ins Haus kommen. Bisher hatte niemand sie hereingebeten. Da musste der uralte Trick herhalten.

»Entschuldigung, hätten Sie etwas dagegen, dass ich kurz Ihre Toilette benutze?«

Lindsey konnte wirklich unendlich charmant sein. Nie hatte sie Drogen genommen, sich nie sinnlos betrunken, und sie wechselte nicht alle Naselang den Partner. Manchmal war es mit ihr einfach zu schön, um wahr zu sein. Viele Frauen wünschten sich sehnlichst, ihre kleinen Mädchen würden auch zu solchen Prachtexemplaren heranwachsen.

Pamela Windsor war da keine Ausnahme. Sie machte eine |206|vage Handbewegung nach oben. »Im ersten Stock. Zweite Tür links.«

Lindsey hielt Ausschau nach der Treppe, sah aber keine. Das war in diesen alten Häuser manchmal seltsam. Da befanden sich Dinge, die in modernen Gebäuden stets an einer bestimmten Stelle waren, an den merkwürdigsten Orten.

Lindsey setzte ihr bestes Sonntagslächeln auf. »Äh, haben Sie auch eine Treppe?«

Pamela grummelte und murmelte etwas in gespielter Verzweiflung, führte Lindsey aber höflich zu einer schlichten Tür, die beinahe unsichtbar in der Holztäfelung der Wand eingelassen war. Dahinter führte eine Wendeltreppe steil nach oben. Lindsey bedankte sich artig.

Sie war erst auf der dritten Stufe angelangt, als die Tür mit lautem Knall hinter ihr zufiel. Zunächst glaubte sie, Pamelas schlechte Laune wäre mit ihr durchgegangen. Dann sah sie die starke Feder. Wahrscheinlich hatte es vor Zeiten jemand irgendwann einmal satt gehabt, immer wieder darum zu bitten, die Leute sollten die Tür hinter sich zumachen, und er hatte diese Feder angebracht. Ein bisschen gruselig war es schon, dass die Tür so rasch zufiel. Als hätte man Gespenster im Haus. Na egal. Sie interessierte sich ja nicht für die ehemaligen Bewohner.

Die Wendeltreppe knarrte unter ihren Schritten. Oben angelangt, schaute Lindsey sich um. Der Flur war schmal und dunkel. Die zweite Tür links, hatte Pamela gesagt. Doch heute wollte sie es einmal machen wie ihre Großmutter. Heute würde einer ihrer »vergesslichen« Tage sein. Die Türen waren alle so schlicht wie die unten an der Treppe. Ob sie auch alle mit einem ebenso starken Schließmechanismus versehen waren? Welche sollte sie einmal ausprobieren? Vorhin hatte Mary Jane verkündet, man müsse stets auf Zeichen achten, ehe man im Leben irgendetwas tat. Das hatte sie allerdings gesagt, als sie gerade über eine rote Ampel fuhr. Und einen Igel hatte sie dabei auch noch überfahren.

»Halte nach Zeichen Ausschau. Du wirst sie erkennen, wenn du sie siehst.«

Lindsey holte tief Luft und dachte voller Mitleid an den armen |207|kleinen Igel, dem man wohl nicht den gleichen guten Ratschlag gegeben hatte.

Gut! Also, nach Zeichen suchen!

An den Wänden hingen alte Gemälde. Die meisten waren Landschaften aus spätviktorianischer Zeit, die jemand wahrscheinlich ziemlich günstig bei Auktionen erworben hatte. Es gab nur ein Porträt, das zudem ein größeres Format hatte als die anderen Bilder. Der Dargestellte war nicht gerade ein Adonis. Er hatte einen Schnurrbart und blickte starr. Kein sehr angenehmer Auftraggeber, aber er hatte ziemlich viel Gemälde für sein Geld bekommen.

Das Bild hing neben einer Tür, wirkte wie ein symbolisches »Zutritt verboten«. Die Augen sagten alles. Aber diesem Starren konnte man leicht aus dem Weg gehen. Einfach nicht mehr hinsehen! Das musste doch das ideale Zimmer für ein wenig Schnüffelei sein? Vor dieser Tür hing ja praktisch ein Warnhinweis in Gemäldeform.

Der Raum war ein Schlafzimmer, dessen niedrige Decke schräg bis beinahe zum Boden hinunter verlief. Ein kleines quadratisches Fenster mit einer breiten Fensterbank ließ ein wenig Licht hinein. Die Wände waren in einem blassen Rosaton gestrichen, und auf den Vorhängen prangten winzige Rosenknospen. Am einen Ende befand sich ein Bett mit einem rüschengesäumten Überwurf. Am anderen stand auf einem alten Frisiertisch aus Kiefernholz ein Computer. Das rote Standby-Licht zwinkerte Lindsey aufmunternd zu.

Sie ließ die Finger spielen und trommelte wie zur Übung eine kleine unsichtbare Klaviermelodie auf die Tischplatte.

