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Doherty hatte angerufen. Er war auf dem Weg zum Hotel.

»Beeil dich. Heute Morgen hat meine Mutter gedroht, sie würde zum Kaffee kommen, aber vielleicht überrascht sie mich und taucht zum Fünf-Uhr-Tee hier auf.«

»Wie du magst. Ich bin flexibel, schnell oder langsam.«

»Diesmal will ich mich mal für schnell entscheiden.«

Der Duft frisch gebrühten Kaffees und noch warmer Scones und Croissants erfüllte Honeys Büro.

Als Doherty eintrudelte, wirkte er ziemlich entspannt. Er erzählte Honey von dem Mord. Sie berichtete ihm von der Tasche und erklärte ihm, dass sie wahrscheinlich die letzte Person war, die die Tote gesehen hatte.

Doherty ging die Sache ruhig und methodisch an. Zunächst hockte er sich auf die Kante ihres Schreibtisches und übermittelte die Personalien, die im Pass der Ermordeten standen, per Telefon an die Wache. »Sie hat sich Lady Templeton-Jones genannt, aber es scheint, als sei ihr Name auch Wanda Carpenter gewesen, Alter achtundsechzig Jahre.« Er nickte als Reaktion auf das, was am anderen Ende der Leitung gesagt wurde.

»Natürlich. Das überlassen wir denen.« Er legte auf. »Die setzen sich mit der Polizei in den Vereinigten Staaten in Verbindung und die benachrichtigen ihre Familie. Ich habe darum gebeten, dass man uns noch einige weitere Informationen zuschickt.« Doherty hatte seine ernste Miene aufgesetzt. Die braune Ledertasche der Verstorbenen stand mitten auf dem Schreibtisch. Steve musste den Inhalt aufnehmen, falls irgendetwas zum Vorschein kam, das für den Fall relevant sein könnte.

Doherty begann eine Inventarliste der wichtigsten Sachen aufzustellen – Pass, Geld, zerknüllte Quittungen, Werbebroschüren |70|für verschiedene Sehenswürdigkeiten – für das Haus von Jane Austen, das Römische Bad und ein Konzert in der Abteikirche. Nun kamen die letzten Gegenstände aus den Tiefen der Tasche zum Vorschein und wurden registriert.

»Haarbürste« – aufgeschrieben – »Lippenstift.« Auch das notierte er. »Eine Schachtel.« Die Schachtel war etwa 30 mal 20 Zentimeter groß und etwa 5 Zentimeter hoch.

»Kontaktlinsen«, sagte Honey, die alle drei Monate die gleiche grüne Schachtel mit der Post bekam.

Doherty stellte die Schachtel zur Seite. »Puderdose … Lippenstift. Zwei Lippenstifte? Wie viele von den Dingern braucht eine Frau denn?«

Honey klärte ihn auf. »Das hängt davon ab, was sie anhat. Meine Mutter hat zu jedem Outfit einen.«

Doherty zog eine Grimasse. »Das glaube ich gern. Ich kenne deine Mutter ja.«

»Zwei Lippenstifte, das ist in Ordnung«, sagte Honey mit lässigem Achselzucken. Zwei waren wirklich in Ordnung, obwohl die Verstorbene ihr nicht vorgekommen war wie eine Frau, die sich für die Produkte von Helena Rubinstein interessierte, nicht einmal für die Hausmarke von Woolworth. Allerdings hatte vielleicht der Regen ihren Blick getrübt. Es war wohl kaum der Abend für scharfe Beobachtungen gewesen.

Doherty legte die Tasche und seine Liste zur Seite. »Ich komme später noch darauf zurück.«

Honey ertappte ihn dabei, wie er sie von der Seite anblickte.

»Geht’s dir gut?«, fragte er.

»Prima.«

Das stimmte nicht ganz. Sie war völlig durcheinander. Das konnte man leicht daran erkennen, dass sie mit den Ringen an ihren Fingern spielte. Noch nie war sie dem Opfer irgendeiner Untat so nah gewesen – wenn man einmal von der Prügelei absah, die sich im Green River ergeben hatte, nachdem während einer Hochzeitsfeier der frischgebackene Ehemann die Mutter seiner soeben angetrauten Ehefrau als neugierige, hässliche alte Schachtel bezeichnet hatte. Es war nicht gerade ein gutes Omen |71|für die Ehe gewesen, insbesondere da die so bezeichnete Schwiegermutter sich revanchierte, indem sie den Bräutigam mit einem wohlgezielten Schwung ihrer Handtasche k. o. schlug. Er hatte bis dahin wohl kaum geahnt, was für schwere Sachen eine Frau in ihrer Handtasche mit sich herumschleppt. Doch das war eine Familienangelegenheit gewesen, und das Opfer war mit einer Gehirnerschütterung davongekommen. Hier jedoch ging es um Mord.

