Bildete sie sich das ein, oder wollte Ihre Ladyschaft sie abhängen? Honey war sich ziemlich sicher, dass das alte Mädchen jedes Mal, wenn sie zu ihr aufschloss, ihre Schritte beschleunigte.
Sie verspürte das dringende Bedürfnis, der Dame zu erklären, dass sie nicht so wirr im Kopf war wie all die anderen. »Ich hatte gerade nichts Besseres zu tun. Meine Freundin hat mich zu diesem Spaziergang eingeladen. Die ist ganz wild auf so etwas.«
Ihre Ladyschaft reagierte mit einem undeutlichen Knurren.
»Ich bin keine Psychotante. Ich habe ein Hotel«, platzte Honey heraus. »Ein Hotel in Bath.«
»Sie betreiben ein Hotel?« Auf einmal klang die Dame interessiert.
»Schlimmer noch. Es gehört mir. Und das wiederum bedeutet, dass ich der Bank gehöre«, ergänzte Honey mit einem traurigen kleinen Lachen.
Einerseits war es ein Witz – und doch auch wahr. Ihre Begleiterin lachte jedoch nicht.
»Haben Sie zufällig ein Zimmer frei?«
Es hatte ganz den Anschein, als meinte sie es bitterernst.
»Ja. Wann brauchen Sie es denn?«
»Heute Nacht.«
So schnell!
Sie inspizierte im Geiste die Spiegel, schüttelte Kissen auf und zog die Kreditkarte durch die Maschine. »Prima. Geht in Ordnung. Ich nehme an, Sie müssen Ihre Sachen noch in dem Hotel abholen, wo Sie im Augenblick abgestiegen sind …«
»Nein! Nicht nötig. Ich komme gleich mit Ihnen mit, sobald wir diesen absurden Spaziergang hinter uns gebracht haben.«
Ihr lag die dringende Frage auf der Zunge, was denn an diesem Spaziergang so besonders absurd war.
Sicher unter der Kapuze versteckt, richtete Honey die Augen fest auf ihre Füße, die durch die Pfützen patschten. Na ja, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul. Wie wahr! Sie sollte sich freuen, dass ein Zimmer mehr vermietet war – ohne dass sich der potenzielle Hotelgast auch nur nach dem Preis erkundigt hatte! Das würden sie schon irgendwann klären. Gewöhnlich versuchten Leute mit Adelstiteln nicht zu feilschen. Es war gar nicht gut fürs noble Image, wenn es aussah, als wäre man knapp bei Kasse.
Inzwischen hatte der Regen noch etwas zugelegt. Honey hing weit hinter den anderen zurück. Na ja, auch gut, dann hatte sie eben die Gruppe aus den Augen verloren. Es widerstrebte ihr, auch nur die Nasenspitze unter der Kapuze hervorzustrecken, um einen besseren Überblick zu bekommen. Zum Glück ging es bergab. Die Tour war wohl bald zu Ende.
Entlang der kleinen Gässchen standen eng gedrängt verschieden hohe Gebäude. Zumeist waren darin kleine, eingeschossige Läden untergebracht, die aus der gleichen Zeit stammten wie das uralte Kopfsteinpflaster. Früher einmal waren hier vielleicht Werkstätten von Handwerkern angesiedelt gewesen, oder man hatte Pferde darin untergestellt. Jetzt herrschte Dunkelheit, und selbst bei Tageslicht war nicht viel los. Über einer Tür hing an einem Winkelträger eine alte kupferne Gaslaterne. Dann erregte die flackernde Flamme einer Kerze, die im elegant gewölbten Schaufenster eines Geschäftes brannte, Honeys Aufmerksamkeit. Kurz schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass eine unbeaufsichtigte offene Flamme durchaus ein Feuer verursachen konnte. Hoffentlich nicht. Jedenfalls hatte sie keine Lust, etwas dagegen zu unternehmen. Ein warmes Getränk, sich mit einem Frotteehandtuch abrubbeln, danach stand ihr jetzt der Sinn.
Plötzlich fiel die Gasse steil nach unten ab. Honey konnte ins Obergeschoss der Gebäude zu ihrer Linken hineinsehen. Aus |15|den Fenstern drang warmes Licht und spiegelte sich in goldenen Rechtecken auf den nassen Pflastersteinen. Die glänzten, als hätte sie jemand mit Silikon überstrichen.
