»Also, Lindsey, raus mit der Sprache! Wer ist der Typ mit den Gummistiefeln?« Lindsey wandte im Gehen den Kopf zu ihr. Honey ahnte, dass die Antwort ihr nicht gefallen würde.
»Er ist ein total netter Kerl, nur ein bisschen schüchtern. Er wollte sich dir vorstellen, hat es aber einfach nicht geschafft, seinen Mut zusammenzukratzen.«
»Was willst du mir damit sagen? Ist er dein Freund?«
»Hm … Ja.«
»Und wo ist der Kilt?«
»Was?«
Honey biss sich auf die Zunge und verkniff sich ihre Antwort. Lindsey erzählte immer weniger über ihr Liebesleben. Vielleicht hatte das was mit ihrem Alter zu tun? Dann gestand sich Honey die auf der Hand liegende Wahrheit ein.
Zugegeben, ich erzähle meiner Mutter ja auch nicht alles.
»Du hast mir doch gesagt, dass er Dudelsack spielt und einen Kilt trägt.«
Leider wehte der Wind Lindsey gerade das Haar ins Gesicht, sodass es schwierig war, ihren Gesichtsausdruck auszumachen. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort.
»Na?«
»Die Situation ist ein bisschen kompliziert.«
Wie kompliziert konnte denn ein Typ in Gummistiefeln sein?
Der Bereich vor dem Theatre Royal war abgesichert. Blauweißes Absperrband flatterte in der leichten Brise. Neugierige Touristen – die inzwischen die Nase gestrichen voll hatten von Jane Austen, Beau Nash und den schwefelhaltigen Quellen der Römischen Bäder – richteten eifrig ihre Kameras darauf.
Honey schaute die Menschenmenge betrübt an. Na ja, Höflichkeit |261|und vornehme Zurückhaltung waren wohl aus der Mode gekommen. Deren Motto war: je blutiger, desto besser.
Lindsey hatte sich entschieden, sie zu begleiten. Mary Jane hatte zufällig eine Gruppe Touristen aus Manitoba getroffen. Denen bescherte sie nun einen kleinen Abriss ihrer Ahnenreihe.
Von der anderen Seite der Absperrung her winkte ihr Doherty zu.
»Ich kann dich nicht durchlassen, ehe wir den Tatort nicht völlig abgesucht haben.«
Honey erzählte Doherty von den Filmen. »Die sind ein Vermögen wert. Bridgewater musste sie wieder aus der Auktion nehmen. Ich vermute, dass seine Miterbin sie nicht verkaufen wollte.«
»Geld ist immer ein gutes Mordmotiv«, meinte Doherty und nickte.
»Aber wie passt dann Simon Taylor dazu?«
Doherty schaute ein wenig ratlos und neigte den Kopf zur Seite. »Ich bin mir nicht ganz sicher. Auf den ersten Blick sieht es so aus, als hätte es was mit dem Titel zu tun, den sie von ihm gekauft hat, doch das stimmt nicht. Warum sollte sie aber sonst zu ihm gehen?«
Honey schüttelte den Kopf. Ihr Hirn machte Überstunden. Ihr wirbelten so viele Dinge durch den Kopf.
»Unser Freund Taylor hat eins in den Hintern gekriegt – eine Nadel in den Allerwertesten«, erklärte Steve. »Er war ja ein ziemlich pummeliger Bursche und hat sich schwer auf den Sitz fallen lassen. Die Nadel ist gleich reingegangen. Irgendein schnell wirkendes Gift. Wahrscheinlich Zyankali. Schlimmes Zeug. Dank Internet heute problemlos zu bekommen.«
»Au weh!«
Honey schluckte schwer und fuhr sich unwillkürlich mit der Hand über ihr Hinterteil. Nie wieder würde sie sich im Theatre Royal – oder irgendeinem anderen Theater – hinsetzen, ohne vorher den Sitz genau zu inspizieren.
