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Doherty war bestens gelaunt. Während sie mit offenem Verdeck die Straße entlangflitzten, erläuterte er ihr den Fall. »Der Neffe von Lady Templeton-Jones hat der Polizei in Ohio erzählt, dass sie sich den Titel gekauft hat. Ihrer Meinung nach würde ihr das Status verleihen. Sie hatte sich immer gewünscht, eine Aristokratin zu sein. Zunächst war sie auch sehr glücklich. Dann hat sie einen Artikel gelesen, und ihr sind Zweifel gekommen. Sie vermutete, dass man sie hereingelegt hat.«

»Also war Ihre Ladyschaft auf dem Kriegspfad und wollte sich an dem rächen, der ihr den falschen Titel angedreht hatte?«

»Vielleicht.«

»Wissen wir, von wem sie ihn gekauft hat?«

»Noch nicht, aber wir wissen wo. Im Internet – wo sonst? Wir lassen das gerade überprüfen.«

Trowbridge war ein nüchterner Ort mit roten Ziegelhäusern aus viktorianischer Zeit. Eisenbahn, Kanal und Webereien hatten hier in vergangenen Zeiten den schwer geplagten Menschen Brot und Arbeit geboten. Jetzt war es eine Schlafstadt für Bath, ein Auffangbecken für alle, die sich keine Wohnung in einem Crescent aus der georgianischen Zeit leisten konnten, deren Konto aber für ein Haus in einer viktorianischen Häuserzeile durchaus ausreichte.

Um die Stadt herum war eine Reihe von kleinen Gewerbegebieten entstanden, die besonders für Unternehmen gut geeignet waren, die wenig Raum zum Lagern von Rohstoffen oder für die Produktion benötigten. Ideale Bedingungen für Betriebe im Dienstleistungssektor.

Auf einem großen Schild an der Einfahrt war eine lange Straße abgebildet. Sie lief bis in den entferntesten Bereich des Industriegebiets. Dort war Associated Security Shredding in einem |160|etwas größeren Bau untergebracht. Auf dem Plan hatte man alle Gebäude mit einem Farbcode versehen. Der Fertigbau von ASS war lila gekennzeichnet.

»Irgendwie eine schlappe Farbe«, meinte Honey.

Steve grinste. »So etwas würde deine Mutter aussuchen.«

»Es ist ein bisschen vage und ultrafeminin.« Sie warf einen genaueren Blick auf die Fertigkonstruktion – sie sah aus wie ein etwas zu groß geratenes Gartenhaus und auch mindestens genauso langweilig. »Das ist ja kaum der Stoff, aus dem Aristokratenträume sind. Keine Burgzinne weit und breit. Was zum Teufel hat Ihre Ladyschaft hier gewollt?«

»Na ja, es ist jedenfalls mal ein Anfang.« Steve hatte den Motor seines tiefer gelegten MR2 abgestellt. Er trommelte ungeduldig auf das Lenkrad.

»Ist was?«, erkundigte sich Honey.

»Man beachte: Hier ist der Name voll ausgeschrieben.«

»Mit den Initialen können sie ihrem Image nur schaden.«

»Dieser Wallace, hat der sich an dich rangemacht?«

»Nein.«

»Enttäuscht?«

»Das geht dich gar nichts an!«

»Er hat falsche Zähne.«

»Hat er nicht!«

»Wir haben ihn in flagranti erwischt.«

»Nein!«

»Die Assistentin vom Empfang hat ihm gerade sehr intensiv assistiert.«

Honey grinste. Plötzlich hatte sie den dringenden Wunsch, noch einmal bei Wallace & Gates Holdings vorbeizugehen. Und wenn es nur war, um der eingebildeten Ziege am Empfang einen wissenden Blick zuzuwerfen.

Dohertys Grinsen konnte mit dem von Cameron Wallace mithalten, wenn auch seine Zähne echt und nicht mit Porzellan verschönert waren. Wallace hatte perfekte Beißer, eine perfekte Sonnenbräune, perfekte Gesichtszüge und die dazu passenden perfekten Kleidungsstücke und Accessoires. Verglichen damit |161|war Doherty ein bisschen rau und ungehobelt. Die beiden ähnelten den Wohnungen in diesem Fernsehprogramm über Renovierungen – die eine war glatt und elegant und perfekt, die andere hatte jede Menge Charakter, musste allerdings hier und da ein bisschen renoviert werden.

