Sogar Honey, die sonst nicht so auf Sicherheit bedacht war, wusste, dass es riskant war, das Handy mit in die Badewanne zu nehmen. Honey wollte ohnehin lieber duschen. Sie kam einfach nicht mit dem Verbrechen klar, mit dem sie es gerade zu tun hatte. Sie selbst war die letzte Person, die das Opfer lebend gesehen hatte – außer dem Mörder natürlich. Sobald ihr das heiße Wasser über die geschlossenen Augen und den Körper strömte, fiel ihr das Denken wieder leichter. Und es gab so viel zu bedenken. Lady Templeton-Jones war von einem Augenblick zum anderen verschwunden. Blitzschnell. Steve Doherty hatte versprochen, sie auf dem Laufenden zu halten. Das Warten auf Neuigkeiten war eine Qual.
Plötzlich erschallte in ihrem Handy der Halleluja-Chor aus Händels »Messias«.
Triefnass sprang Honey aus der Dusche, schnappte sich das Telefon und klappte es rasch auf. Der Wasserdampf hatte es ganz glitschig gemacht. Es schoss ihr aus der Hand und flog im hohen Bogen in Richtung Klobrille. Sie konnte es gerade noch abfangen, ehe es ins tiefe Wasser der Toilettenschüssel plumpste. Casper war am Apparat. Da wünschte sie sich, sie hätte das Ding untergehen lassen.
»Es gefällt mir gar nicht, dass wir in diese Angelegenheit verwickelt sind«, erklärte er kühl.
»Casper, Sie haben mich aus der Dusche geholt …«
»In meinem Hotel wimmelt es vor Polizisten.«
Sie wusste, dass das nicht stimmte. Die Polizei hielt sich im La Reine Rouge nur in einem Zimmer auf, und zwar in dem, das bis vor Kurzem die besagte Lady Templeton-Jones bewohnt hatte. Es überraschte niemanden, dass Casper alles andere als begeistert |88|von dieser Tatsache war. Verbrechen hatten gefälligst anderswo stattzufinden.
»Die Kripo ist doch nur in einem Zimmer, Casper, und sie sollte dort nicht mehr allzu lange zu tun haben.«
»Das will ich doch hoffen. Gleich erscheint die Presse. Ich bestehe darauf, dass ich mindestens eine Doppelseite bekomme.«
Dann war die Leitung tot. Trotz aller Widrigkeiten schaffte es Casper stets, aus einer Sache so viel wie möglich für sich herauszuholen. Publicity war immer gut.
Nun war Honey wenigstens sicher, dass St. John Gervais sie nicht in siedendem Öl braten würde. In ein flauschiges Badetuch gehüllt, spazierte sie ins Wohnzimmer. Jetzt stand weiteres Nachdenken auf der Tagesordnung, plus ein Morgenkaffee. Sie schenkte sich eine Tasse ein und setzte sich dann in ihren liebsten »Denksessel«.
Eine einzige Frage ging ihr immer wieder im Kopf herum. Warum hatte Ihre Ladyschaft sich entschlossen, aus Caspers Hotel auszuchecken und zu ihr zu kommen? Na gut, ihre Zimmerpreise waren niedriger, aber war das Grund genug? Und warum hatte die Lady die Entscheidung so rasch und zu so später Tagesstunde gefällt?
Honey genoss die Ruhe des alten Kutscherhäuschens, in dem sie mit ihrer Tochter wohnte. Ihr Zuhause war eine Oase, weit weg von allem. Diese Umgebung beruhigte sie stets.
Wo bei anderen Leuten Aquarelle an der Wand hingen, waren bei Honey antike Dessous zur Schau gestellt. Genau wie die Aquarelle waren sie sicher hinter entspiegeltem Glas verwahrt. Die Spitze war zart, der Satin glänzte. Aber sexy war das alles nicht. Antike Unterhosen hatten die gleiche Form wie Fußballershorts – sehr weit geschnitten, sodass sie jede Menge Spielraum boten.
Die alte Bahnhofsuhr, die an der Giebelwand hing, schlug acht.
Honey trocknete sich fertig ab, wählte eine schwarze Hose und ihren roten Pullover, steckte sich das Haar mit einem Kamm |89|hoch und schlüpfte in ein Paar schwarze Ballerinas mit goldenen Schleifchen. Heute Morgen war als Kleidungsstil schnell und lässig angesagt. Nein, nein, bloß kein Make-up. Sie war wie all die anderen Geisterspaziergänger ins Garrick’s Head geladen. Doherty wollte sie da befragen, wo alles angefangen hatte.
