|116|22

Der Mann mittleren Alters, der am Empfang auf sie wartete, war rundlich und hatte rosige Wangen. In einem verzweifelten Versuch, cool zu wirken, trug er eine dunkle Brille mit Goldrand, in einem Ohr einen Diamantknopf und eine übergroße Baskenmütze auf dem Kopf. Der Rest seiner Kleidung war genauso affig. Mr. Obercool wollte eindeutig etwas sein, was er nicht war.

»Ich bin gleich von der Arbeit hergekommen«, verkündete er und lächelte wie sonst nur Bestattungsunternehmer lächeln. Sein Tonfall war schleimig, die Stimme so süß und pappig wie triefender Sirup.

Ihre Ladyschaft stammte aus Ohio, und Honey war daher außerordentlich erstaunt, dass ihr Vetter nicht die Spur von einem amerikanischen Akzent hatte. Statt dessen war sein Tonfall vornehm und klang, als hätte er viele Stunden Unterricht in Sprechtechnik genossen. War dieser »Verwandte« vielleicht ein Extra, das man zusätzlich zum Titel erwerben konnte? Gegen Aufpreis, versteht sich.

Das allein hätte Honey nicht weiter beunruhigt. Aber irgendetwas an diesem Tonfall irritierte sie. Er war beschwichtigend, beinahe herablassend, und das Lächeln war starr und aufgesetzt. Sie überlegte, dass sich vielleicht Adelstitel so auf die Sprache auswirkten, und fragte sich, wie viel seiner wohl gekostet hatte.

Doherty bat den Mann, seine Personalien anzugeben.

»Ich lebe in Northend. Das kennen Sie doch, Inspektor?«

»Ja, ist mir bekannt. Ich wusste nicht, dass Ihre Ladyschaft einen englischen Vetter hatte.«

»Wir hatten den gleichen Urgroßvater. Der ist um die Jahrhundertwende nach Amerika ausgewandert. Ich meine die vorletzte Jahrhundertwende. 1900.« Sein Lächeln wankte nicht.

|117|»Geht es in Ordnung, dass ich Wandas Sachen mitnehme?«, fragte er Doherty geradeheraus.

Wieder fühlte sich Honey an einen Bestattungsunternehmer erinnert: höflich, mit öliger Stimme und lächelnd, immer und immer nur lächelnd. Überhaupt nicht wie ein Lord oder ein Ritter.

»Noch nicht. Selbst dann müssten Sie sich als Vetter ausweisen«, antwortete Steve.

»Aber gern, darauf war ich natürlich vorbereitet.« Sir Ashwell Bridgewater langte mit der Hand in die Jackentasche und zog seinen Führerschein heraus. Steve überflog ihn, ehe er ihn zurückgab. »Ich habe auch den Sohn von Wandas Schwester per E-Mail kontaktiert. Ich glaube, er hat sich schon bei der örtlichen Polizeiwache gemeldet. Dort kann man ebenfalls mein Verwandtschaftsverhältnis mit der Verstorbenen bestätigen.«

Seine Stimme kannte nur eine einzige Tonlage. Das klang völlig unnatürlich. Und er zeigte keinerlei Emotionen. Keine Spur von Tränen in den Augen, nicht das geringste Beben des glänzenden, rundlichen Kinns. Der ganze Typ war Honey von Herzen zuwider.

Steve überflog die anderen Papiere, die Bridgewater mitgebracht hatte. An seiner Miene konnte Honey ablesen, dass alles in Ordnung war.

»Ich kann trotzdem die Sachen noch nicht freigeben. Nicht, bis ich meine Untersuchung abgeschlossen habe und sicher bin, dass die Gegenstände für den Fall nicht relevant sind.«

»Aber natürlich, Herr Inspektor. Ich weiß, dass Sie alles in Ihren Möglichkeiten Stehende tun werden, um Wandas Mörder zu fassen. Wenn Sie nichts dagegen haben, bleibe ich in Kontakt.«

Aus irgendeinem unerfindlichen Grund – nicht nur, weil sie seine Baskenmütze nicht mochte – sträubten sich Honey die Nackenhaare. Dieser Tonfall kam ihr seltsam bekannt vor und irritierte sie. Sie zwang sich, das Positive an der Sache zu sehen. Sie durfte nun auch eine Frage stellen.

»Warum hat Ihre Kusine eigentlich in einem Hotel in der Stadt |118|gewohnt und nicht bei Ihnen? Ich hätte gedacht, dass Verwandte, die einander lange nicht gesehen haben, sich besuchen?«

Er fuhr zu ihr herum. »Sind Sie auch bei der Polizei?«, fragte er. Das Lächeln war unverändert, aber seine Augen blickten sie misstrauisch an.

»Nun, eigentlich …«

Steve kam ihr zu Hilfe. »Sie gehört zu meiner Abteilung.«

Casper rollte mit den Augen. »Sir Ashwell, ich bitte Sie, diese Einmischung zu entschuldigen. Aber Sie werden verstehen, wie besorgt wir alle sind. Ich bin sicher, Ihnen liegt genauso viel daran wie uns, dass wir den Mörder Ihrer Kusine finden. Und dass das ausgerechnet in Bath geschehen musste! In Jane Austens schöner Stadt!«

Wieder war in Bridgewaters starrem Lächeln keinerlei Veränderung zu bemerken, keine Spur davon, dass er vielleicht irgendwie verstört sein könnte.

