Honey Driver war sich ihrer eigenen Sterblichkeit nur zu bewusst. Ihr war sonnenklar, dass sie eines Tages sterben müsste. Allerdings hatte sie nicht damit gerechnet, sich bereits in den nächsten paar Jahren aus dem irdischen Dasein zu verabschieden – bis heute Abend. Denn eigentlich war doch heutzutage das Alter von fünfundvierzig das, was früher einmal Ende zwanzig gewesen war? Der Gespensterspaziergang war Mary Janes Idee gewesen.
»Ich schau mal in meinem Terminkalender nach«, hatte Honey auf den Vorschlag erwidert. Alles zwecklos. Da war keine Eintragung. Kein geplanter Kneipenbummel durch Bath mit Kollegen aus dem Hotelgewerbe. Auch keine Einladung von Steve Doherty auf einen Drink. Wo war der Kerl, wenn man ihn mal brauchte?
»Und ich habe doch heute Geburtstag.«
Mary Jane war eine gute Seele. Mary Jane war eine Freundin. Aber sie war auch nicht ganz von dieser Welt. Sie glaubte an Poltergeister, Gespenster, Tischrücken, Schutzengel und Feen im Garten.
»Es regnet.«
»Gespenstern macht so ein Tröpfchen Regen nichts aus.«
Tröpfchen? Es regnete Bindfäden, und inzwischen waren Honeys Turnschuhe völlig durchweicht. Eines der Tröpfchen hing ihr an der Nasenspitze. Sie hatte zu niesen begonnen: nicht einmal oder zweimal, mit genug Zeit dazwischen, um in der Handtasche nach Papiertaschentüchern zu wühlen. Nein, die Nieser reihten sich aneinander wie Perlen an einem Rosenkranz, einfach endlos. Dieser Spaziergang würde noch ihr Tod sein.
Ringsum gluckerte das Wasser durch die Regenrohre, sprudelte |6|in die Gullys, tropfte von Fensterbrettern und ergoss sich im bernsteingelben Licht der Straßenlaternen in schimmernden Kaskaden. Hätte Honey einen Schirm dabeigehabt, so hätte der Regen wie mit Hammerschlägen darauf gedonnert. Endlich hatte sie die Papiertaschentücher gefunden, zog eines heraus und stopfte den Rest wieder in die Tasche. Auch in die tröpfelte das Wasser. Grauenhaft! Sie rief sich ins Gedächtnis, dass Mary Jane Geburtstag hatte. Immer schön fröhlich bleiben! Wie um alles in der Welt konnte sie das bewerkstelligen?
Regen, Regen, nichts als Regen. Und Schirme. Sie dachte an Gene Kelly und »I’m singing in the rain …«. Ohne Regenschirm und ganz gewiss ohne die richtige Tonart patschte sie über die Straße.
»Pass auf!«
Mary Jane hatte das gerufen. Und sie gerade noch am Kragen gepackt und zurückgerissen.
Ein Motorrad verfehlte sie um Haaresbreite.
»Idiot!«, brüllte Honey. Der Fahrer verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war, wieder in der Dunkelheit und hinterließ eine Gischtfontäne.
»Ich hab sein Nummernschild nicht lesen können. Sonst wäre der Kerl geliefert«, grummelte Mary Jane mit grimmiger Miene.
»Macht nichts. Du hast mich gerade noch rechtzeitig zurückgezerrt. Das ist das Wichtigste.«
»Der ist einfach nicht ausgewichen!«
»Wirklich?«
»O ja.«
Mary Jane war quietschvergnügt und quicklebendig. Sie war Doktor der Parapsychologie und erst kürzlich ganz von Kalifornien in das Green River Hotel in Bath übergesiedelt, um näher bei ihren Verwandten zu sein – ihren toten Verwandten, wohlgemerkt. Die alten Herrschaften hatten schon vor einigen Jahren, nämlich im achtzehnten Jahrhundert, das Zeitliche gesegnet. Mary Jane selbst war auch bereits ein wenig über siebzig, und sie hielt viel von guter Zukunftsplanung.
»Es wird nicht mehr allzu lange dauern, bis ich mich ebenfalls |7|in die Geisterwelt begebe. Ich mag es gar nicht, irgendwo die Neue zu sein. Das hat mir bereits in der Schule und auf dem College überhaupt nicht gefallen. Es kann nie schaden, wenn man schon vorher ein bisschen Kontakt mit den Leuten aufnimmt, ehe man sich zu ihnen gesellt.«
Es war, als hörte man einer netten alten Tante zu, die einen Besuch bei verschollen geglaubten Verwandten in Australien plante.