Das war ja alles sehr idyllisch, aber das Kopfsteinpflaster war wirklich glitschig. Honey versuchte, sich in schräger Linie nach links zu tasten, um sich an einer Mauer festhalten zu können.
»Seien Sie vorsichtig!«, rief sie ihrer Begleiterin zu.
Keine Antwort. Aufgeblasene Ziege! Hoffentlich rutscht sie aus und zerbeult sich dabei ihr würdevolles Ego ein wenig, dachte Honey.
Sie hielt die Augen weiterhin starr auf die Pflastersteine vor ihren Füßen gerichtet. Es war keine Menschenseele zu sehen. Wie hatte es die Gruppe nur geschafft, diese abschüssige Straße so rasch hinunterzugehen? Vor ihr glänzte der Weg nass – und menschenleer. Sehr menschenleer. Konnte es denn sein, dass sie die Gruppe überholt hatte, ohne es zu bemerken?
Sie schaute über die Schulter zurück. Auch da war niemand. Schatten, die flackernde Kerze, strömender Regen. Keine untersetzte Frau mit hochmütiger Miene und Spazierstock!
Plötzlich peitschte der Wind das Regenwasser aus einem übervollen Rinnstein hoch. Honey schaute auf – und bekam einen Schwall Wasser ins hochgereckte Gesicht. Sie prustete und zwinkerte, fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. Eine Kontaktlinse glitt heraus und fiel zu Boden, war nun kaum mehr als ein winziges Ruderboot für Insekten.
»Verdammt!«
Als Honey unter ihrer Kapuze auftauchte, stellte sie fest, dass sie inzwischen auf ebenem Terrain war und gerade noch vor einer Riesenpfütze zum Stehen gekommen war.
Sie schaute zurück auf die steil aufsteigende Gasse. In langen Bindfäden pladderte der Regen durch den Lichtschein der Straßenlaternen. Honey glaubte, wieder das gleiche Motorrad gesehen zu haben wie früher am Abend. Aber sonst war nichts und niemand zu erspähen, nicht einmal Ihre Mittwestliche Ladyschaft. Wahrscheinlich hatte die sich längst wieder dem Rest der Gruppe angeschlossen. Wie sie das geschafft hatte, konnte |16|Honey sich beim besten Willen nicht vorstellen. Aber heute Abend war ihr das wirklich egal.
»Na gut, wenn es unbedingt sein muss«, seufzte sie und beugte sich hinunter, um mal wieder ihre Schuhe zuzubinden.
Eine Kontaktlinse zu verlieren, das war beinahe so schrecklich, als hätte man zeitweilig ein Bein verloren. Alles war schief. In der Nähe war es ja nicht so schlimm. Aber wenn man in die Ferne blickte, war es der reinste Albtraum.
Plötzlich erregte eine Bewegung am anderen Ende der Gasse Honeys Aufmerksamkeit. Ein paar Leute sprangen fröhlich in einer Pfütze herum, die sich zwischen der Straße und dem Bürgersteig gebildet hatte. Zweifellos waren die beiden Australierinnen auch dabei.
Kaum hatte Honey diesen Gedanken gehabt, da schlenderte ein Paar glänzender Schuhe an ihr vorüber. Sie schaute auf und erblickte einen Hut mit breitem Rand, den sich jemand tief ins Gesicht gezogen hatte.
»Guten Abend«, sagte sie. Wer es auch war, er gab keine Antwort. Das war eigentlich schade, denn sie brannte darauf, eine Bemerkung über die Lackschuhe zu machen.
Glänzende Schuhe?
Lackschuhe?
Bei dem Wetter?
Wie kam es, dass sie nicht nass waren – oder gar völlig durchweicht? Und wieso hatte sie keine Schritte gehört? Das war kein Gespenst. Nein. Das konnte einfach nicht sein. Oder doch? Das Blut gefror ihr in den Adern – und diesmal hatte es nichts mit dem Wetter zu tun!
Honey zischte los wie eine Concorde in Heathrow, rannte und schlitterte über die nassen Pflastersteine, rumpelte in die kleine Gruppe am unteren Ende der Gasse hinein.
»He!«
Die verschwommenen Gestalten wurden deutlicher. Gesichter. Junge Gesichter schauten sie stirnrunzelnd an. »Wir ziehen durch die Clubs«, war deutlich von ihren Mienen abzulesen.
»Tut mir leid! Falsche Gruppe!«