|154|31

Irgendwann am Abend zog Honey den Auktionskatalog hervor und rief Alistair an. Sie erkundigte sich, ob er noch etwas über die nicht zugewiesenen Nummern herausgefunden hätte. Hatte er eine Ahnung, was diese Posten waren?

»Ich hab rasch alles durchgeschaut, Mädel. Ich hol mal die Einzelheiten.«

Sie hörte Papiere rascheln.

»Irgendwas mit Fotografien. Kameras, Fotoausrüstung vielleicht. Oder Fotos oder Film, die altmodische Sorte.«

Sie überlegte, ob Cameron Wallace wohl Fotoausrüstungen sammelte. Er hatte sich ja nicht speziell geäußert.

Im Restaurant mussten alle mit anfassen. Dort wurde inzwischen bereits der Kaffee serviert. Die Tischreden fingen an, und das Personal konnte ein bisschen verschnaufen.

Honey kratzte gerade in der Küche Essensreste von den Tellern. Rodney Eastwood, genannt Clint, ihr Aushilfstellerwäscher, war in Schwierigkeiten gekommen. Wenn er nicht im Green River Hotel Geschirr spülte, arbeitete er als Türsteher im Zodiac. Gegenwärtig verbrachte er jedoch einige Zeit auf Staatskosten hinter Gittern und wusch keine Teller ab. Man munkelte, er habe im Curfew, einer Kneipe gleich bei der London Road, ein Mädchen aufgerissen. Nachdem er sich mit dem besten Bier ordentlich zugedröhnt hatte, hatte er der Dame angeboten, sie nach Hause zu begleiten. Auf Küsse waren weitere Zärtlichkeiten gefolgt. Er war ihr mit der Hand unter den Rock gefahren – und hatte entdeckt, dass sie ein Mann war! Und da er gerade einmal die Hand da hatte …

Jedenfalls saß er jetzt wegen Körperverletzung ein. Folglich hatte Honey seinen Job geerbt und musste ihre außerordentlich heikle Spülmaschine ein- und ausräumen.

|155|Die Spülmaschine im Green River ließ ab und zu mal Dampf ab. Viel Dampf. Sie zu beladen, war ein echter Albtraum. Wer brauchte mit einem solchen spuckenden Monster im Haus noch eine Sauna?

»Mom, an der Bar ist ein Mann, der nach dir fragt.«

Honey steckte gerade auf der Jagd nach einem Löffel, der durch den Besteckkorb gefallen war, bis zur Taille in dem zischenden Ungetüm. Sie kroch mit hochrotem Kopf heraus. Die Haare klebten ihr in feuchten Strähnen am Kopf.

»Ich kann jetzt nicht. Sieh mich doch an.«

Lindsey schaute. »Ja, du siehst wirklich furchtbar aus.«

»Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, wenn es um Streicheleinheiten fürs Ego geht.«

»Ich sag ihm, dass du nicht da bist, eine Verabredung hast.«

»Ja!« Augenblick mal. Sie erinnerte sich, dass sie ihm von dem Treffen der Zahnärzte erzählt hatte. »Nein!« Panik überkam sie, und sie versuchte, ihr Haar ein wenig aufzubauschen. Es widersetzte sich standhaft diesem Versuch und blieb flach liegen.

»Du hast Kopfweh«, schlug Lindsey vor, die schweigend die verzweifelten Bemühungen ihrer Mutter beobachtet hatte.

»Mit anderen Worten, du meinst, der rennt weg, so schnell er kann, wenn er mich so zu Gesicht kriegt?«

»Na ja, du siehst aus wie eine Vogelscheuche.«

»Könntest du nicht noch etwas näher ins Detail gehen?«

Lindsey schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass dir das gefallen würde. Dann kriechst du vielleicht ganz in die Spülmaschine und kommst überhaupt nicht mehr raus.«

»Verdammt. Ich muss noch das restliche Geschirr in den Mistkasten räumen. Kannst du ihn noch eine Weile für mich hinhalten, Schatz?«

Lindsey ging, um Honey zu entschuldigen. Sie kam mit einem leicht amüsierten Blick zurück. Von Honey war für die Außenwelt nur noch das Hinterteil zu sehen. Der Rest steckte in der Spülmaschine.

Lindsey tippte ihr auf den Rücken. »Er sagt, er hätte eine Überraschung für dich. Er wartet draußen.«

|156|Honey kroch aus dem Schlund der Maschine, nicht ohne sich dabei noch den Kopf zu stoßen.

»Verdammte Kacke!«

Sie stand da, von Panik gepackt, und breitete hilflos die Arme aus.

»Und was mach ich jetzt?«

Lindsey war der Zauberer Merlin unter den Teenagern. Wie oft segnete Honey den Tag, an dem ihre einzige Tochter einen Platz an der Uni abgelehnt hatte.

Gewöhnlich waren Lindseys Ratschläge gut. »Deine Backen sind wirklich rot wie Tomaten! Das müssen wir übertönen.«

»Wie denn? Mit Weizenmehl?«

Lindsey knotete Smudger Smith das rote Tuch vom Hals, das er immer zur Kochuniform trug.

»Notfall«, verkündete sie, als sie seinen verdatterten Gesichtsausdruck bemerkte. »Es wird dir nicht leid tun.«

Smudger lächelte. Über Lindsey ärgerte er sich nie. Zwischen den beiden bestand eine freundschaftliche Zuneigung. Allerdings hätte Honey nie gewagt, das auch nur anzudeuten.