Honey erkundigte sich, wie lange der Geisterspaziergang dauern würde. »Mindestens zwei Stunden«, versicherte ihr Mary Jane. Honeys Lebensgeister ermatteten vollends.
»Aber doch bestimmt nicht heute Abend. Bei dem Wetter?«
Mary Janes Antwort traf sie wie ein Hammerschlag. »Doch, ganz bestimmt. Vielleicht sogar länger. Der Spaziergang ist besonders bei Senioren sehr beliebt.«
Das war wirklich eine schlechte Nachricht. Nicht alle Senioren waren so fit wie Mary Jane. Vor Honeys geistigem Auge tauchten Spazierstöcke und – schlimmer noch – Rollatoren auf. Nebel senkte sich über die Welt. Sogar die fröhlichen Lichter des Theatre Royal neben dem Pub Garrick’s Head schienen schwächer zu leuchten, als hätte diese Nachricht sie genauso entmutigt wie Honey.
In der breiten Gasse neben dem Haupteingang des Pubs hatte sich eine kleine Gruppe von Menschen versammelt. Die Stadtführerin für den Gespensterspaziergang, ein schmales Ding mit strähnigem Haar und bleichem Teint, lächelte der Gruppe nervös zu. Sie schien in noch schlechterer Verfassung zu sein als alle anderen. Es sah ganz so aus, als würde dieses arme, nasse Hühnchen vom schlechten Wetter langsam weggespült. Der Regen prasselte auf ihren rosa Schirm, prallte vom Stoff ab und sprühte in alle Richtungen.
Mit einem Kopfschütteln vertrieb Honey jeden Gedanken an warme Betten und heiße Getränke. Sie schaltete auf einen Gesichtsausdruck um, den man beinahe als aufmerksam hätte durchgehen lassen können. Die Stadtführerin begann mit ihrem Vortrag.
|8|»Ich heiße Pamela Windsor, und ich mache das hier noch nicht lange. Bitten haben Sie also Geduld mit mir. Leider waren unsere erfahreneren Gästeführer heute Abend alle unabkömmlich. Ich hoffe auf Ihr Verständnis.«
Wasser triefte von Honeys Kapuze, während sie nickte. Klar hatte sie Verständnis. Warum waren sie nicht alle ebenso vernünftig gewesen und zu Hause geblieben?
»Würden Sie mir jetzt bitte Ihre Namen sagen«, fuhr die unglückselige junge Dame fort. »Sie bekommen dann von mir ein Schildchen, das Sie bitte anheften, damit ich weiß, wer Sie alle sind. Ich möchte nämlich einen Artikel über heute Abend schreiben – wenn auch nur für eine Lokalzeitung, müssen Sie wissen.« Sie lachte nervös. Keiner hatte etwas dagegen einzuwenden.
Pamela notierte sämtliche Einzelheiten auf einem aufgeweichten Blatt Papier, das an einem Klemmbrett festgemacht war. Der Regenguss verwandelte es zusehends in Papiermaché, und die Tinte verlief bereits, aber Pamela hielt tapfer durch. Volle Punktzahl für Ausdauer!
Die Mitglieder der Gruppe nannten nacheinander ihre Namen. Die meisten waren unter Kapuzen oder Regenschirmen oder sogar beidem verborgen.
Während Mary Jane sich vor Begeisterung beinahe überschlug, schaute sich Honey die übrigen Spaziergänger an und betete, dass alle, die Stöcke oder Gehhilfen brauchten, zu Hause geblieben waren.
Außer Mary Jane und ihr bestand die Gruppe noch aus vier Männern plus dazugehörigen Ehefrauen. Zwei der Paare waren Amerikaner, eines kam aus Deutschland und das vierte aus Schweden. Dann waren noch zwei Australierinnen mittleren Alters dabei, die zusammenzugehören schienen. Sie kicherten wie Schulmädchen. Sie waren als Letzte aus der Bar des Garrick’s Head aufgetaucht. Ein zarter Hauch von Gin umwehte sie. Neben ihnen stand ein junger Mann mit einem grünen Regencape, der mit einem Akzent sprach, den Honey nicht recht einordnen konnte.