Sie bewegte die Maus. Ein Bildschirm leuchtete auf. The Noble Present. Auch Sie können ein echter Lord sein, eine Lady mit Titel und Stil …

Lindsey schnitt eine Grimasse. »Oho!«

Alte Titel beeindruckten sie nicht. Denn genau das waren sie. Alt. Verbraucht. Abgelegt. Ein Hauch von Vergangenheit.

»Ziemlich einträglicher Lebensunterhalt«, murmelte sie. Sie rückte näher zum Bildschirm. Der blaue Schein erhellte ihr |208|Gesicht. Sie blätterte weiter. Schaute sich Seite eins an. Dann Seite zwei.

Günstige Preise! Ab 3000 Dollar.

Günstig? Wie die Sache aussah, waren diese Preise nur für einen günstig, nämlich den Verkäufer. Warum sollte man für seinen Lebensunterhalt arbeiten, wenn man solche Geschäfte tätigen konnte, ohne sich auch nur von der Tastatur zu entfernen? Auf der dritten Seite prangten Lobeshymnen von zufriedenen Kunden. Auf passbildgroßen Fotos lächelten fröhliche Gesichter mittleren Alters. Einen der Namen erkannte sie: Lady Templeton-Jones, die genauso breit lächelte wie die anderen Kunden. Aber in einem Aspekt unterschied sich dieses Bild vom Rest. Unter den anderen Fotos standen nur Initialen, keine Namen. In Wandas Fall war der Name voll ausgeschrieben, und zudem wurde noch ihre Adresse angegeben. Sie hatte ihren Titel auf dieser Website gekauft, wenn auch nicht bei Hamilton George. Lindsey erkannte den Namen des Mittelsmannes, weil ihre Mutter ihn kürzlich erwähnt hatte. Es war Simon Taylor, ein Franchise-Nehmer in Bath.

Lindsey war höchst zufrieden, dass sie so weit gekommen war. Mit einem stummen »Jawohl!« reckte sie triumphierend die Faust in die Höhe. Doch jetzt musste sie wieder nach unten. Vorher allerdings war noch die Toilettenspülung zu betätigen. Das würde man unten hören, und ihre Tarnung würde nicht auffliegen.

In einer letzten Bemühung, so viele Fakten wie möglich zu sammeln, wühlte sie noch die Papiere auf dem Tisch durch. Die meisten waren Online-Quittungen für erbrachte Dienstleistungen.

Lindsey runzelte die Stirn, während sie das dünne Papier in den Händen hielt. Es wäre nicht ratsam, etwas davon mitzunehmen. Quittungen konnte jemand vermissen. Schade, dass sie keine Zeit hatte, sie zu kopieren.

Als sie den Stapel wieder auf den Tisch legte, entdeckte sie zufällig eine zusammengetackerte Liste auf dem Briefpapier von Bonhams Auktionshaus. Nautische und andere Sammlerstücke.

|209|Sie blätterte sie durch. Ihr fiel darin nichts besonders auf. Aus dem Mittelalter war jedenfalls nichts dabei. Außer diesem Zeitalter interessierte sie seit Neuestem auch die Tudorzeit. Alles, was hier aufgeführt war, stammte aus dem neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert. Es war nichts dabei, was man aus der Mary Rose heraufgeholt hatte. Dieses Schiff hatte Heinrich VIII. gehört, und es war nach seiner Schwester benannt. So ein Fund wäre wirklich aufregend gewesen.

Nachdem Lindsey die Liste zunächst nur überflogen hatte, schaute sie noch einmal gründlicher hinein, blätterte zurück, ließ sich Zeit. Zunächst erregte wieder nichts ihre Aufmerksamkeit, bis sie die Überschrift Erinnerungsstücke von der Titanic las. Hatte sie da ein Geräusch gehört? Kam jemand die Treppe herauf? Rasch legte sie die Papiere wieder da hin, wo sie sie gefunden hatte. Aber jetzt ab ins Bad.

Wie das Schlafzimmer hatte auch dieser Raum sehr schräge Wände. Die Toilette befand sich ausgerechnet im niedrigsten Teil. Die hatte wohl ein Zwerg montiert, überlegte sie. Oder eine Frau, um sich an einem Mann zu rächen, der immer die Toilettenbrille offen stehen ließ?

Eigentlich war die Benutzung der Toilette nur ein Vorwand gewesen. Aber inzwischen war es wirklich nötig, denn sie hatte doch einige Zeit mit der Lektüre der Empfehlungen von The Noble Present vertrödelt.

Als sie wieder unten auftauchte, waren alle Augen auf sie gerichtet. Ihre Mutter schaute sie durchdringend an, und ein wenig länger als nötig. Lindsey konnte sich ein selbstgefälliges Lächeln nicht verkneifen. Das musste ihre Mutter einfach bemerkt haben. Die würde dann schon begreifen, was Sache war.

»Das mit Ihrer Frau tut mir wirklich leid«, rief Honey noch einmal über die Schulter zurück, als sie und Lindsey über die moosbedeckten Steinplatten entflohen.

»Herzlichen Dank«, antwortete Hamilton.

»Zu gütig«, flötete die ehemalige Fremdenführerin. Ihr Lächeln war viel zu süß und zu selbstzufrieden.