»Also dann mal los«, murmelte sie vor sich hin. Sie ging im Kopf all die Dinge durch, die noch zu tun waren, ehe sie das Hotel verlassen konnte.
Zunächst begab sie sich in die Küche und begrüßte ihren Chefkoch Smudger. Nebenbei erkundigte sie sich, ob die Vorräte an Tiefkühlgemüse noch ausreichen würden. Er wurde ein wenig rot und murmelte, man müsste wohl Erbsen nachbestellen.
Smudgers Hilfstruppen flitzten bereits hin und her und kümmerten sich um ihre Aufgaben. In der Küche war nur das Klappern der Töpfe und Pfannen, das Zischen des Gases und ab und zu der dumpfe Schlag einer zugeworfenen Kühlschranktür zu hören. Dass hier nicht gesprochen wurde, war nichts Neues. Chefkoch Smudger war ein Morgenmuffel. Morgens hielten die Küchenangestellten im Green River den Ball flach und konzentrierten sich auf ihre Arbeit. Besser, als sich den Kopf abreißen zu lassen.
Das andere Geräusch war das Knurren von Honeys Magen. Das sind die Nerven, entschied sie. Zum Teufel mit der Diät. Dagegen musste sie was unternehmen.
Im Speiseraum gab es Toast. Honey folgte dem Duft, sagte den frühstückenden Gästen Guten Morgen und nahm sich eine knusprige Scheibe. Nur ein bisschen Butter …
Knurrend protestierte ihr Magen. Es war nicht klug, derlei zu ignorieren. Noch ein bisschen mehr Butter, dann ein Löffelchen … nein, ein ordentlicher Löffel Orangenmarmelade. Lecker!
Sie aß im Gehen, hatte die Scheibe Toast bereits verschlungen, ehe sie beim Empfang ankam. Unterwegs schaute sie noch einmal in der Damentoilette vorbei. Sie überprüfte im Spiegel, ob |90|ihr auch keine Krümel im Mundwinkel klebten. Oder sonst verräterisch glänzende Butterspuren zu sehen waren.
Noch ein rascher Blick. Sah sie schon dicker aus? Schwer zu sagen. Und doch war die Zeit für eine kleine Predigt gekommen.
»Okay, also du hast gesündigt. Ja und? Ein bisschen von dem, was man gern mag, tut immer gut.« Ihr Spiegelbild schaute schuldbewusst zurück.
Man kam einfach nicht drum herum: Sündigen war köstlich. Wenn sie mittags einen Salat aß, war sie wieder in der Spur, was die Diät betraf. Desgleichen zum Abendessen. Und bloß keinen Wein trinken!
Sie ging zum Empfangstresen.
Heute Morgen hatte Lindsey frei und schlief aus. Anna hatte Dienst.
Honey schaute die Rechnungen der Gäste durch, die heute abreisen wollten. Es war alles in Ordnung.
»Alles unter Kontrolle«, sagte Anna und bestätigte, was Honey bereits wusste.
Honey hatte das Gefühl, als betrachtete die Empfangsdame sie prüfend.
»Sie wissen doch, dass ich das immer richtig mache, Mrs. Driver.«
Es klang beinahe beleidigt – zumindest schwang ein fragender Ton mit.
»Natürlich.«
Honey klappte den in Leder gebundenen Terminkalender auf und schrieb ihre Termine für den Tag hinein, las sie Anna vor, während sie schrieb.
»Zunächst zum Garrick’s Head. Ich weiß nicht, wie lange ich da brauche«, sagte sie.
»Beinahe hätte ich es vergessen. Ihre Mutter hat angerufen«, begann Anna. »Sie hat gesagt, sie sollten unbedingt hier auf sie warten. Sie ist schon unterwegs.«
Genau in diesem Augenblick flog die Doppeltür auf – Mahagoni mit Messingbeschlägen und alten Originaltürgriffen.
»Hannah!«
|91|Die Kleidung ihrer Mutter bildete einen lebhaften Kontrast zu den eher gedeckten Tönen des Regency-Interieurs. Lacroix. Leggings in pistaziengrün, lila und weiß, dazu ein Blouson in Mauve. Die Wildlederstiefel waren farblich auf die Jacke abgestimmt. Der Lippenstift ebenfalls.