Hurra, keine Spur von einem Rollator! Honeys Freude sollte jedoch nur kurz sein. Ein Taxi fuhr heran. Die vordere Beifahrertür |9|ging auf. Ein Regenschirm wurde aufgespannt, hinter dem eine Dame ehrwürdigen Alters mit flachen Gesundheitsschuhen und Spazierstock auftauchte.
Das Taxi fuhr fort, und die roten Rücklichter verschwammen im Regendunst. Die alte Dame drängelte sich in die Mitte der Gruppe.
»Ich bin Lady Templeton-Jones.«
Mit diesen Worten reckte sie der jungen Stadtführerin ihre Faust mit der Gebühr für den Spaziergang entgegen.
»Hi. Ich bin Hamilton George«, erwiderte einer der Amerikaner und streckte ihr die Hand hin. »Nennen Sie mich Hal. Und wie nennen wir Sie?«
»Lady!«
Honey wechselte einen überraschten Blick mit Mary Jane, soweit das möglich war, wenn man unter einer Plastikkapuze hervor jemanden anschaute, der unter einer anderen Plastikkapuze verborgen war.
»Habe ich da einen Akzent aus dem Mittleren Westen vernommen?«, zischte Honey aus dem Mundwinkel.
»O ja, Mittlerer Westen der USA. Wahrhaftig, Gottes Garten ist groß«, murmelte Mary Jane zurück.
Das war er wirklich. Bath war ein Mekka für Touristen aus aller Welt. Die meisten kamen der Atmosphäre wegen, wollten auf Jane Austens Spuren wandeln, durch die Römischen Bäder spazieren und sich in lüsternen Bildern vorstellen, dass hier irgendwann einmal ein Zenturio nackt im schwefeligen Wasser gebadet hatte – so etwa als Gladiator im Stil von Russell Crowe.
Nun teilte die Stadtführerin die Namensschildchen aus. »Damit ich mich dran erinnern kann, wer Sie alle sind«, erklärte sie zum wiederholten Male.
Obwohl das Schildchen recht winzig war, hatte Ihre Ladyschaft darauf bestanden, dass ihr Titel voll ausgeschrieben wurde. »Lady Templeton-Jones, so möchte ich angeredet werden.«
»Toller Abend für Enten«, gluckste eine der Australierinnen, als wäre das der originellste Witz der Welt.
»Meinst du damit nicht alte Gänse?«, erwiderte ihre Freundin mit |10|einem Kichern. Einen kurzen Augenblick lang kam nicht einmal der Regen gegen die Schwaden von Gordon’s Gin an.
Na, zumindest diese beiden amüsierten sich.
»Gut«, sagte die Stadtführerin und verstaute das Klemmbrett unter ihrem weiten rosa Regenmantel. »Wir fangen gleich hier beim Garrick’s Head an. Wie die meisten von Ihnen sicher wissen, war David Garrick ein berühmter Schauspieler seiner Zeit, und viele alte Pubs, die in der Nähe von Theatern liegen, tragen seinen Namen …«
Nun berichtete sie von seltsamen Begebenheiten im Theatre Royal selbst, bezog sich auf verschiedene Aufführungen der neueren Zeit und nannte jeweils die Anzahl von Zuschauern, die die Geister gesehen oder gehört hatten.
»Die Graue Dame ist tatsächlich während einer Vorstellung vor achthundertsiebenundfünfzig Menschen erschienen!«
Da war die Gruppe aber beeindruckt! So eine präzise Zahl! Nicht achthundertfünfzig, sondern achthundertsiebenundfünfzig! Das musste doch stimmen.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass Geister so dreist sein können«, bemerkte jemand aus der Gruppe.
Mary Jane war leicht pikiert. »Hier geht es nicht um einen Geist. Hier haben wir es mit einem Gespenst zu tun, dem Ergebnis einer traumatischen Begebenheit. Geister sind etwas völlig anderes. Die existieren einfach in einem parallelen Universum und nehmen Kontakt auf, wenn ihnen danach ist.« Sie sagte das so, als sei sie daran gewöhnt, regelmäßig Besuch aus dem Jenseits zu bekommen.
Pamela Windsor nickte respektvoll. »Nun, wenn noch jemand auf die Toilette gehen möchte …« Gleich trottete die Hälfte der Gruppe in den Pub zurück. Als sie endlich wieder vollzählig waren, gab die Stadtführerin eine ausführliche Geschichte des Pubs und des Theaters zum Besten. So erzählte sie unter anderem von dem Jasminduft, der stets dem Erscheinen der Grauen Dame vorauswehte.
