»Würste! Wir brauchen Würste! Sieh doch nur!« Smudger der Chefkoch stand da wie die Freiheitsstatue, die einzige noch übrig gebliebene Wurst in der rechten Hand hoch in die Luft gereckt. »Das ist meine Letzte!«
Honey schaute hin. Normalerweise waren die Würste, die sie servierten, prall und saftig in der Haut. Diese hier war schlaff, traurig – und die letzte ihres Stammes.
Der gute Ruf eines Hotels steigt und fällt mit einem umfangreichen englischen Frühstück. Der Speck musste mager sein, die Eier frisch und die Würste mild gewürzt und fleischig. Ein bestimmter Tag im Wochenablauf war für das Abholen der Würste reserviert.
Gewöhnlich schloss sich ein ganzer Einkaufstag an, sobald die Wurstlage gesichert war. Bath bietet eine unschlagbare Vielfalt an Würsten, besitzt sogar einen Metzgerladen, der nur auf Würste spezialisiert ist. Gleich nebenan liegt ein tolles Fischgeschäft. Honey machte keine halben Sachen. Und so war nach dem allwöchentlichen Überfall auf die Lieferanten saftiger Würste und exotischer Fische meist Zeit für Tee und Scones im Pump Room. Dies war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen Mutter und Tochter sich ein wenig Zeit für sich nahmen.
Heute malte Honey Strichmännchen auf die handgeschriebene Einkaufsliste. »Eigentlich sollte ich die Bestellung lieber telefonisch durchgeben. Zum einen haben wir gerade diese Morduntersuchung, und dann muss ich mir noch den neuen Laden deiner Großmutter ansehen. Sie lässt ihn frisch streichen, aber ich möchte mal reinschauen, ehe alles wie geleckt aussieht.«
Lindsey hielt sie gerade noch zurück, ehe sie zum Hörer greifen konnte. »Du brauchst eine Pause. Auch deine kleinen grauen |246|Zellen könnten mal einen Tag frei machen. Und ein Kaffee und ein einziges Sahnetörtchen können doch deine Taille nicht ernsthaft gefährden!«
Als sie gerade debattierten, ob sie ein Taxi nehmen sollten, kam Mary Jane durch die Eingangstür gestürmt und wirbelte frischen Wind ins Hotel. Sie wirkte ganz aufgeregt. Außerdem trug sie erdbeerrote Leggings. Die Taille ihres Oberteils war mit Plastikerdbeeren und einem rosa Band verziert, und auch an ihren Ohren baumelten Plastikerdbeeren. Das Outfit hatte etwas von einem aufgeregten Ausflug von Erdbeeren in die Marmeladenfabrik.
Mary Jane erkundigte sich nach dem Ziel der Expedition von Mutter und Tochter. Die beiden machten den Fehler, ihr die Wahrheit zu sagen.
»Ich bestehe darauf, euch mit dem Auto hinzufahren. Ich bin fit wie ein Turnschuh, und mein Mädelmobil braucht mal wieder eine rasante Ausfahrt.«
Honey erbleichte. »Das ist ein Cadillac, kein Rennauto!«
»Doch, wenn Mary Jane am Steuer sitzt, ist es ein Rennflitzer«, murmelte Lindsey.
Dieser Wortwechsel ging an Mary Jane völlig vorüber. Ihre Augen glitzerten vor Aufregung. »Na, der Wagen ist vielleicht schon ein bisschen in die Jahre gekommen, aber wenn ich das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrete, fetzt das alte Mädchen noch ganz schön los!«
Beim bloßen Gedanken, dass sie mit sechzig, wenn nicht hundert Sachen die Milsom Street entlangrasen würden, bekam Honey zittrige Knie.
»Green Street ist doch gar nicht weit weg«, beteuerte Honey. »Da kann man gut zu Fuß hingehen.«
Mary Jane war unbeirrbar. »Ich lasse mich nicht mit einem Nein abspeisen. Du wirst nicht jünger, Mädchen, und deine Beine auch nicht.«
Toll, so was zu hören!
