Mary Jane blieb vor dem richtigen Laden stehen. »Sieht wirklich gut aus«, meinte sie und beäugte das Schaufenster. »Etwas mehr Farbe wäre nicht schlecht. Vor allem Rosa.«
»Das ist überhaupt nicht in Mode«, meinte Gloria.
»Bei mir schon.« Niemand hätte von Mary Jane etwas anderes erwartet.
Nun schnürte sie ihr Bündel auf. Die Tasche war aus Segeltuch, hatte Holzgriffe und wurde mit einer langen Zugschnur verschlossen. Natürlich war sie rosa – mit einem wilden Wirbelmuster in Pistaziengrün.
Glorias Armband, Ohrringe und Halskette rasselten und glitzerten golden, während sie sich mit dem uralten Türschloss abmühte.
»Lass mich mal«, meinte Lindsey und versuchte ihr Glück. Sie legte das Ohr ans Holz und führte den Schlüssel mit dem eleganten Geschick eines Chirurgen.
Die Tür ging auf.
Nicht zum ersten Mal wunderte sich Honey über die verborgenen Talente ihrer Tochter. Wo hatte sie das nun wieder her?
Mary Jane rauschte als Erste hinein und wirbelte mitten im Laden herum.
»Ein starker Geruch«, meinte sie und schnüffelte wie ein reinrassiger Bluthund.
»Feuchte Farbe«, erwiderte Gloria. »Ich musste alles ein bisschen auffrischen. Vielmehr habe ich jemanden dafür bezahlt, das für mich zu übernehmen. War gar nicht teuer.«
Honey roch mehr als Farbe. Es war nur ein Hauch, aber unverkennbar. »Ich rieche Parfüm.«
»Meines. Chanel Nummer 5. Das hat Marilyn Monroe im Bett getragen. Sonst nichts.«
|301|»Das einzige Parfüm, das wir hier wirklich brauchen, ist der Duft dieses feinen Kräutchens hier«, verkündete Mary Jane. Sie zog ein Büschel Räuchersalbei aus der Tasche und wedelte damit herum. »Hat jemand ein Feuerzeug?«
Großmutter Cross, Honey und ihre Tochter schauten einander ratlos an. Keine von ihnen rauchte.
»Ich weiß!« Gloria verschwand auf klappernden Stöckelschuhen im Hinterzimmer. »Wir haben einen Gasherd. Ist nicht gerade High-Tech, aber er zündet gut.«
Sie hielt den batteriebetriebenen Anzünder über den Gasring. Ein Kreis blauer Flammen flackerte auf.
»Wunderbar!«
Mary Janes Augen funkelten im Gaslicht, als sie das Büschel Räuchersalbei in die Flammen hielt. Die trockenen Blätter sprühten rote Funken. Die rote Glut verwandelte sich sogleich in Rauch.
Mary Jane begann auf und ab zu gehen.
Gloria runzelte die Stirn und schloss rasch die Tür zwischen dem Hinterzimmer und dem Laden.
»Es wäre mir lieber, wenn Sie mit diesem Zeug nicht im Laden herumwedeln würden. Das setzt sich ja in den Kleidern fest. Räuchersalbei, das mag ja schön und gut sein, aber niemand will doch danach riechen!«
Sie einigten sich darauf, dass der obere Treppenabsatz der beste Ausgangspunkt wäre. Mary Jane schritt mit hocherhobenem Salbeibüschel voran.
Die Treppenbeleuchtung war schummrig. Kerzenförmige Glühbirnen in gusseisernen Halterungen spendeten ein trübes Licht. Der obere Treppenabsatz war am schlechtesten beleuchtet. Hier verschwand die Decke völlig hinter den Balken eines riesigen Mansardendaches. Schräge Wände und Eichenbalken warfen Schatten, wo keine sein sollten.
Angst haben, das ist was für kreischende Teenager in dusseligen Filmen, sagte sich Honey. Sie vermied es trotzdem sorgfältig, länger zu den immer verdächtiger wirkenden Schatten hinzuspähen.
|302|Mary Jane begann mit ihrem Hokuspokus, schwenkte die Salbeizweige und skandierte gleichzeitig feierliche Worte in einer Sprache, die niemand verstand. Wie in Trance wanderte sie herum und wäre um ein Haar die Treppe hinuntergefallen.
»Vorsicht, Mary Jane.«
Lindsey packte sie an einem ihrer weiten Ärmel und zerrte sie zurück.
Mary Jane bestand darauf, alle Treppenabsätze zu »reinigen«.
Honey schaute sich gründlich um. Es war wenig zu sehen. Die Sterne standen am Himmel. Das konnte sie durch das Oberlicht gut erkennen. Im Laden nebenan hatte ja in der Mordnacht eine Plane den Ausblick verdeckt. Hatte Lady Templeton-Jones nach oben geblickt und war nervös geworden, als sie nicht, wie erwartet, Sterne sah?
Traurigkeit überkam Honey, gleichzeitig beschlich sie eine ungute Vorahnung. Sonst ahnte sie eigentlich nie etwas voraus. Derlei Dinge überließ sie nur zu gern Mary Jane. Aber sie musste ihre Bedenken jetzt trotzdem äußern.
»Ich habe ein ziemlich mulmiges Gefühl im Magen.«
»Aber natürlich«, antwortete Mary Jane sachlich. »Das hier ist ein uraltes Gebäude voller Geister.« Für sie waren derlei Dinge so normal wie Luftholen.