»Hier«, sagte Lindsey und schüttelte das weiß getupfte Tuch in seine ursprüngliche quadratische Form. »Trag es so.«

Sie drehte das Tuch zu einer Wurst, die in der Mitte etwas dicker war und die sie ihrer Mutter wie ein Haarband um den Kopf wand. Dann verknotete sie die Enden zu einer Schleife.

»Voilà! Erste Sahne!«

Honey beäugte sich in der polierten Chromtür des Kühlschranks. Das Rot des Tuchs überstrahlte ihre rosigen Wangen um Einiges. »Gar nicht schlecht.«

Cameron Wallace wartete draußen im Foyer zwischen dem Empfangsbereich und dem »Maschinensaal«, wie alle die Küche nannten. Er stand mit dem Rücken zu ihr und hatte die Hände in den Hosentaschen. Seine Haltung war selbstsicher, viel zu selbstsicher für Honeys Geschmack. Da kam ihr plötzlich ein Gedanke.

»Sag ihm, dass ich gleich komme«, flüsterte sie Lindsey zu und trat schnell in den großen Wandschrank genau gegenüber der |157|Küche. Hier wurden Papierservietten, Zahnstocher, Seife und Toilettenpapier gelagert. Honey nahm ihr Handy heraus und wählte Dohertys Nummer. Er hob sehr rasch ab. Wie immer.

»Ich bin’s«, wisperte sie.

»Bist du in einer Höhle? Deine Stimme klingt so dumpf.«

»Nein, ich bin in einem Wandschrank.«

»Hat dich jemand eingesperrt?«

»Nein, ich wollte nur ein vertrauliches Wort mit dir sprechen.«

»Ah ja, ich verstehe.«

Sein Tonfall verriet, dass er gar nichts verstand.

»Cameron Wallace ist hier und will mit mir reden. Ich wollte erst mit dir sprechen. Ich muss wissen, wie du vorangekommen bist, als du bei ihm warst.«

»Da gibt’s nichts Besonderes zu berichten, außer dass ihm alle Läden in dieser Häuserzeile gehören. Vier insgesamt. Drei sind vermietet. Einer – der, in dem das Opfer gefunden wurde – steht leer. Er wollte ihn verkaufen, hat es sich dann aber noch einmal überlegt. Es waren aber schon viele Gutachter und Bauleute dort, um für Kaufinteressenten das Anwesen zu prüfen.«

»Okay, das behalte ich mal im Hinterkopf.«

»Was hältst du davon, morgen ein ASS näher zu betrachten?«

Er betonte das Wort ASS. Honey begriff, was er meinte.

»Ich will’s versuchen. Ich ruf dich zurück.«

Cameron Wallace lächelte, als er sie sah. Vollkommene, weiße Zähne blitzten auf wie ein Leuchtturm in einer finsteren Nacht.

Sie überlegte, dass sie wahrscheinlich aussah wie Miss Mopp 1956. Er zuckte jedenfalls nicht mit der Wimper, als er sie erblickte.

Sie lächelte zurück. »Tut mir leid, aber in die Bar lassen sie mich so nicht rein.« Sie deutete auf ihre weiße Kochkleidung und die gestreifte Metzgerschürze.

»Dann vielleicht ein anderes Mal. Macht nichts. Ich bin gekommen, um Ihnen ein Angebot zu machen.« Er reichte ihr eine Mappe. »Das ist der Mietvertrag für einen Laden, der mir gehört und der für das Second Hand Rose passen würde. Ich bin sicher, Ihre Mutter und deren Freundinnen werden damit einverstanden |158|sein. Geben Sie mir nur Zeit, um alle rechtlichen Dinge zu erledigen. Und natürlich brauche ich eine Verabredung zum Abendessen.«

Honey hatte erwartet, dass er sie um eine Verabredung bitten würde. Mehr noch freute sie jedoch, dass er ihrer Mutter einen Laden anbot.

»Rufen Sie mich an, wenn Sie Zeit haben.« Er schlenderte davon.

Honey stand da und starrte vor sich hin. Blendende Nachrichten! Zuerst benachrichtigte sie ihre Mutter. Deren Reaktion war ziemlich ähnlich.

Dann telefonierte sie mit Casper, um ihm die letzten Neuigkeiten zum Mordfall zu berichten. Sie erklärte ihm, dass Doherty sie eingeladen hatte, ihn nach Trowbridge zu begleiten. Dort wollten sie sich die Associated Security Shredding ansehen.

»Auf jeden Fall hingehen!«

Sie erzählte, dass sie sich erst noch um ihre Mutter und das Angebot eines Ladens kümmern wollte.

Seine Stimme wurde eisig. »Ich hatte da eine Anfrage von einer Busreisegruppe. Die brauchen im Februar Zimmer. Könnten Sie die Reservierung übernehmen?« Eindeutig ein Köder, den man ihr vor die Nase hielt, damit sie nicht absprang und weiterhin als Verbindungsperson zur Polizei tätig blieb. Im Februar Zimmer vermieten, das war etwa so leicht, wie in einem Sieb den Atlantik zu überqueren. Katastrophal!

»Ich kann meine Mutter auch noch gegen Abend treffen.«

»Braves Mädchen.«

Das wurde ja immer besser! Sollten sie dann auch noch den Mörder von Lady Templeton-Jones dingfest machen, wäre es das Tüpfelchen auf dem i. Diesen Fall zu lösen, das wäre buchstäblich, als triebe man einen Geist aus.