»Danke vielmals.«
»Der Wagen steht draußen.« Plötzlich lehnte sich Mary Jane |247|ganz nah zu ihr herüber. Sie hatte die Stimme zu einem Flüstern gesenkt. »Ich möchte dir auch etwas erzählen, was ein neues Licht auf den Mordfall werfen könnte.«
Über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage war sich Honey nicht sicher. Aber na ja, zum Teufel, sie ließ sich drauf ein.
»Ich komme mit«, sagte Lindsey, nachdem Honey ihr beteuert hatte, das wäre nicht nötig.
Keiner außer Mary Jane wagte, draußen vor dem Hotel im Halteverbot zu parken. Der Verkehrskontrolleur, der sonst hier immer Dienst getan hatte – ein freundlicher Sikh mit weißem Bart und blauem Turban – war kürzlich aus der Altersteilzeit wieder in seinen Job zurückgekehrt. Normalerweise war er sehr durchsetzungsfähig, aber vor Mary Jane hatte er eine Heidenangst. Honey hatte schon beobachtet, wie er sich in einen Ladeneingang drückte, um ihr aus dem Weg zu gehen. Eines Tages würde sie ihn einmal nach dem Grund für diese Furcht fragen. Heute jedoch nicht. Sie musste sich bereits um so viele andere Dinge Sorgen machen. Zum Beispiel um den glänzenden rosa Cadillac. Und um seine Fahrerin.
»Steig schon ein!«
Honey nutzte ihre Chance und zwängte sich auf die Rückbank, während Lindsey vorn auf dem Beifahrersitz Platz nehmen musste.
»Du hast mehr Mut als ich«, murmelte Honey ihrer Tochter leise zu.
»Und ich bin beweglicher«, flüsterte Lindsey zurück. »Ich kann ihr zur Not ins Lenkrad greifen.«
Mary Jane schoss vom Bordstein weg wie eine Rakete in Cape Canaveral. Sie war tief über das Steuer gebeugt, hatte die Ellbogen spitzwinklig abgespreizt, die Augen zu Schlitzen verengt, als zielte sie mit einem Supergewehr auf ein Opfer und führe nicht mit einem alten rosa Auto durch Bath.
Honey biss die Zähne zusammen. Die Stadt Bath raste in einem verschwommenen audiovisuellen Tableau von fliehenden Fußgängern und dröhnenden Hupen an ihr vorüber. Auch sie hatte jetzt die Augen zu Schlitzen verengt, den Kiefer verkrampft. Was |248|pure, unverdünnte Angst betraf, konnte keine Achterbahn mit Mary Jane mithalten.
Nach dem Ausflug nach Northend hatte sich Honey überlegt, die beste Strategie bei einer Autofahrt mit Mary Jane wäre wohl, einfach gar nichts zu sagen. Auch Lindsey war zu diesem Ergebnis gekommen. Wenn unbedingt gesprochen werden musste, dann wollten sie das Mary Jane überlassen. Solange sie selbst redete, schaute sie wenigstens auf die Straße.
Im Augenblick war noch alles in Ordnung. Die meisten Bemerkungen der Amerikanerin bezogen sich auf den Straßenverkehr. Es waren viele Kommentare zu den schlechten Fahrgewohnheiten anderer Leute abzugeben. Für ihre eigenen Verfehlungen in dieser Hinsicht war Mary Jane blind. Das Gleiche galt für ihren Bekleidungsstil.
»Schaut euch bloß einmal diesen Radlerdress an! Lila und Grau in Lycra. Da bleibt der Phantasie ja überhaupt kein Raum mehr! Wo will der denn so angezogen um Himmels willen hin?«
Honey kniff die Augen fest zu. »Ist mir egal. Ich will nur bei lebendigem Leib zum Wurstladen kommen, bitte.«
Lindseys Schultern begannen zu beben.
Honey biss die Zähne zusammen, klammerte sich von hinten mit den Fingern an Lindseys Rückenlehne. Sie beugte sich vor. »Denk einfach nicht mehr an Würste.«
Wenn Mary Jane am Steuer saß, hatte die Sicherheit von Leib und Leben höchste Priorität.
Lindsey und Honey waren sehr erleichtert, als sie unversehrt auf den Parkplatz rollten.