»Und voller uralter Türen«, fügte Honey hinzu. Sie hatte bemerkt, dass unter einem Türbogen entweder eine Tür oder eine zugemauerte Wand zu sehen war. »Ich denke, dieser Laden und der nebenan, die waren früher ein Geschäft.«
»Ich muss mal auf die Toilette«, verkündete Honeys Mutter. »Die ist unten.«
»Hier entlang.« Lindsey war schon vorausgelaufen. Nun folgten ihr die anderen die letzten paar Stufen hinunter. Lindsey kam von der Eingangstür zurück und steckte den Kopf um die Ecke in die winzige Küche.
»Überraschung! Wir haben ein Problem.«
»Sag bloß nicht, die Toilette ist verschwunden!« Gloria Cross schaute entsetzt.
»Nein, die ist wohl noch da drüben.« Lindsey deutete mit einer |303|Handbewegung die Richtung an. »Aber die Eingangstür ist abgeschlossen. Wir kommen nicht raus.«
Mary Jane schlug vor, man könnte ja eine Scheibe einschlagen.
Da dröhnte Glorias Stimme aus der Toilette: »Untersteht euch!«
Honey war der gleichen Meinung. Wenn man schon so früh im Mietverhältnis anfing, die Räume zu ramponieren, riskierte man sicherlich, dass der Vertrag nicht verlängert wurde – und das wollte Honey auf jeden Fall vermeiden.
Die Spülung rauschte, und dann tauchte Gloria wieder auf. Honey schlug vor, dass sie es noch einmal an den anderen Türen versuchen sollten. »Ladentüren haben doch meist alle möglichen Riegel und so. Hinterausgänge mit Gittern muss man doch von innen aufmachen können. Wenn wir an einen der Hinterausgänge kommen, können wir da raus.«
Das erschien allen vernünftig. Die Suche konnte losgehen. Die Tür auf dem obersten Treppenabsatz, das war genau das, was sie brauchten.
Lindsey versuchte es dort. Sie riss mit aller Kraft an der Klinke und wäre beinahe rückwärts hingefallen, weil die Tür so leicht aufging.
»Die war gar nicht abgeschlossen.«
»Irgendjemand muss hier gewesen sein!« Honey war fest davon überzeugt.
Lindsey, diese unerschöpfliche Quelle historischer Informationen, hatte ungeheuer vielseitige Interessen. Alte Gebäude bildeten da keine Ausnahme. »Wenn ein Gebäude in zwei unterteilt wurde, hat man sich oft nicht die Mühe gemacht, auch die Speicher abzutrennen.«
»Das ist es!«, meinte Honey. »Genau das ist es!«
Alle bedeuteten ihr, sie solle leise sein.
»Entschuldigung.«
Ihre Gedanken rasten weiter. Sie erinnerte sich an die Kerze, die in dem Schaufenster gebrannt hatte. War das im Laden »Nautische Antiquitäten« gewesen oder doch nebenan? In dem leeren Laden? Die Kerze war ihr in der dunklen Nacht wie ein Leuchtturm |304|vorgekommen. Der Mörder hatte Lady Templeton-Jones zu sich hingelockt, wie man früher mit falschen Positionslampen Schiffe auf Felsenriffe gelockt hatte. Wenn man von draußen auf die Läden schaute, konnte man kaum sehen, wo der eine aufhörte und der nächste anfing. Wanda, Lady Templeton-Jones, hatte die Anweisung bekommen, nach einer Kerze Ausschau zu halten und zu dieser Tür hineinzugehen. Dass im Laden nebenan nautische Dinge verkauft wurden, hatte alle vielleicht gehegten Zweifel beseitigt, dass ihr Kontakt ein echter Antiquitätenhändler sein würde.
Sie traten über die Schwelle. Honey tastete an der Wand entlang und fand einen Lichtschalter. Ein Klicken, dann wieder Dunkelheit.
»Mist! Sicherung durchgebrannt.«
»Leise sprechen!«
»Ich spreche leise, Mutter!«
»Sollten wir nicht alle leise sein?«, fügte Lindsey in warnendem Flüsterton hinzu.
»Da wir gerade im Laden nebenan einbrechen, ist die Antwort ja«, zischelte Honey zurück.
Wenn sich Honey in ihrer Familie auf eines verlassen konnte, dann war es das Talent, längst bekannte Dinge noch einmal lang und breit darzulegen, sowie eine Neigung zum Übertreten von Gesetzen. Sie erinnerte sich verschwommen, dass ihre Mutter immer behauptet hatte, einer ihrer fernen Vorfahren sei mit dem Piraten Blackbeard in See gestochen und hätte ungeheure Schätze angehäuft. Er hatte eben eine Vorliebe für Gold. Jede Menge Gold. Auch diese Vorliebe hatte sich wohl vererbt, wenn man Gloria betrachtete.
Es war finster und roch muffig.
Honey überlegte, wie nützlich jetzt eine Taschenlampe wäre. Da ertastete sie eine improvisierte Werkbank. Ihre Hand streifte etwas Metallisches, das wegrollte. Eine Taschenlampe!
»Stopp!«
Mary Jane war vorausgegangen und bereits auf dem Weg zur Treppe. Sie war so abrupt stehen geblieben, als wäre sie vor die |305|sprichwörtliche Mauer gerannt. Alle anderen stießen mit ihr zusammen.
»Honey, leuchte mal mit dieser Lampe hierher!«
Honey leuchtete mit der Lampe.
Dann rief Lindsey bei der Polizei an.