»Was hatte er denn hier zu tun?«
Doherty rieb sich nachdenklich über sein stoppeliges Kinn. |262|Seine Stirn war gerunzelt. »Er hat sich mit jemandem getroffen. Aber warum?« Er zuckte die Achseln. »Das kann ich nur raten.«
»Erpressung?«
»Das war eine meiner Vermutungen.«
»Es würde passen.«
»Wieso? Warum sagst du das?«
»Na, er hatte doch mit dieser Noble Present-Betrügerei zu tun. Vielleicht hat er dabei über jemanden was herausgefunden …« Sie hielt inne. Steve schüttelte den Kopf.
»Das war keine Betrügerei. Zumindest nicht, was ihn betraf. Im Bezug auf unseren guten Freund Mr. George war es sehr wohl eine. Der hat wirklich Titel verkauft, die es gar nicht gab. Simon Taylor hat nur Echtes verscherbelt.«
Honey runzelte die Stirn. »Woher weißt du das? Von wem hatte er die denn?«
Doherty schlug seinen Notizblock auf. »Von Mr. Cameron Wallace. Anscheinend hat dessen Familie einen ganzen Haufen Titel geerbt. Eigentlich ist er nämlich Lord Cameron Wallace – das ist ein alter Titel von den Hebriden – und er hat wohl noch einen ganzen Haufen andere. Aber er lässt sich lieber mit Mr. Wallace anreden. Er denkt nämlich, dass der Titel ihm in seiner Branche die Kunden abspenstig machen könnte.«
Honey war innerhalb der letzten Stunde mit Informationen nur so bombardiert worden. Erst diese Angelegenheiten mit den Filmspulen, die angeblich von der Titanic stammten – und so eine Verbindung zur größten Katastrophe der angloamerikanischen Seefahrtsgeschichte hatten. Nun die Enthüllung darüber, dass Simon Taylor mit echten Titeln gehandelt hatte, George Hamilton dagegen nicht. Und dazu kam noch der Mord an Simon Taylor – der auf außerordentlich bizarre Art und Weise gestorben war.
Warum war Lady Templeton-Jones zu Simon Taylor gegangen? Worüber hatten die beiden im Garrick’s Head gesprochen, ehe die Lady ermordet wurde?
Doherty konnte wohl Gedanken lesen. »Schade, dass wir nicht noch einmal mit Mr. Taylor gesprochen haben«, meinte er.
|263|Nun erzählte Honey ihm, was man ihr von den Filmspulen berichtet hatte.
»O je, o je«, murmelte Lindsey. »Was ist denn jetzt los?«
Ein kleiner Kommentar nur, aber er brachte Honey wieder in die Wirklichkeit zurück.
Plötzlich krächzten die Funkgeräte von zwei Polizisten in Uniform, die nichts mit der Morduntersuchung zu tun hatten, aber so neugierig stehen geblieben waren wie die anderen Passanten. Die beiden trabten los.
»Hallo«, sagte Steve und schaute mit zusammengekniffenen Augen hinter ihnen her. »Ein Vorfall auf einer Straße.«
In der Nähe stand ein Bobby, der die Nachricht auch bekommen hatte, und grinste breit. Steve knurrte ihn an, er sollte sich gefälligst sein Lachen schenken. »Wir befinden uns hier am Tatort eines Mordes. Was ist denn so verdammt komisch?«
Der Polizist mühte sich sichtlich, nicht laut loszuprusten. »Prügelei in einem Teddybärladen in der Queen Caroline Alley, gleich bei der Milsom Street. Eine Frau bedroht den Manager des Ladens, weil er sie aus diesen Geschäftsräumen rausgeworfen hat. Hat ihm anscheinend eins mit einem Teddy übergezogen.«
Honey packte Lindsey beim Handgelenk. »Komm, schnell!«
»Großmutter kann ganz schön unangenehm werden, wenn man sie ärgert!«, schnaufte Lindsey, die schon losrannte.
Honey schaute grimmig. »Was heißt hier unangenehm! Ich mache mir wirklich Sorgen um den Kopf des Ladenmanagers!«
»Ich komme später nach!«, rief ihr Doherty hinterher. Honey ärgerte sich, weil sie sich seinen amüsierten Blick vorstellen konnte. Zweifellos hatte er sofort erraten, warum sie auf der Stelle losgesprintet waren. Er hatte ihre Mutter ja bereits kennengelernt und wusste, dass sie den Laden verloren hatte. Außerdem war ihm bekannt, dass sie manchmal ein wenig unorthodox reagierte, wenn sie eine ihrer Launen hatte.
