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Das Telefon klingelte früh am Morgen.

»Hannah. Ich bin’s. Was tust du gerade?«

Nur ihre Mutter nannte sie Hannah. Honey schloss die Augen und fing an, langsam bis zehn zu zählen. Sie schaffte es sogar bis fünfzehn.

»Ich bin auf dem Weg in die Küche.«

»Na, egal, das macht nichts. Ich muss unbedingt mit dir sprechen. Es ist wichtig.«

Honey schaute zur Decke. »Mutter, ich habe ein Hotel. Die Küche ist das Herz und der Maschinenraum des Green River. Da gibt es einiges zu erledigen um diese Zeit.«

»Du hast doch einen Chefkoch!«

»Der hat heute seinen freien Tag.«

Das stimmte nicht ganz. Smudger Smith, Chefkoch von außerordentlichem Rang und ehemaliger Freistilringer, hatte sich gestern Abend mit ein paar alten Freunden getroffen. Gerade hatte Lindsey vom Empfang aus angerufen und die Nachricht übermittelt, Smudger säße auf dem Boden des Kühlraums und presste sich einen Beutel gefrorener Erbsen an den Schädel und einen anderen an den Schritt. Warum er sich die Tiefkühlerbsen an den Kopf hielt, hatte Honey sofort begriffen. Sie hatte sich vorgenommen, unverzüglich nachzusehen, was und wie viel Smudger gebechert hatte. Man würde einiges nachfüllen müssen. Den Grund für den zweiten Erbsenbeutel wollte sie sich auf keinen Fall ausmalen. Männer taten seltsame Dinge, wenn sie betrunken waren.

»Hannah, ich mache mir große Sorgen.«

Honey hielt die Luft an. Ihr Mutter war eine zähe Kämpferin, die geborene Überlebende. Jede Frau, die so viele Ehemänner verschlissen hatte, musste so sein.

|38|»Hat es was mit einem Mann zu tun?«

»Natürlich nicht. Warum sollte ich mir Sorgen um einen Mann machen?«

»Ich dachte, du hättest vielleicht … Na, ist ja auch egal.« Gloria Cross hielt es für ihre Mutterpflicht, einen neuen Ehegatten für ihre Tochter zu finden. Leider hatte sie in puncto Männer einen völlig anderen Geschmack als ihre Tochter. Außerdem war Honey der Meinung, dass sie erwachsen genug wäre, selbst einen zu finden. »Wo liegt dann das Problem?«

»Es ist der Laden. Das Second Hand Rose. Wir haben ein Problem. Ich muss das unbedingt mit dir besprechen.«

Honey schaute auf die Uhr. Es war schon schwer genug, den Job und die knapp bemessene Freizeit auf die Reihe zu kriegen. Auch noch Zeit für die Familie herauszuschinden, das grenzte an Zauberei.

»Mutter, jetzt geht es gerade wirklich nicht. Die Gäste bekommen schlechte Laune, wenn wir ihnen nicht rechtzeitig ihr Frühstück servieren. Könnten wir uns nicht später unterhalten?«

»Also, das ist doch die Höhe! Meine Tochter kümmert sich lieber um wildfremde Leute, als ihrer armen alten Mutter zu helfen!«

Man konnte Gloria Cross beim besten Willen nicht als gebrechliche alte Dame bezeichnen. Sie war quirlig und quicklebendig, wild aufs Flirten und schlicht furchterregend. Außerdem war sie egoistisch, nervig, dominant und gereizt, wenn sie etwas wollte.

Honey würgte ihr Handy symbolisch mit beiden Händen, ehe sie in den sauren Apfel biss und sich wieder auf das Gespräch einließ.