Als eine der letzten Personen, die Wanda Carpenter – Lady Templeton-Jones – noch lebend gesehen hatte, musste auch Mary Jane befragt werden. Als sie kam, trug sie ein kleines Reiseschreibpult aus georgianischer Zeit unter dem Arm. Honey bot ihr ein Croissant an.

Mary Jane schaute das Hörnchen verächtlich an. »Ich hätte lieber Vollkornkekse mit Schokoladenglasur, wenn das geht?« Prompt wurde Lindsey herbeigerufen und beauftragt, welche zu holen. Sie kam mit einem Tablett mit Keksen und einem Headset auf dem Kopf zurück. Sie hatte in letzter Zeit angefangen, über den Computer zu telefonieren.

Steves Miene hellte sich auf. »Du siehst ja richtig nach High-Tech aus, Lindsey. Fast wie ein Trekkie.«

Honeys Tochter schnitt ihm eine Grimasse. »Findet meine Mutter auch. Die sagt, damit sähe ich eher nach Raumschiff Enterprise als nach Empfang vom Green River Hotel aus. Bis ich ihr erklärt habe, dass Telefonate über den Computer billiger sind, manche sogar kostenlos.«

»Also, unsere Lady war keine echte Lady«, meinte Honey, die das Thema wechseln wollte. Technische Dinge ließen sie völlig kalt – und dazu gehörten Computer, DVD-Player, die Zeituhr an der Mikrowelle und sogar ihr uralter Videorecorder. Das Mobiltelefon war ein notwendiges Übel, obwohl sie damit nur telefonierte und SMS verschickte. Alles andere ging über ihren Verstand.

»Ha!«, sagte Mary Jane laut genug, dass Lindsey erschrocken auffuhr und die Tassen klirrten. »Ich wusste einfach, dass das keine echte Lady war. Echte Ladies haben Stil. Man kann auf den |72|ersten Blick erkennen, ob jemand aristokratische Vorfahren hat oder nicht. Sehen Sie zum Beispiel mich an.«

Alle blickten sie an. Und zwar verständnislos. Niemand sagte ein Sterbenswörtchen.

Mary Janes Vorfahren waren wohl ein wenig exzentrisch gewesen, jedenfalls wenn man davon ausging, dass Kleidungsstil und allgemeines Verhalten sich vererbten. Die Amerikanerin war groß und dünn, hatte Arme wie Besenstiele und trug heute einen kirschroten Hosenanzug. Ihre aus vielen kleinen Löckchen bestehende Haarpracht schimmerte in einem zauberhaften Kobaltblau und wurde von einem quietschgrünen Haarband zusammengehalten. Zweifellos hielt sie sich für eine echte Lady. Das hatte alles mit ihrem Vorfahren zu tun, einem gewissen Sir Cedric, der im Green River spukte, insbesondere in dem Zimmer, das Mary Jane im Augenblick bewohnte.

Langsam wurde das Schweigen betreten.

Steve hatte Erbarmen. »Also, wenn wir mal bei der Sache bleiben …«

Lindsey machte munter weiter. »Mary Jane hat wahrscheinlich recht. Titel kann man heutzutage online kaufen, für ganze dreihundert Dollar. Für die Richtigen muss man allerdings schon mehr als fünftausend hinblättern, für manche sogar bis zu dreißigtausend Pfund oder darüber.«

Mary Jane fiel die Kinnlade herunter. »Was du nicht sagst!«

Steve Doherty horchte höchst interessiert auf. »Es gibt also einen legalen und einen illegalen Markt für Adelstitel?«

»Korrekt.«

»Erzähl mir mehr davon.«

Lindsey, eine unerschöpfliche Quelle historischen Wissens, nickte. »In adeligen Kreisen werden viele alte Titel von einer Generation zur anderen weitervererbt. Die Familie besitzt sie noch, benutzt sie aber oft nicht.«

»Diese Titel … hat ihnen die jemand für Dienste für die Krone verliehen? Ich meine, Heinrich VIII. oder so jemand?«, erkundigte sich Mary Jane fasziniert.

Ein ziemlich kesses Lächeln stahl sich auf Lindseys Gesicht. |73|»Ja, Dienste könnte man das nennen. In der einen oder anderen Schlacht oder im Bett, denke ich.«

Steve rückte näher. »Weiter!«

Honey wusste genau, was jetzt in ihm vorging. Ob das alles historisch korrekt war, scherte ihn nicht, er wollte die pikanten Einzelheiten hören, so viele wie möglich, bitte.