Honeys Telefon klingelte. Sie schaffte es, gleichzeitig zu rennen und zu sprechen. Das war einer der Vorteile, wenn man ein paar Kilo weniger wog. Casper war völlig indigniert.
»Es ist wirklich eine Katastrophe! Eines der schönsten und |264|meistgeschätzten Theater im ganzen Land. Wie kann dieser Mann es wagen, dort zu sterben! Wie ist er überhaupt zu Tode gekommen?«
»Er ist in den Hintern gestochen worden«, schnaufte Honey atemlos. »Es geht jetzt nicht. Ich rufe später zurück.«
Sie konnte sich Caspers Entrüstung bildlich vorstellen. Normalerweise hätte sie es nicht gewagt, ihn so abzuwürgen. Doch hier ging es um ihre Familie.
Zum Glück hatte sie ihre Einkaufsschuhe an den Füßen, abgestoßene, ziemlich hässliche Schnürschuhe, aber Mannomann, zumindest konnte sie damit rennen. Die Jeans waren auch nicht schlecht, ebenso der schwarze Rollkragenpullover und die grüne Kordjacke. Diese Jacke machte die leicht schäbigen Schuhe ein wenig wett, die ebenfalls flaschengrün waren. Aufeinander abgestimmte Farben, das war immer gut. Niemand bemerkte, wie schäbig die Schuhe waren, solange nur die Farbe passte.
Draußen vor dem Teddybärladen hatte sich eine Menschentraube gebildet. Einen der Schaulustigen kannte Honey: Neville, Caspers Hotelmanager. Er war im Freizeitdress: rosa Jeans, limettengrüner Pullover und rosa Seidenschal. Und er war mindestens so neugierig wie alle anderen.
»Du meine Güte«, kommentierte er aufgeregt, als er Honey sah. »Ich habe noch nie erlebt, dass jemand das mit einem Teddybär gemacht hat!«
Honey senkte den Kopf zum Angriff und pflügte sich durch die Menschenmenge. Sie versuchte, das belustigte Kichern der Leute zu überhören.
Lindsey folgte ihr auf den Fersen. Irgendwie war sie stolz auf ihre Großmutter. »Oma hat eine ganz schöne Zuschauerzahl angelockt!«
»Hoffentlich ist kein Blut geflossen!«
Auf dem Boden lagen Berge von Teddybären in den verschiedensten Farben und Größen: Teddybären mit rosa-weiß karierten Kleidchen, Teddybären in Leder, nach Apfel duftende Teddybären in Lindgrün, Teddybären mit Malerkitteln und schicken Baskenmützen.
|265|Honeys Augenmerk fiel auf eine Reihe von Bannern, die von der Decke hingen und an den Regalen entlang drapiert waren.
Teddybären für alle Gelegenheiten!
Kuscheln mit Dudley.
Mit einem Teddy bist du nie allein.
Nimm mich mit ins Bett. Hab mich lieb.
Na ja, überlegte Honey. Wenn ein lebloser Teddy alles ist, was man hat … Oder waren die Dinger heutzutage batteriebetrieben?
Ihre Mutter war keineswegs festgenommen worden, sondern saß mit in den Nacken geworfenem Kopf und geschlossenen Augen auf einem Stuhl. Eine Verkäuferin mit Teddybärohren, einer schwarzen Plastiknase und einem rosa-weiß karierten Kleidchen – dem genauen Gegenstück zu den Kleidchen, die die Teddys in den Regalen trugen – fächelte ihr mit einer Zeitung Luft zu.
Es sah ganz so aus, als erwartete man von den Angestellten von »Teddyitis«, dass sie sich von Kopf bis Fuß in Teddy-Zeug hüllten. Honey verzog das Gesicht und dankte ihrem Schöpfer dafür, dass in diesem Geschäft keine Reizwäsche oder Erotik-Spielzeuge verkauft wurden. Teddys waren weich und kuschelig und konnten keinen großen Schaden anrichten. Gummidildos wären da schon eine ganz andere Sache gewesen.