»Wer hat dich denn so aus der Fassung gebracht?«

Ihre Mutter schaltete auf einen klagenden Ton um. »Na, das ist ja wieder mal typisch. Ihr jungen Leute mit eurem hektischen Lebenswandel habt keine Zeit für die Probleme von uns Alten. Und dabei bin ich deine Mutter! Aber mach dir keine Gedanken um meine Probleme. Deine Mutter ist zwar Rentnerin, aber sie kann ganz gut für sich selbst sorgen.«

|39|Die Sache war wirklich ernst! Nie, nie – niemals! – hatte ihre Mutter sich als Rentnerin bezeichnet. Seniorin, Dame im reifen Alter, das vielleicht. Aber das bloße Wort Rentnerin beschwor Bilder von gebrechlichen alten Damen mit rutschenden, um die Knöchel Falten werfenden Stützstrümpfen und platt gedrückten Filzhüten herauf. Und Honeys Mutter war alles andere als das.

Honey war sofort völlig zerknirscht.

»Mutter, nein, wenn du ein Problem hast, dann sag’s mir.«

»Ich möchte dich nicht noch mehr belasten.«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang nun womöglich noch zarter und schwächer. Als läge jemand in den letzten Zügen.

»Wie wäre es, wenn du auf einen Kaffee vorbeikämst?«

»Prima! Ich rufe beim Empfang an und mache mit denen eine Uhrzeit aus.«

Rums, schon hatte sie aufgelegt.

»Aua.«

Jedes Mal durchströmte Honey ein Gefühl der Erleichterung, sobald ihre Mutter zu reden aufgehört hatte. Jetzt auch, aber nun kamen noch Schuldgefühle hinzu. Als sie beim Empfang angekommen war, hatte sie das Handy bereits wieder aufgeklappt und war drauf und dran, um Verzeihung zu flehen. Glorias Telefon war besetzt.

»Später«, sagte Honey sich, »ich rufe sie später an.«

Wenn man sich vor einer Verantwortung drücken wollte, verbarrikadierte man sich am besten in der Vorratskammer. Es hatte eine therapeutische Wirkung, Behälter mit Reis, Nudeln, Zucker und Salz zu sortieren und Regalbretter abzuwischen. Wenn man sich Lindseys iPod auslieh, verlieh die Musik der Sache noch extra Schwung. Honey wackelte bei der Arbeit mit dem Hinterteil. Sie hatte irgendwo gelesen, dass man davon eine schmalere Taille bekam. Und es lenkte sie von ihren Gedanken ab.

Honey schrubbte gerade an einem besonders hartnäckigen Fleck herum. Immer schön konzentriert bleiben. Das war das Geheimnis. Alles war wunderbar und würde auch so bleiben.

|40|Dann schlug Murphys Gesetz zu: Alles, was schiefgehen kann, geht auch wirklich schief.

Lindsey tippte ihr auf die Schulter. Tina Turner und »Simply the Best« wurden auf Pause gestellt.

Lindseys Miene ließ auf schlechte Nachrichten schließen. »Wasser überall! Es kommt überall rein!«

Smudger, der Chefkoch, der sich inzwischen beinahe von seinem Kater erholt hatte, kam aus der Küche herbeigerannt. Sein blasses Gesicht war rosig vor Ärger und vom Dampf der Spülmaschine.

»Der verdammte Abfluss, schon wieder verstopft!«

Das war diese Woche bereits das dritte Mal. Honey krempelte die Ärmel hoch. »Na dann, auf ein Neues. Hol mir den Allessauger.«

Während Lindsey sich auf den Weg machte, um Dumpy Doris den Industriestaubsauger aus den Fängen zu reißen, eilte Honey auf den Hof hinter der Küche. Smudger folgte ihr auf den Fersen.

Der Gedanke daran, sich Gummihandschuhe überzuziehen, wieder einmal den Gullydeckel hochzuwuchten und allen möglichen Schmodder aus dem Abfluss zu schaufeln, war nicht gerade appetitlich. Honey wand sich. »Das ist eigentlich eher eine Aufgabe für einen Mann … und übrigens, dieser Beutel Tiefkühlerbsen …«

»Ich hab noch Parsach zu sautieren.«

Schon fiel krachend die Küchentür ins Schloss. Smudger war weg. Parsach? Was war das denn? Oder hatte sie sich verhört? Hatte er vielleicht »paar Sachen« gesagt? Was immer es war, in Tatsachen übersetzt hieß es, dass sie sich mutterseelenallein um den Abfluss kümmern musste.