»Ich verstehe das sehr gut«, sagte er zu Casper und wandte sich dann wieder Honey zu. »Als Antwort auf Ihre Frage: zunächst hat meine Kusine bei mir gewohnt.«

»Das La Reine Rouge ist ein sehr gutes Hotel, Mr. Bridgewater, aber warum ist sie bei Ihnen ausgezogen und hierher gekommen?«

»Entfernung und Bequemlichkeit. Sie hat eine Weile bei mir gewohnt, aber dann hat sie festgestellt, dass Northend zu weit von den Sehenswürdigkeiten entfernt lag. Sie hielt es in Anbetracht dessen für sinnvoller, ins Stadtzentrum umzuziehen.«

Honey runzelte die Stirn.

»Wann kann ich denn nun ihre Sachen mitnehmen?« Er wandte sich wieder Steve zu.

Steve schaute nachdenklich drein. »Sobald wir uns davon überzeugt haben, dass das Gepäck keinerlei zweckdienliche Hinweise enthält. Und Sie sollten damit rechnen, dass ich noch einmal eingehender mit Ihnen über die ganze Angelegenheit reden möchte.«

Bridgewater lächelte unbeirrt weiter, wenn auch seine Wangen von rosig auf tiefrot umgeschlagen waren.

|119|»Aber natürlich, Herr Inspektor. Sie erreichen mich zu Hause. Hier ist meine Karte. Oder bei der Arbeit. Wir sind immer gern zu Diensten.«

Wir? Plural majestatis?

Honey hatte wirklich Probleme mit Herrn Bridgewater. Irgendwie kribbelte es sie am ganzen Körper, wenn sie den Kerl nur ansah – und es hatte nicht das Geringste mit Verlangen oder gar Lust zu tun. Auch sein Titel beeindruckte sie keineswegs. Da hatte Lindsey unrecht. Honey platzte mit einer dritten Frage heraus.

»Wo arbeiten Sie, Mr. Bridgewater?«

Sein Mund schien in alle Richtungen zu zucken, weil sie ihn mit »Mister« angesprochen hatte. Schließlich würgte er eine Antwort hervor. »Bei der Firma APW Marketing. Ich leite ein Team für Telefonmarketing.«

Kundenwerbung am Telefon! Das war’s! Deshalb hatte sie ein so kribbeliges Gefühl gehabt. Typen wie dieser Mann waren für die Dutzende von Anrufen verantwortlich, die sie beinahe allwöchentlich auf die Palme brachten, weil ihr wildfremde Leute irgendwelche Dinge und Dienstleistungen andrehen wollten, die sie nicht brauchte. Und alle klangen gleich: Ob sie sie baten, an Umfragen teilzunehmen, ihr vorschlugen, Isolierverglasung in ihre Fenster einzubauen, eine neue Küche oder Gerätschaften zum Reinigen von verstopften Rohren zu kaufen. Wie oft hatten Anrufer wie er und sein Team eines ihrer genüsslichen Schaumbäder rüde unterbrochen? Wut stieg in ihr auf.

Steve konnte zwar keine Gedanken lesen, aber er musste erraten haben, was gerade in ihr vorging. Sie spürte seine warme Hand auf ihrem Unterarm. Die Botschaft war klar: Wir können ihm seine Beschäftigung nicht zum Vorwurf machen.

Ein letzte Frage konnte sie sich trotzdem nicht verkneifen. »Nur noch eins, ehe Sie gehen, Mr. Bridgewater. Wie kommt es, dass Sie und Ihre Kusine beide Titel haben – wenn auch verschiedene, wie ich sehe?«

»Das öffnet einem alle Türen«, erwiderte er, immer noch mit dieser gleichförmigen, künstlich freundlichen Stimme, die jeden |120|Tag Tausende von Menschen zur Weißglut reizte. »Ich habe es ihr vorgeschlagen. Sie hat sich ihren Titel gekauft, ich meinen. Deswegen haben wir zwei verschiedene Namen – von zwei verschiedenen Anbietern. Aber das tut nichts zur Sache. Darum geht es ja wohl kaum. Sondern darum, welch erstaunliche Wirkung die bloße Erwähnung eines solchen Namens haben kann.«

Honey hatte den Eindruck, dass Steve nur mit größter Mühe ein Grinsen unterdrückte. Casper, der inzwischen begriffen hatte, dass er hier jemandem auf den Leim gegangen war, lief tomatenrot an.

»Warum wollte Lady Templeton-Jones wohl hier ausziehen?«, fragte sie, sobald sie das Hotel verlassen hatten.

Steve zuckte die Achseln. »Eine Geldfrage?«

»Vielleicht.« La Reine Rouge war das pompöseste Hotel der Stadt. Jeder Gast bekam einen flauschigen Frotteebademantel geschenkt. In den Bädern gab es Waschbecken für »Sie« und »Ihn«. Je vier Zimmern war ein persönlicher Betreuer zugewiesen. Wie konnte man da mithalten? Aber Steve hatte recht. Der Preis konnte sehr wohl das Problem gewesen sein.