»Musstest du noch irgendwohin, Mary Jane?«, erkundigte sich Honey.
»Nein, mir macht einfach das Autofahren so viel Spaß. Ich fühle mich dann so quicklebendig! So voller Lebenskraft!«
Aus dem Augenwinkel konnte Honey sehen, dass Lindsey beinahe an einem Kommentar erstickt wäre. Ihr schossen die Worte »dem Tod ins Antlitz blicken« durch den Kopf. Sie blieben jedoch unausgesprochen.
|249|Mary Jane fügte noch hinzu, dass sie ihnen nur zu gern beim Einkaufen zur Hand gehen würde.
»Und dann lade ich euch zu Kaffee und Doughnuts ein. Oder zu den großen Teekuchen in Sally Lunn’s Teeladen.«
Lindsey lächelte schwach. »Heute ist unser Tag zum Ausspannen. Wenn wir Wurst einkaufen, gehen wir danach immer in den Pump Room.«
Vom Parkplatz bis zur Green Street war es nicht weit. Die drei spazierten gemütlich an den Schaufenstern vorbei. Honey war immer noch in Gedanken versunken.
Vor einem Kurzwarenladen warteten sie auf Mary Jane, die drinnen den Ständer mit den rosa Nähseiden begutachtete.
Lindsey bemerkte, wie schweigsam ihre Mutter war. »Ist irgendwas?«
Honey stieß einen tiefen Seufzer aus. Sollte sie es ihr sagen oder nicht? Ja, sie musste es ihr sagen.
»Ich glaube, mir spioniert jemand hinterher.«
»Wer?«
»Ich weiß es nicht.«
Und was war mit dem Rest der Geschichte? Sollte sie ihrer Tochter wirklich erzählen, dass sie dämlich genug gewesen war, sich von dem Typen auf dem Motorrad mitnehmen zu lassen, von dem sie vermutete, dass er ihr nachstellte? Oder hatte sie sich nach Dohertys Erzählungen über Warren Price den Phantom-Motorradfahrer etwa nur eingebildet?
Die beiden Frauen mussten jede einen Schritt zur Seite machen, damit eine Kehrmaschine zwischen ihnen hindurchfahren konnte. Dann gesellten sich Mutter und Tochter wieder zueinander. Inzwischen hatte Honey einen Entschluss gefasst.
Zunächst erzählte sie Lindsey von Doherty, dem Joggen, der Blondine und der Verhaftung von Warren Price.
Lindsey nickte weise. »Männer sind so heikel, wenn es um ihr Gewicht und ihre Fitness geht. Viel empfindlicher als Frauen.«
»Stimmt.«
»Aber du denkst immer noch, dass dir jemand nachstellt?«
Jetzt kam der schwierige Teil. Wie oft hatte sie ihrer Tochter |250|von Kindesbeinen an gesagt, sie sollte auf keinen, aber auch gar keinen Fall mit Fremden mitgehen? Und da stand sie nun, mit über vierzig, und was hatte sie gemacht? Genau das.
»Du, ich weiß, was du dazu sagen wirst, aber ich muss es dir einfach erzählen …«
Sie gestand, dass sie sich auf dem Motorrad hatte mitnehmen lassen, erzählte von dem schweigsamen Fahrer und natürlich von den Gummistiefeln.
»Das war’s. Nur zu, sag mir schon, wie blöd ich mich benommen habe. Ich weiß, dass ich es verdient habe.«
Nichts!
Lindsey stand mit weit aufgerissenem Mund da. Ihre Wangen überzogen sich mit einer zarten Röte.
Honey legte die Stirne in Falten. Vergiss die kleinen grauen Zellen. Jetzt war weibliche Intuition angesagt.
»Kennst du etwa einen Typen, der Gummistiefel trägt?«
Lindsey kaute auf der Unterlippe herum. »Na ja, eigentlich …«
»He! Seht euch das an. Ein Stoffrest zu einem superguten Preis. Hübsch, oder?« Mary Jane war wieder aufgetaucht.
»Ich erklär es dir später«, meinte Lindsey. »Das muss noch ein bisschen warten.«