Der lag in einer engen Ecke, die an drei Seiten von Mauern umgeben war, die eine Art Nische bildeten. Hier schien nie die Sonne hin. Moos und Farne wucherten nach Herzenslust. Es war ein Minibiotop, und der verstopfte Abfluss hatte sogar noch einen kleinen See hinzugefügt. Da der Hof zur offenen Seite der Nische hin leicht anstieg, konnte das Wasser nirgends abfließen.

|41|Honey biss die Zähne zusammen. »Echt glamourös, so ein Hotel in Bath!«

Sie schlüpfte aus den blauen Wildlederschuhen mit den kleinen Goldknöpfchen an der Seite und zog ihre grünen Gummistiefel an. Ohne Goldknöpfchen. Dafür mit schlammverkrusteten Kappen.

Über den Abfluss, mit dem sie sich nun beschäftigen musste, wurde das Abwasser aus der Küche entsorgt. Smudger hatte angeordnet, sämtliche Arbeiten einzustellen, die etwas mit Wasser zu tun hatten, während Honey hier arbeitete.

Auf dem Weg zum Hof hatte sich Honey nicht nur die Gummistiefel geschnappt, sondern auch gleichzeitig nach dem altbewährten Abflusssauger gegriffen. In letzter Zeit waren Gummistiefel und Sauger ein unzertrennliches Paar geworden. Sie hielt das Teil in die Höhe und kam sich vor wie die Freiheitsstatue in der Fassung für Klempner: »Gebt mir Eure stinkenden Abflüsse …« Sie ging noch einmal ins Haus zurück, um sich die Gartenforke zu holen, ehe sie beherzt die Hintertür aufmachte.

Sie watete durch das fettige Abwasser und die darin treibenden Karottenabfälle und machte einen ersten Versuch mit der Forke. Die Zinken trafen unter der Oberfläche des widerlichen grauen Zeugs, das angeblich Wasser sein sollte, auf Metall. Als Honey gerade mit der Forke den Abflussdeckel hochheben wollte, bemerkte sie einen feinen blauen Nebel, der ihr um den Kopf waberte.

Feuer!

Sie stürzte sich auf den Feuereimer und wollte schon mit Schwung den gesamten darin gelagerten Sand auf die Flammen schleudern, als sie aus dem Augenwinkel Mary Jane erspähte.

»Ich bin gekommen, um dieses Haus von bösen Geistern zu befreien …«, verkündete die alte Dame mit hohler Stimme.

Der Eimer war schwer. Honey versuchte mit aller Kraft, die schwungvolle Bewegung abzubremsen, schaffte es jedoch nicht ganz. Der Sand klatschte vor ihr ins Wasser. Honey fluchte leise vor sich hin. Noch mehr Feststoffe, die den Abfluss verstopfen würden!

|42|Mary Jane wedelte mit dürren Armen über dem Kopf. Blauer Rauch wirbelte in feinen Spiralen um sie herum.

»Ich wollte dir helfen, das alles hier wieder in Ordnung zu bringen.«

Honey schaute sie von Kopf bis Fuß an. »Ich sehe aber keine Schaufel und keinen Abflussreiniger.«

»Nein, mit dem hier«, erwiderte Mary Jane.

Honey duckte sich unter dem Büschel trockener Blätter weg, die Mary Jane herumschwenkte.