Der dunkelhäutige junge Mann am Empfang von Assured Security Shredding war das genaue Gegenteil von der Dame bei Wallace & Gates. Kein schicker Anzug, kein straff nach hinten gekämmtes Haar. Er hatte Dreadlocks und trug ein T-Shirt mit Nadelstreifen. Wenn er lächelte, blitzte einer seiner Backenzähne golden auf. Und er hatte ein Zungenpiercing, einen glänzenden Stahlknopf.

»Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Steve zückte den Dienstausweis, und schon waren Zunge und Stahlknopf nebst Lächeln verschwunden. Feindseligkeit war an die Stelle der Freundlichkeit getreten.

»Ohne Mr. Bannisters Erlaubnis kann ich Ihnen gar nichts zeigen. Und ich kann jetzt hier nicht weg und ihn fragen.«

»Könnten Sie ihn bitte anrufen?«

»Nein. Er hört das nicht.«

Steve runzelte die Stirn. »Keine Ausflüchte bitte.«

Der junge Mann drehte die Augen zur Decke. »Sie war’n wohl noch nie in ’ner Schredderanlage?«

»Wo ist die?«

Der junge Mann deutete auf die Tür zu seiner Rechten, auf der ein Schild »Kein Zutritt für Unbefugte« prangte.

Steve drückte sie auf und ging hinein. Honey folgte ihm auf den Fersen.

Der Raum vibrierte von ohrenbetäubendem Lärm. Vor ihnen standen Schreddermaschinen, Reihe um Reihe – große Ungetüme, die das Papier schneller auffraßen, als McDonald Hamburger produziert.

Männer mit Gummihandschuhen luden aus Plastiktüten Hände voller A4-Blätter und Computerausdrucke in den Schlund der Maschinen. Manchmal flatterte ihnen ein Blatt aus der Hand und landete auf dem Fußboden.

|162|Gerade war an der Laderampe eine weitere Lastwagenladung angekommen. Im Augenblick standen die großen Doppeltüren offen, und es zog gewaltig herein. Einige Blätter waren im Luftzug schon fortgeflogen. Die endlosen, gefalzten Buchhaltungsausdrucke wurden nur aufgeblättert und flatterten fröhlich im Wind.

Steve wiederholte die Nummer mit dem Dienstausweis. Ein junger Kerl in Turnschuhen schlurfte los, um Bannister zu holen.

Ein glatzköpfiger Mann mit verkniffenem Gesicht und schwammigem Kinn schaute hoch, als ihm jemand auf die Schulter tippte. Er nickte und unterbrach gleich seine Arbeit.

Er hatte eine fliehende Stirn und blassblaue Augen. Er schrie, um sich Gehör zu verschaffen. »Kann ich was für Sie tun?«

Wieder zückte Steve den Dienstausweis und brüllte zurück. »Ich bin hier wegen einer Morduntersuchung.« Er musste sich gewaltig anstrengen. »Könnten wir irgendwo reden, wo es ein bisschen leiser ist?«

Mr. Bannister nickte und führte Honey und Steve wieder durch die Tür, durch die sie eingetreten waren. Als sie hinter ihnen zufiel, hatte Honey das Gefühl, jemand hätte einen Deckel auf einen brodelnden Kochtopf gelegt. Das Getöse verstummte sofort.

Bannister musterte sie beide mit zusammengekniffenen, fragenden Augen. »Haben Sie gerade Mord gesagt?«

Doherty nickte. »Kürzlich wurde in Bath eine gewisse Lady Templeton-Jones ermordet.«

Bannister nickte zurück. »Ja, davon habe ich gehört.«

»Wir haben die Adresse und Telefonnummer von ASS in ihrem Terminkalender gefunden. Wissen Sie, warum sie da drinstehen könnten?«

Bannister schob die Unterlippe vor und schüttelte den Kopf. »Der Name kommt mir nicht bekannt vor.«

»Könnten Sie bitte in Ihren Unterlagen nachsehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Wir haben sehr wenig private Einzelkunden hier. Unsere Klienten sind große Unternehmen, die mehr Papier produzieren, als eine normale |163|Büromaschine schreddern kann. Wir arbeiten viel für Regierungsbehörden und große Konzerne, aber auch für einige kleinere Unternehmen. Und das ist schon alles.«

Während Steve dem Mann weitere Fragen stellte, beobachtete Honey Bannisters Körpersprache. Er schob manchmal beim Sprechen den oberen Teil seines Gebisses herunter, aber sonst gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass er vielleicht etwas zu verbergen hatte. Auch das vorgeschobene Gebiss hatte nichts zu sagen: vielleicht irritierte ihn ein Körnchen aus der Erdbeermarmelade, ein Tomatenkern oder eine Nuss. Dieser Mann brauchte dringend ein besseres Haftmittel.