Anna blinzelte.
Honey setzte die Sonnenbrille auf.
»Mutter, ich habe wirklich keine Zeit. Ich muss zum Garrick’s Head.«
Ihre Mutter schnaufte und starrte wütend auf ihre Armbanduhr. »So früh am Tag?«
»Ich gehe nicht auf einen Drink da hin. Es ist eine Polizeisache.«
Zwischen ihrer Mutter und dem Empfangstresen war eine kleine Lücke. Honey schlängelte sich geschickt dazwischen hindurch, den Rücken flach an den Tresen gedrückt. Das war kein sehr gelungenes Ausweichmanöver, obwohl eine kleine Seitwärtsbewegung sie beinahe aus der Reichweite ihrer Mutter gebracht hätte. Doch Gloria Cross war heute Morgen in Bestform und bewegte sich rasend schnell, wenn man bedachte, dass sie siebzig war. Wie Schraubzwingen klammerten sich ihre Finger um Honeys Handgelenk. Da sie nicht so groß war wie ihre Tochter, musste sie sich dazu auf die Zehenspitzen stellen. Sie schnaufte empört.
»Bist du dir da ganz sicher? Ich möchte nicht, dass du in dieser Hinsicht in die Fußstapfen deines Vaters trittst. Bei anderen Leuten gab es Eier zum Frühstück. Bei ihm Whisky und Toast.«
»Ich habe nur Kaffee und Toast gefrühstückt.« Die Butter und Orangenmarmelade gestand sie lieber nicht. Es zählte nicht, wenn niemand etwas davon wusste.
Honeys Mutter hatte lange Finger mit rot lackierten Nägeln. Ihr Mördergriff war eisern, eher Wanderfalke als Pensionärin.
»Mutter, ich muss wirklich weg. Es geht um eine Polizeiuntersuchung. Ich muss bei einer Befragung von Augenzeugen anwesend sein.«
|92|Honey löste einen der klammernden Finger nach dem anderen, aber sie krallten sich immer wieder fest.
Ihre Mutter schaute sie mit kugelrunden Augen überrascht an. Endlich ließ sie los. »Ist es ein Mordfall?«
»Ja.«
»Ich hoffe, es war ein Verbrechen aus Leidenschaft. Das sind die besten.«
Gloria Cross las viel, jedoch nur Schnulzen. Wenn sie mit einer Gruppe von Altergenossinnen in eine Leihbibliothek einfiel, konnten die in zwanzig Minuten sämtliche Kitschromane aus den Regalen räumen.
»Ich glaube nicht, dass es so was war«, antwortete Honey, obwohl sie ehrlicherweise nicht sicher sein konnte. Sie wusste ja bisher kaum etwas über den Fall. Es konnte eine ganze Weile dauern, bis sich das ändern würde.
»Wirst du auch Fragen stellen?«, wollte ihre Mutter nun wissen.
»Keine Ahnung. Ich denke, das macht Doherty lieber selbst.«
»Ihr könntet doch die Nummer mit dem netten und dem fiesen Polizisten abziehen«, schlug Gloria Cross begeistert vor. »Es wäre am besten, wenn du die Fiese sein könntest. Die dürfen immer handgreiflich werden.«
»Handgreiflich?«
»Na ja, Folter und so. Nichts Schlimmes. Nur die Finger ein bisschen nach hinten biegen oder dem Befragten einen leichten Schlag in die Magengrube versetzen.«
Honey warf sich die Tasche über die Schulter und nahm sich vor, einmal nachzusehen, ob heutzutage die Schnulzen nicht mehr ganz so konservativ waren wie in der guten alten Zeit.
»Ich muss los.«
Rasch wie eine Gazelle, wenn auch nicht ganz so graziös sprang Honey zur Tür.
»Ich habe ein Problem«, rief ihr Gloria hinterher. »Ich brauche deine Hilfe.«
»Dann sprich mit Lindsey. Ich komm später dazu.«
Sie ließ die Tür mit einem Knall hinter sich zufallen. Bei ihrer |93|Mutter waren Probleme zu kleinen Päckchen mit der Aufschrift »Hausarbeit«, »laute Nachbarn«, »Auswahl der diesjährigen Kreuzfahrt für den Club Sechzig Plus« geschnürt.
»Immer mit der Ruhe!«, rief Gloria ihr nach. »Und zeig’s ihnen!«