»Indianischer Räuchersalbei«, verkündete Mary Jane in einem Ton, als sei damit alles erklärt. »Kann garantiert alle bösen Geister vertreiben.«

»Mir wäre ein Klempner lieber.«

»Hier ist ein Poltergeist eingezogen«, meinte Mary Jane. »Der hat den Abfluss verstopft.«

»Hab nicht gesehen, dass einer eingecheckt hätte.«

Auf Mary Janes Prioritätenliste standen praktische Lösungen nicht sonderlich weit oben. Im Augenblick befand sie sich in einer anderen Welt, hatte den Kopf in den Nacken geworfen, die Augen geschlossen. Sie trug ein viel zu großes Paar Gummistiefel – von der schweren Sorte mit viel Profil, wie Bauarbeiter sie bevorzugen. Ihre Beine sahen aus wie zwei kleine dürre Zweige, die in riesigen Töpfen steckten. Dass sie es schaffte, überhaupt einen Fuß zu heben, ohne aus den Stiefeln zu fahren, grenzte schon an ein Wunder.

Honey stand da und schaute dümmlich grinsend hinter Mary Jane her, die bereits den Rückzug in Richtung Haus antrat. Sie fragte sich, ob das Herumwedeln mit indianischem Räuchersalbei schon als Rauchen an einem öffentlichen Ort zählte. Gedanken an Geldbußen von zweitausend Pfund schossen ihr durch den Kopf und machten ihr weit mehr zu schaffen als der Qualm.

»Mary Jane, meinst du, du könntest woanders räuchern? Vielleicht im Garten? Ich erinnere mich, dass du mir von Aktivitäten berichtet hast, an der Stelle, wo früher der Rosengarten war …«

|43|Mary Jane blieb stehen, richtete sich zu voller Größe auf und schaute sich um. Zunächst wirkte ihr Gesicht völlig unerbittlich. Honey wollte sich gerade entschuldigen und sagen: »Ach, zum Teufel, was macht schon eine kleine Geldstrafe, und wen schert es, wenn sich die Gäste die Lungen aus dem Leib husten? Räuchere ruhig weiter. Pass nur bei den Trockenblumen auf. Die fangen so leicht Feuer.«

Mary Jane kniff die Augen zusammen, holte tief Luft, blähte ihren Brustkorb weit auf und begann dann »Ommmmm« zu summen. Wenn sie das lange genug durchhielt, konnte einem das wirklich Zahnschmerzen verursachen.

»Also«, meinte Mary Jane, als sie endlich fertig war, »dieser bösartige kleine Kobold ist nun ins Koboldland zurückgekehrt.« Sie machte eine Pause. »Ich glaube, du hast recht mit der Sonnenuhr. Ich schaue mir das gleich mal an. Ich denke, ich werde nicht viel Salbei verbrennen müssen, um dem Abhilfe zu verschaffen.«

Und das Gras ist so feucht, dass sie es nicht in Brand stecken kann, ergänzte Honey in Gedanken.

Der Salbei hatte sich tatsächlich als nützlich erwiesen, denn sein Geruch hatte den Müllgestank ein wenig übertönt. Müll ist wie Wein, dachte Honey. Je älter, desto intensiver das Bouquet.

Sobald die Drecksarbeit getan war, zerrte sie sich die Stiefel von den Füßen und schlüpfte wieder in ihre eleganten Schuhe. Andere Arbeit, andere Fußbekleidung.

Niemand stand hinter dem Empfangstresen, als sie dort ankam. Es war Lindseys Schicht. Honey runzelte die Stirn. Ihre Tochter war doch sonst die Zuverlässigkeit in Person. Wo steckte das Mädchen bloß?

Dann sah sie ihre Tochter. Sie stand draußen vor der Eingangstür und redete mit jemandem, den Honey nicht recht ausmachen konnte.

Lindsey wandte sich halb um und bemerkte ihre Mutter. Sofort verschwand die andere Gestalt. Lindsey kam lächelnd wieder hereingeflitzt.

|44|Honey deutete mit dem Kinn zur Tür. »Jemand, den ich kenne?«

»Nein«, erwiderte Lindsey, die plötzlich ungeheuere Geschäftigkeit an den Tag legte. »Jemand, der nach dem Weg gefragt hat.«