Lindsey blieb sich jedoch treu und hielt sich an die Fakten. »Für den alten Adel ist es kein Problem, einen längst überflüssigen Titel zu verscherbeln, der nicht mehr benutzt wird. Natürlich ist damit keinerlei Landbesitz verbunden, doch die Titel sind beim »Master of Arms« verzeichnet – der hat die Aufsicht über Adelstitel in allen heraldischen Belangen. Aber wie überall, insbesondere im Internet, gibt es auch immer Schurken. Das erklärt Titel zum Schleuderpreis von dreihundert Dollar – natürlich ein Angebot, das sich vor allem an Amerikaner richtet, doch sind die längst nicht mehr die einzigen Abnehmer. Zum Beispiel kaufen sich auch Leute aus den früheren Kolonien diese Titel.«

Honey stellte die Frage, die auf der Hand lag: »Aber warum? Was ist denn so toll an einem Titel, den man nicht geerbt hat?« Lindsey zog eine Augenbraue hoch und schaute ihre Mutter mit einer Spur – einer winzigen Spur – von Vorwurf an. »So beeindruckt man das Personal.«

Honey spürte, wie ihr heiß wurde. »Ich lasse mich nie von Titeln beeindrucken.«

Wenn möglich, stiegen Lindseys Augenbrauen noch höher. »Das vielleicht nicht, aber du behandelst Leute mit Titeln trotzdem mit Glacéhandschuhen, denn sie könnten dir ja geschäftlich einen Vorteil bringen – eine Empfehlung an Freunde oder eine Erwähnung in einer Hochglanzzeitschrift.«

»Das ist eine völlig andere Sache.«

Steve trat dazwischen. »Lässt du dich von Leuten mit Adelstiteln beeindrucken?«, fragte er Lindsey.

Die schüttelte den Kopf. Diese Woche schimmerte ihr Haar in einem satten Rote-Bete-Ton, und nur eine einzige blonde Strähne teilte ihren Pony in zwei Hälften. »Nein, ich interessiere mich eher für die Aristokraten der Vergangenheit, als die noch |74|die Geschichte bestimmten. Heutzutage sind Titel nicht mehr von Bedeutung. Heutzutage bin ich für die Republik.«

Mary Jane schaute verwirrt drein. Honey vermutete, dass sie als Amerikanerin nicht so recht wusste, für welche Seite sie sich entscheiden sollte. Sollte sie für die Republik eintreten oder ihr aristokratisches Erbe verteidigen?

Lindsey murmelte, sie müsse jetzt in die Küche gehen, um die Leibeigenen auszupeitschen.

Schon beim bloßen Gedanken, dass irgendjemand auf die Idee kommen könnte, ihren Chefkoch Smudger zu schlagen, stieg Entrüstung in Honey auf.

»Prima«, sagte Doherty und wandte sich wieder Mary Jane zu. »Sie müssen noch eine Aussage machen.«

»Die Frau war eine Betrügerin!«

Doherty war die Langmut in Person. »Das habe ich eigentlich damit nicht gemeint. Ich möchte, dass Sie sich jetzt ganz genau erinnern, Mary Jane. Wann haben Sie die Frau zum letzten Mal gesehen?«

Mary Jane verzog das Gesicht, runzelte die Stirn, dass sich ihre blassen Augenbrauen hoben.

»Vor dem Garrick’s Head. Da habe ich sie zuletzt klar und deutlich gesehen. Danach habe ich nur noch ab und zu einen flüchtigen Blick auf sie erhascht. Zum Teufel, es hat geschüttet, als hätte der liebe Gott die Dusche aufgedreht und versuchte nun, uns alle in den Gully zu spülen!«

»Also: Ich habe die als Lady Templeton-Jones bekannte Frau zum letzten Mal vor dem Garrick’s Head gesehen …«

Doherty bewies Engelsgeduld. Er sprach Mary Jane jede einzelne Zeile laut vor, holte sich ihre Zustimmung ein, ehe er sie notierte. Schließlich hatte er eine Aussage von einiger Länge beisammen, die sie unterschreiben konnte.

Honey verdrehte die Augen zur Decke, als Mary Jane das Blatt Papier umständlich auf der schrägen Oberfläche des Reiseschreibpults ausbreitete, das sie auf den Knien hielt.

Verdattert schaute Doherty zu, wie die alte Dame die Messingschließen öffnete und dann den Deckel des Tintenfasses aufklappte. |75|Zu guter Letzt kam noch eine Schreibfeder zum Vorschein.

»Für mich ist die Vergangenheit noch lebendig«, sagte Mary Jane. »Und wenn ich irgendetwas schreiben muss, dann mache ich es so wie meine Vorfahren.«

Sie unterzeichnete die Aussage mit einem schwungvollen Schnörkel, trocknete dann die Tinte mit einem Löscher mit Elfenbeingriff ab. Sobald all dies getan war, teilte Doherty ihr mit, dass sie nun gehen dürfte.

Mary Jane erhob sich. Sie wirkte recht nachdenklich. »Ich könnte ja vielleicht versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen und sie zu fragen, wer der Täter war.«