Honey steuerte auf den am wichtigsten aussehenden Polizisten zu. Sie hatte beschlossen, einen leicht flehenden Ton anzuschlagen und ein bisschen mit den Wimpern zu klimpern. »Es tut mir so leid. Ich bin gekommen, so schnell ich konnte. Ich habe gehört, dass meine Mutter einen kleinen Anfall hatte.«
Der Polizist zeigte viel Verständnis. »Das hatte sie, ganz gewiss. Leidet sie an irgendeiner geistigen Störung?«
»Ja, an Dickschädeligkeit.«
Die falschen Wimpern der älteren Dame auf dem Stuhl bebten und warfen Schatten auf Wangen, die zart mit Rouge von Lancôme getönt waren. Honey ließ sich nicht zum Narren halten. Genauso wenig Lindsey. Die hatte sich die rechte Hand vor den Mund gepresst, um nicht vor Lachen loszuprusten.
Auf einem zweiten Stuhl saß ein kleiner, untersetzter Mann, |266|der selbst ein bisschen wie ein Teddybär aussah. Er drückte sich ein Handtuch an die Nase.
Lindsey erkundigte sich nach seinem Wohlbefinden.
»Ich habe sowieso schon Probleme mit den Nebenhöhlen«, klagte er. »Der Teddy hat mich gehauen.«
Wobei ihm meine Mutter geholfen hat, überlegte Honey peinlich berührt.
Sie lächelte und schlüpfte in die Rolle der leidgeplagten Tochter. Sie erkundigte sich bei dem Polizisten, ob sie nun ihre gute alte Mama mit nach Hause nehmen und zu Bett bringen dürfte.
Seine Augen blitzten. »Der Manager sieht von einer Anzeige ab – wenn derlei nie wieder vorkommt.«
Nein. Das konnte sie verstehen. Er hatte alle Hände voll damit zu tun, eine feuchte Kompresse an seine Nase zu drücken. Da konnte er nicht noch auf der Polizeiwache Formulare ausfüllen.
»Sie ist in einem seltsamen Alter«, meinte Honey. »Wenn es schlimmer wird, dann wird uns nichts anderes übrig bleiben, als sie irgendwo einzuliefern.«
Sie bemerkte, dass es ihrer Mutter um die Mundwinkel zuckte. Eines war Gloria Cross ganz gewiss nicht: senil. Nicht nur das, sie genoss ihr Leben zudem auch noch so wie eh und je. Immer noch kaufte sie mit Begeisterung Kleider, trug Seidenstümpfe und aufreizende Strumpfhalter und hatte durchaus ein Auge für attraktive Männer. Letzteres war nach Honeys Meinung den Hormonpillen zuzuschreiben. Wenn man Gloria in ein Altenheim steckte, konnte man sie genauso gut bei lebendigem Leibe begraben.
Honeys Worte hatten bei Gloria eine Spontanheilung bewirkt. Dass sie noch stöhnte und zögerlich die Augen aufschlug, war reinste Schmierenkomödie. »Wo bin ich?«, flüsterte sie mit versagender Stimme.
»Im Teddybärhimmel«, knurrte Honey. »Jetzt mach schon. Marsch ins Bett, mit einer Tasse heißer Schokolade und einer Schlaftablette – oder zwei.«
Gloria Cross wog nur sieben Pfund mehr, als sie mit zwanzig auf die Waage gebracht hatte. Man konnte sie also mühelos wieder |267|in den Stand hochziehen. Gemeinsam bahnten die drei Frauen sich einen Weg durch die Zuschauermenge.
Neville stand noch immer da und grinste von einem Ohr zum anderen. »Das war besser als damals die Schießerei im OK Corral. Ich sehe, die Polizei lässt Ihre Mutter laufen?«
»Der Manager sieht von einer Anzeige ab.«
»Der Manager ist mir doch egal. Aber was ist mit dem armen Teddybär?«