Steve zeigte ihm ein Foto der Verstorbenen.

Bannister schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wenn ich Ihnen das Foto hierlasse, könnten Sie es rumreichen?«, fragte Doherty.

»Kein Problem«, antwortete Bannister.

Als sie wieder im Wagen saßen, zog Steve eine Packung Gummibärchen aus dem Handschuhfach. Er bot Honey welche an. Sie beäugte sie misstrauisch.

»Die sind des Teufels«, meinte sie und schauderte.

Steve lachte. »Was?«

»Die sind des Teufels. Einer von den kleinen Gummikörpern zwischen den Zähnen, und schon ist mein Kalorienkonto für heute gewaltig überzogen.«

»Das ist doch nur ein Gummibärchen, um Himmels willen!«

Sie stöhnte und schnitt eine Grimasse. Nur eines! Sie konnte einfach nicht widerstehen. Also ein rotes. Und dann noch ein grünes. Ein orangefarbenes. Und ein weißes …

»Das ist es ja. Ein kleines rotes ebnet den Weg für einen ganzen Regenbogen. Ach was. Aber nur eines …« Darauf verschwanden in rascher Folge rot, grün, orange, weiß und schwarz.

Steve lächelte. »Hat es heute Morgen keine Eier mit Speck gegeben?«

Die Anspielung war nicht zu überhören. Sie stopfte sich wirklich voll. Sie drehte die Tüte zu, schob sie ganz hinten ins Handschuhfach und klappte es zu.

|164|»Weiche, Satan!«

Steve lächelte immer noch kopfschüttelnd und ließ den Wagen an.

Während sie sich in den Räumen von ASS aufhielten, hatte neben ihnen ein großer Lieferwagen geparkt. Es waren auch noch andere Autos auf dem Parkplatz aufgetaucht, der inzwischen ziemlich voll war. Steve konnte daher nicht einfach rechts abbiegen, um vom Gelände zu fahren. Er musste in einer Linkskurve um die anderen Wagen herum, wenn er deren Stoßstangen nicht rammen wollte.

Honey hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie die vielen Gummibärchen verdrückt hatte. Sie schaute gedankenverloren aus dem Fenster und sprach wie ein Mantra jenen meistgebrochenen guten Vorsatz vor sich hin: Ich darf der Versuchung nicht erliegen. Ich darf der Versuchung nicht erliegen. Gummibärchen sind nicht gut für mich. Gummibärchen sind nicht gut für mich.

Plötzlich blieb ihr das Mantra im Hals stecken. Goldzahn saß auf der Laderampe. Bei ihm war ein anderer Typ. Der junge Mann war ein wenig untersetzt, trug einen armeegrünen Anorak und Polyesterhosen. Er schien den Lieferwagen auszuladen – zumindest wäre das wohl seine Aufgabe gewesen. Genau in dem Augenblick öffnete er jedoch einen der mit »Security Shredding« markierten Säcke und wühlte den Inhalt durch.

Honey wies Steve darauf hin. »Was meinst du, was haben die beiden denn vor?«

»Wir gehen mal hin und finden es raus.«

Die beiden jungen Männer erstarrten, als sie Steve und Honey näher kommen sahen. Doherty zeigte auch dem zweiten Typ seine Dienstmarke. Der wurde ganz nervös. Doherty versuchte es einfach.

»Hat diese Frau Sie hier besucht?« Er zeigte dem Kerl im Anorak einen Abzug des Fotos.

Es war reine Spekulation. Steve hatte eigentlich nicht erwartet, dass dabei etwas herauskommen würde. Aber das Glück war ihm hold.

»Ja«, antwortete der junge Mann zögernd.

|165|»Und wer sind Sie?«

»Simon Taylor.«

»Gut.«

Er stellte ihm die üblichen Fragen.

Honey hörte zu. Lady Templeton-Jones hatte also den Titel von Simon erworben.

»Sie haben sich auch persönlich kennengelernt?«

»Sie wollte mir nur für den Titel danken und für die guten Dienste, die ich ihr geleistet habe.«

»Sonst nichts?«, drängte ihn Doherty.

Der Junge blieb stumm. Doch Honey hatte den Eindruck, dass er ihnen etwas verschwieg.