»Als Nächstes gehen wir über den Queen Square zum Circus …«
|11|Die Gruppe patschte hinter ihr her wie eine Reihe triefnasser Entenküken.
Das Gespenst vom Queen Square kam und ging – vielmehr: es kam nicht.
»Nichts gesichtet.« Mary Jane klang enttäuscht.
»Das muss am Wetter liegen«, zischelte Honey ihr zu.
Während sie eine kleine Steigung hinter sich brachten, die sie zum nächsten Halt führen sollte, beugte sich Mary Jane dicht an Honeys Ohr. »Ich denke nicht, dass wir heute irgendwas Interessantes zu sehen bekommen. Ich empfange von dieser Gruppe ganz negative Schwingungen. Diese Leute sind überhaupt nicht auf spirituelle Dinge eingestellt.«
»Auf Spirituosen manche schon,« erwiderte Honey. Sie schaute zu den beiden Australierinnen hinüber, die wie kleine Schulmädchen über die Pfützen hüpften. Eine der beiden hatte einen Flachmann dabei. Wer die größten Spritzer machte, nahm einen Schluck.
»Diese Leute brauchen dringend spirituelle Beratung«, tadelte Mary Jane.
»Und ich brauche ein Paar neue Turnschuhe.« Honey schaute zu ihren Füßen hinunter und sah, wie das Wasser in Strömen aus den Schnürlöchern troff. Zu allem Überfluss lösten sich immer wieder die Schnürsenkel, schleiften durch die Pfützen und wurden dabei noch nasser. Alle paar Minuten musste Honey stehen bleiben und die Schuhe neu zubinden. Langsam fiel sie immer weiter hinter die Gruppe zurück.
Mary Jane war mit Feuereifer bei ihrem Lieblingsthema und hielt tapfer Schritt mit der Stadtführerin.
Honey bemerkte, dass sie neben der Lady mit dem Spazierstock durch den Regen patschte. Sie fühlte sich verpflichtet, Konversation zu machen. »Sie haben also einen Adelstitel. Wie kommt das?«
»Das geht Sie gar nichts an!«
»Tut mir leid. Nichts für ungut.«
Sie stapften weiter über den leicht erhöhten Kiesweg, auf dem früher die feinen Herrschaften ihre noblen Gewänder zur Schau |12|gestellt hatten. Die vor Nässe triefenden Blätter der Bäume rauschten in der Dunkelheit.
Von weitem hörte Honey die Bemerkung: »Das raschelt wie ein gestärkter Taftrock.«
In Honeys Kopf hatten derlei elegante Gedanken keinen Platz. Vor ihrem geistigen Auge schwebten Bilder von einer heißen Schokolade und einer Wärmflasche, da konnte die Mode des achtzehnten Jahrhunderts nicht mithalten.
Auf dem Rasen in der Mitte des Circus gesellten sich Honey und Ihre Ladyschaft zum Rest der Gruppe.
Pamela erzählte von allerlei seltsamen Begebenheiten, aber all das rauschte weit über Honey hinweg. Ihre Schnürsenkel schleiften schon wieder auf dem Boden. Resigniert beugte sie sich hinunter.
»So, nun geht es weiter. Als Nächstes zu den Assembly Rooms.«
Pamela stach energisch ihren Regenschirm in die Luft.
Die Gruppe trottete hinter ihr her. Honey bildete die Nachhut.
Große Gebäude rechts und links der Straße warfen schwarze Schatten, gegen die auch die Straßenlaternen nicht ankamen. Zunächst ging es zur Gay Street zurück, dann rechts in eine kleine Gasse, die an der Hinterseite der Antiquitätenmärkte vorbeiführte.
Dank ihrer Schnürsenkel war Honey wieder weit hinter der Gruppe zurückgeblieben. Irgendwann konnte sie die anderen nicht mehr sehen oder hören. Nur die Lady aus dem Mittleren Westen war noch in der Nähe. Honey schien es, als würden die Schritte der armen alten Dame immer langsamer. Sie blieb stehen, damit die Frau zu ihr aufschließen konnte, und erhaschte tatsächlich ein Lächeln, als sie mit ihr gleichgezogen hatte. »Ich nehme an, Sie sehen auch keine Geister?«
»Ganz gewiss nicht!«
Honey versuchte es noch einmal. »Und Sie fürchten sich nicht vor Gespenstern?«
»Fürchten muss man sich vor den Lebenden, nicht vor den Toten.«